Am Freitag, und damit auf den Tag genau vor 70 Jahren entkam Günther von Maydell der größten Seekatastrophe der Geschichte. An die dramatischen Momente erinnert sich der 83-Jährige noch immer sehr gut.
HafenCity . Er wird diesen Moment niemals vergessen – auch wenn seither 70 Jahre vergangen sind. Es ist kurz nach 21 Uhr an diesem 30. Januar 1945, einem Dienstag. Günther von Maydell liegt in seiner Koje an Bord der „Wilhelm Gustloff“. Der Junge schmökert in einem Karl-May-Buch. Titel: „Der Schatz im Silbersee“. Der 208,50 Meter lange und 23,5 Meter breite Dampfer, zur Zeit seiner Kiellegung bei Blohm + Voss knapp acht Jahre zuvor größtes Schiff der Welt, hat ein paar Stunden zuvor den Hafen von Gdingen verlassen und Kurs auf Swinemünde genommen.
Mehr als 10.000 Flüchtlinge drängen sich auf dem ursprünglich nur für 1463 Passagiere und 417 Besatzungsmitglieder ausgelegten Dampfer. Nach enormen Strapazen und grauenhaften Erlebnissen scheinen die Menschen der Roten Armee entkommen zu sein. Rettung ist in Sicht. Aus den Bordlautsprechern hallt die Stimme des Führers: Auf den Tag genau vor zwölf Jahren hatte Adolf Hitler die Macht im Deutschen Reich übernommen. Zum Schluss erklingt die Nationalhymne.
Doch plötzlich schreckt Günther von Maydell auf. „Es hat drei Mal fürchterlich gekracht“, erinnert er sich. Der Junge ist zwar erst 13 Jahre alt, doch ist ihm die Bedeutung klar: Die „Gustloff“ ist getroffen. Erst viel später wird er erfahren, dass der sowjetische U-Boot-Kapitän Alexander Iwanowitsch Marinesko 23 Seemeilen vor der pommerschen Küste seiner Besatzung den Befehl erteilt hatte, Torpedos auf das angeblich unsinkbare deutsche Schiff abzufeuern. Einer bleibt im Geschütz stecken, die anderen treffen den Dampfer backbords: am Bug, unter dem E-Deck und im Maschinenraum. Der stählerne Koloss schwankt.
Stockdunkel, minus 18 Grad, eisiger Wind
Günther schmeißt seinen Mantel über, eilt aus der Kabine und rennt zwei Decks höher. Seine Mutter Elsbeth weilt dort in der Offizierskabine des Marinemalers Adolf Bock. Der gebürtige Berliner ist Stammgast auf dem ehemaligen Kreuzfahrtriesen, der von der Marine mit Tarnfarbe übertüncht wurde und während des Zweiten Weltkriegs als Lazarettschiff eingesetzt wurde. Günther von Maydell, seine Mutter „Ebby“ und Bock laufen zu einem der Rettungsboote. Nach minutenlangem Suchen finden sie eine Kurbel, um es zu Wasser zu lassen. Die Mechanik aber versagt. Alles ist vereist. Und die „Gustloff“ gewinnt weiter an Schräglage. Draußen ist es stockdunkel. Bei minus 18 Grad pfeift ein eisiger Wind über die Ostsee. Das Wasser ist zwei Grad kalt.
In höchster Not hat Adolf Bock eine Idee. „Neben dem Schornstein steht ein alter Marinekutter“, ruft er. Mit vereinten Kräften erreicht das Trio dieses Boot. Günther von Maydell erinnert sich, als sei dies alles gestern gewesen: „Mit Mühe und Not konnten wir und etwa 50weitere Menschen über die ziemlich hohe Bordwand ins Innere klettern“, sagt er.
Kaum war dies gelungen, kippte die „Gustloff“ ganz und versank im Meer. Wassermassen schossen über die Aufbauten. Wir wurden mit unserem Kutter von einer der Wellen auf die See gespült.“ Dort griffen Matrosen zu den Rudern, um nicht im Strudel unterzugehen. Wie so viele andere. Auch Kapitän Friedrich Petersen hatte sich einen Platz im Boot besorgt.
