Die Bundesarbeitsministerin spricht über Terror, Islam und Demonstrationen – und über Mindestlohn und Rente. „Versicherungskonzerne haben gesetzliche Rente schlechtgeredet.
Hamburg. Irgendwann in dem Gespräch geht es nicht mehr um die Rente mit 63 oder den Mindestlohn, ihre Kerngebiete als Bundesministerin für Arbeit und Soziales. Andrea Nahles spricht über die Pegida-Demonstrationen und die Verdrossenheit einiger Menschen mit Politik und Medien. Die SPD-Politikerin hebt die Bedeutung der Religion für Deutschland hervor: beim Umgang mit dem Islam, bei der Frage, wie Integration gelingen kann, und warum sie manchmal auch scheitert. Als Einwanderungsland benötige Deutschland ein Verständnis für Religion, sagt die frühere SPD-Generalsekretärin. Viele Menschen aber seien „vollständig säkularisiert, verstehen nicht mehr, dass sich andere Menschen für den Glauben begeistern können“.
Seit 1980 ist Nahles in der SPD, seit vielen Jahren arbeitet sie im Berliner Politik-Betrieb. Das Misstrauen der Protestler in Dresden gegenüber der Politik teilt sie nicht. Und sie wolle sich damit auch nicht abfinden. Ein Gespräch über Verunsicherung bei manchen Deutschen, Armut um Alter und warum sich Andrea Nahles die gesetzliche Rente nicht krank reden lassen möchte.
Hamburger Abendblatt: Hand aufs Herz, Frau Nahles. Wie viele Stunden hat ihre Arbeitswoche als Bundesarbeitsministerin?
Andrea Nahles: Vermutlich mehr, als ich als zuständige Ministerin für den Arbeitsschutz für richtig halte. Ein normaler Arbeitstag beginnt um sieben Uhr morgens und endet spät am Abend. Das Wochenende halte ich mir allerdings nach Möglichkeit frei. Das ist Familienzeit.
Kommen Sie wenigstens auf den gesetzlichen Mindestlohn?
Nahles: Ja klar. Über meine Bezüge kann ich mich nicht beschweren. Aber ich habe die ganzen Stunden nie zusammengezählt.
Deshalb ist wichtig, dass nun zum Lohn am Ende des Monats auch die Stundenzahl der Arbeitnehmer in einem Unternehmen erfasst wird...
Nahles: Das ist richtig, denn wir haben in der Vergangenheit beispielsweise in der Reinigungsbranche erlebt, dass dort massenhaft Mindestlöhne umgangen wurden: Putzhilfen bekamen zwar auf dem Papier den Mindestlohn, aber sie mussten dafür dann einige Stunden mehr arbeiten. Also: Ohne eine angemessene Erfassung der gearbeiteten Stunden gibt es keinen Mindestlohn. Wir haben die erweiterten Aufzeichnungspflichten aber auf die Branchen und Arbeitsverhältnisse beschränkt, die besonders missbrauchsanfällig sind und im Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz stehen. Wer sich nun über zusätzliche Bürokratie aufregt, hat es scheinbar bisher mit der Arbeitszeit nicht so genau genommen. Da sage ich ganz klar: Wenn jetzt manch einer in der Union glaubt, die SPD hätte das mit dem Mindestlohn nicht so ernst gemeint, dann hat er sich getäuscht. Wir werden nicht augenzwinkernd dem Missbrauch die Tür öffnen. Im Übrigen haben alle diese Unionsvertreter der Regelung zu den Aufzeichnungspflichten, die von Anfang an im Gesetz enthalten war, zugestimmt.
Derzeit beträgt der Mindestlohn 8,50 Euro pro Stunde. Das reicht in einer Stadt wie Hamburg nicht aus, um eine Familie zu ernähren. Steigt der Mindestlohn?
Nahles: Die Höhe des Mindestlohns liegt seit Jahresbeginn nicht mehr in der Hand der Politik, sondern in der Verantwortung der unabhängigen Mindestlohnkommission, in der die Tarifpartner zu gleichen Teilen vertreten sind – unter dem Vorsitz von Henning Voscherau. Diese Kommission soll unabhängig entscheiden. Ob der Mindestlohn steigt, hängt von vielen Faktoren ab: von der Höhe der Lebenshaltungskosten bis zur Konjunkturprognose. Aber es gibt keinen Automatismus. Wir haben das Modell von England übernommen. Und dort ist in der Zeit der Finanzkrise um 2009 der Mindestlohn sogar abgesenkt worden.
Wie wichtig ist Zuwanderung für Deutschland?
Nahles: Qualifizierte Zuwanderung ist für unser Land und unseren Arbeitsmarkt wichtig, um die Folgen des demografischen Wandels abzumildern. Gerade in ländlichen Regionen ist es wichtig, der Abwanderung durch Neuansiedlung entgegenzuwirken. Wenn wir unsere Sozialsysteme stabil halten wollen und unsere Wirtschaft wettbewerbsfähig, dann brauchen wir Zuwanderung, und zum Glück findet sie auch statt. Wir sind das zweitbeliebteste Einwanderungsland nach den USA. Und das sollte auch so bleiben.
Pegida-Demonstranten sehen das anders. Laut einer Studie der TU Dresden stehen 70 Prozent der Anhänger im Beruf. Macht Ihnen das Sorgen?
Nahles: Die Regierungen in Bund und Land konnten die Verunsicherung dieser Menschen nicht auflösen. Das macht mir Sorgen. Die Pegida-Demonstranten haben den Glauben an die Institutionen verloren. Seit Wochen wird täglich über die Proteste berichtet, und dennoch wettern sie gegen die „Lügenpresse“. Diese Menschen fühlen sich offenbar weder von den Medien noch von der Politik vertreten. Dieses Grundmisstrauen nehme ich ernst, auch wenn ich es nicht teile und schon gar nicht damit abfinden möchte.
Wie muss die Politik reagieren?
Nahles: Gegen Pegida-Proteste hilft vor allem Aufklärung. Lasst uns gesittet und demokratisch miteinander streiten: über Zuwanderung, über Willkommenskultur in Deutschland, über die Probleme bei der Integration und im Zusammenleben. Wir setzen als Bundesregierung auf mehr Integration gerade auch am Arbeitsmarkt. Deshalb haben wir gerade erst gemeinsam dafür gesorgt, dass Asylbewerber jetzt schon nach drei Monaten in Deutschland arbeiten dürfen – wenn für den Job kein inländischer Arbeitnehmer zur Verfügung steht.
Kanzlerin Merkel sagt: Der Islam gehört zu Deutschland. Sagen Sie das auch?
Nahles: Mit den Muslimen ist auch der Islam in unser Land eingewandert und hat hier seinen Platz. Ganz grundsätzlich: Wir können stolz sein auf die Religionsfreiheit in dieser Demokratie – sie ist nicht verhandelbar. Wer vor einer Islamisierung Deutschlands warnt, redet Unsinn. Entscheidend ist nicht, welche Religion ein Mensch in Deutschland ausübt, sondern, ob sich dieser Mensch an das deutsche Grundgesetz hält.
Terroristen tun das nicht. Und Pegida instrumentalisiert Terroristen gegen Muslime in Deutschland.
Nahles: Die Gefahr von radikalen Islamisten ist groß, und wir müssen das ernst nehmen. Terroristen begehen im Namen des Islams brutale Verbrechen in Syrien, Irak oder Paris. Doch vor diesen Menschen haben auch die allermeisten Muslime Angst. Wir sollten uns immer erinnern: Auch die Kreuzzüge hatten nichts mit Jesus Christus und der Bibel zu tun. Aber natürlich töteten die Kreuzritter unter dem Banner des Christentums. Ich verlange eine kritische Auseinandersetzung der Muslime mit radikalen Islamisten, aber ich verurteile genauso einen Terror-Generalverdacht gegen Muslime.