Nach ungefähr einer Stunde wurden die Flüchtlinge von der Besatzung des Flottentorpedobootes T 36 an Bord genommen. Über Sassnitz auf Rügen und Stralsund führte der weitere Leidensweg mit der Eisenbahn nach Schleswig-Holstein. In Angeln an der Flensburger Förde fanden die beiden von Maydells eine Notunterkunft. Später zogen sie nach Hamburg.
Größte Seekatastrophe der Geschichte
Günther von Maydell, heute 83 Jahre alt, erzählt diese persönliche Geschichte mit einer sachlichen Präzision, die verblüfft. Wahrscheinlich lässt sich das Grauen der größten Seekatastrophe der Geschichte mit mehr als 9000 Toten auf einem Schiff nur mit Distanz verkraften. Auch wenn seit der Tragödie sieben Jahrzehnte vergangen sind, erinnert sich der alte Herr noch an jedes Detail der Schreckensnacht vom 30. Januar 1945.
Von seinem Wohnort Klein Flottbek im Westen Hamburgs hat sich der Zeitzeuge auf Bitte des Abendblatts auf den Weg in das Maritime Museum im Überseequartier gemacht. Dort steht ein mehr als ein Meter langer Nachbau des Unglücksdampfers, angefertigt im Rahmen des ZDF-Zweiteilers „Die Gustloff“ im März 2008. Daneben dokumentieren Erinnerungsstücke wie eine Speisekarte und ein Rettungsring das Drama dieses Schiffes. An ihrem Nachbau zeigt er die Lage der Kabinen und den Irrweg, den er gemeinsam mit seiner Mutter nehmen musste.
Herr von Maydell jedoch beschreibt noch viel mehr. Bei Kakao im Museumscafé lässt er eine unvorstellbare Epoche im Zeitraffer Revue passieren: von seinem 1934 verstorbenen Vater Erich in Estland, einem 1918 enteigneten Gutsbesitzer, der später in einem Cellulose-Werk in Tallinn neue Arbeit fand, bis zu Mutter Elsbeth, einer Sprachlehrerin mit der er von 1939 bis Januar 1945 in Gotenhafen (Gdingen) lebte. Auf zwei Schlitten zogen Mutter und Sohn ihre Habseligkeiten in den Hafen der Handelsstadt an der Danziger Bucht. Im Nachhinein angefertigte Skizzen des Marinemalers Adolf Bock lassen einen vagen Eindruck der Katastrophe zu.
Maydell hat das Unglück gut verarbeitet – sagt er
Während Elsbeth von Maydell bis zu ihrem Tod 1991 von Albträumen heimgesucht wurde, hat der damals 13-jährige Günther alles gut verarbeitet. Sagt er. Der rüstige Herr, der 30 Jahre in der Dokumentation des Magazins „Spiegel“ arbeitete, lebt mit seiner Ehefrau in Groß Flottbek. Er freut sich über drei Kinder und drei Enkel. Zum Familientreffen der zumeist aus dem Baltikum stammenden von Maydells im November will er nach Kassel fahren. Erst einmal jedoch ging es am gestrigen Donnerstag mit dem Auto nach Lübeck – Seite an Seite mit Heinrich Korella aus Altona, einem weiteren der insgesamt rund 1250 Überlebenden. In der Jakobi-Kirche liest Günter Grass aus seinem Buch „Im Krebsgang“, das auch den Untergang der „Gustloff“ zum Thema hat. „Es ist eine Schande“, sagt Günther von Maydell, „dass es in Hamburg und anderswo in Deutschland kein würdiges Denkmal zur Erinnerung an diese Tragödie gibt.“ Das Wrack liegt in 42 Metern Tiefe in polnischen Hoheitsgewässern. Als „Seekriegsgrab“ ist es ein geschütztes Denkmal.
Beim Verlassen des Maritimen Museums zieht Günther von Maydell einen gut erhaltenen Pappkarton aus der Aktentasche. „Eßkarte“ ist darauf gedruckt. Sein Name ist mit Bleistift geschrieben. Es ist das einzige Erinnerungsstück, das blieb. Es steckte im Mantel, den sich Günther vor 70 Jahren griff, als er seine Koje verließ.