Eine Studie zeigt: Die große Mehrheit der Pegida-Demonstranten gehört gar keiner Religionsgruppe an.
Nahles: Das gilt nicht nur bei Pegida. Religion hat in der deutschen Gesellschaft an Bedeutung verloren. Viele Menschen sind vollständig säkularisiert, verstehen nicht mehr, dass sich andere Menschen für den Glauben begeistern können. Ein Einwanderungsland wie Deutschland aber benötigt ein Verständnis für Religion, um gemeinsam Integration zu leisten. Da muss die Politik ansetzen.
In der Debatte um Protest gegen die Politik spielt auch die Sorge vor Altersarmut eine Rolle. Ihre Vorgängerin hat eine Art Mindestrente durchsetzen wollen. Was ist daraus geworden?
Nahles: Die solidarische Lebensleistungsrente steht in dieser Legislaturperiode auf der Tagesordnung. Denn klar ist: Wir müssen künftige Altersarmut bekämpfen. Ein erster Schritt ist: Wir stärken die Verbreitung von Betriebsrenten, gerade in kleinen und mittleren Unternehmen.
Sie glauben nicht mehr an die Riester-Rente?
Nahles: Das Modell der Riester-Rente funktioniert gut für Familien mit Kindern. Wir haben jedoch das Problem, dass vor allem die potenziell von Altersarmut Betroffenen keinen Riester-Vertrag abschließen. Da sehe ich durchaus Handlungsbedarf.
Wie flexibel muss der Eintritt in die Rente künftig aussehen?
Nahles: Dazu gibt es ja eine Koalitionsarbeitsgruppe, die bald zu Ergebnissen kommen soll. Ich finde: Wir brauchen mehr Flexibilität beim Renteneintrittsalter. Das Hinzuverdienen in den Übergangsjahren sollte künftig leichter und stufenlos möglich sein. Übrigens: Wenn man erst mal in Rente ist, darf man schon heute unbegrenzt hinzuverdienen.
Nur werden die heutigen Rentenreserven in Höhe von 32 Milliarden Euro 2019 aufgebraucht sein, weil Rente mit 63 Jahren und Mütterrente aus der Rentenkasse – und nicht aus Steuern. Wie können junge Leute denn noch dem 125 Jahre jungen Rentensystem in Deutschland trauen?
Nahles: Die jüngere Diskussion ist fehlgeleitet. Jahrelang hieß es vor allem von Seiten der privaten Rentenversicherer, dass das deutsche Rentensystem in der Krise steckt. Das System wurde kränker geredet, als es war. Heute sind rein kapitalgedeckte Versicherungen genauso in der Krise wie die Lebensversicherungen. Das liegt an den niedrigen Zinsen auf Geldanlagen. Deshalb gibt es auch in den kommenden Jahren keine Alternative zum solidarischen und umlagefinanzierten Rentensystem. Die Rentenreserven waren noch nie so hoch wie heute, der Beitragssatz aber ist so niedrig wie seit Anfang der 90er Jahre nicht mehr. Trotzdem würde ich jedem empfehlen, mit dem Arbeitgeber zusätzlich noch eine Betriebsrente auszuhandeln.
Das klingt nach: Die Rente ist sicher.
Nahles: Ob der Spruch von Norbert Blüm damals richtig war, ist eine andere Frage. Aber heute steht die gesetzliche Rente solide da und es ist mein Anliegen, dass sie das auch in Zukunft tut. Wir müssen dafür sorgen, dass in Zukunft nicht bestimmte Arbeitnehmer durch das Sicherungsnetz fallen. Auch kleinere Einkommen müssen über die gesamte Erwerbsbiografie eine vernünftige Rente ansammeln können. Das ist aber kein Problem des Rentensystems. Das beste Rezept gegen Altersarmut ist eine gute Ausbildung und faire Entlohnung.