Stefanie von Berg (Grüne) wirft Schulsenator vor, ihre Anfrage zur Inklusion rechtswidrig nicht zu beantworten. Es geht um brisantes Zahlenmaterial, das einen jahrelangen Streit beenden könnte.
Hamburg. Das Schreiben, das Bürgerschaftspräsidentin Carola Veit (SPD) am heutigen Dienstagmorgen auf ihrem Schreibtisch vorfindet, verheißt Arbeit und möglicherweise auch Ärger. Stefanie von Berg, bildungspolitische Sprecherin der Grünen-Bürgerschaftsfraktion, hat eine formelle Beschwerde bei Veit gegen den SPD-geführten Senat eingereicht, weil der eine Kleine Anfrage von Bergs nicht angemessen beantwortet habe. Die Präsidentin muss nun die Vorwürfe prüfen und sich gegebenenfalls im Namen der Bürgerschaft bei ihrem Parteifreund, Bürgermeister Olaf Scholz, über die Verschwiegenheit der Landesregierung beschweren. Es gibt angenehmere Aufgaben.
Es geht um brisantes Zahlenmaterial, das dazu taugt, einen jahrelangen bildungspolitischen Streit zu beenden. Wie groß ist der Anteil der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die im Rahmen der Inklusion eine Regelschule besuchen, nun wirklich? Seit der Einführung des Rechts auf Inklusion 2011 hat sich die Zahl der Kinder, denen von den Schulen Defizite in den Bereichen Lernen, Sprache sowie emotionale und soziale Entwicklung (LSE) attestiert werden, erheblich erhöht. Schulsenator Ties Rabe (SPD) geht jedoch davon aus, dass sich nicht die Kinder verändert haben (es also nicht mehr förderbedürftige Kinder gibt als früher), sondern lediglich der pädagogische Blick auf sie. Mit anderen Worten: Lehrer gehen heute häufiger von LSE-Defiziten als früher. Schulleiter und Lehrer pochen dagegen darauf, dass der Anstieg bei den LSE-Kindern real sei und sie deswegen der zusätzlichen pädagogischen Förderung bedürften.
Letztlich dreht sich bei der Auseinandersetzung alles um Geld und Lehrerstellen: Dass LSE-Kinder sonderpädagogisch gefördert werden müssen, steht außer Zweifel. Doch in Hamburg gibt es für die Inklusion keine individuell zugewiesenen Förderstunden, sondern eine „systemische Ressource“. Das heißt: Die Behörde nimmt pauschal an, dass der LSE-Anteil an Grundschulen im Durchschnitt vier Prozent eines Jahrgangs und an Stadtteilschulen acht Prozent beträgt, und bemisst daran die Förderung. Schulen in sozial schwierigem Umfeld bekommen mehr Förderstunden, die übrigen Schulen etwas weniger. Was aber, wenn der Anteil der LSE-Kinder, wie von Schulleitern immer wieder behauptet, doppelt so hoch ist? Dann reicht die Förderressource bei Weitem nicht aus.
Um eine von allen akzeptierte Faktenbasis zu schaffen, hatte Schulsenator Ties Rabe (SPD) die Fachleute der Regionalen Bildungs- und Beratungszentren (ReBBZ) vor einem halben Jahr beauftragt, jeden einzelnen Viertklässler, für den die Grundschulen LSE-Förderbedarf angemeldet hatten, unter die Lupe zu nehmen. Die Ergebnisse der aufwendigen Begutachtungen und Fallkonferenzen liegen seit dem 19.Dezember in der Schulbehörde vor. In ihrer Kleinen Anfrage hatte sich Grünen-Politikerin von Berg nach der Zahl der Viertklässler mit erwiesenem LSE-Förderbedarf erkundigt.
Der Senat antwortete mit dem Hinweis, dass der 19.Dezember lediglich ein „verwaltungsinternes Datum zur Vorbereitung weiterer Arbeitsschritte“ in der Schulorganisation sei. „Eine regelhafte Berichterstattung der sonderpädagogischen Förderbedarfe findet nach Aufbereitung, Qualitätssicherung und Auswertung der Daten im Rahmen der Schuljahresstatistik statt“, heißt es in der Senatsantwort. Im Klartext: Die Daten werden jetzt nicht veröffentlicht.
Damit gibt sich von Berg nicht zufrieden. „Es handelt sich bei diesen Daten nicht um komplexe und vielschichtige Statistiken (wie z.B. die Ermittlung des Unterrichtsausfalls), sondern drei Zahlen, die jedes der 13 ReBBZ jeweils abliefern musste“, schreibt von Berg. Insgesamt gehe es also um 39 Zahlen, die der Senat in eine Tabelle überführen müsse. „Es ist bei dieser überschaubaren Datenmenge auch nicht notwendig, diese noch einmal mit einer Software auf Widersprüche etc. zu überprüfen“, fügt von Berg etwas süffisant hinzu. Aus Sicht der Grünen-Politikerin „verstößt der Senat eindeutig gegen seine verfassungsrechtliche Pflicht zur Beantwortung von schriftlichen Kleinen Anfragen“.
Pit Katzer vom Bündnis für schulische Inklusion geht davon aus, dass die ReBBZ-Prüfung einen Anteil von mehr als vier Prozent LSE-Kinder ergeben hat. Und Katzer, der Schulleiter der Erich-Kästner-Stadtteilschule in Farmsen ist, macht eine Rechnung auf: Bei einer Quote von sechs Prozent wären 300 zusätzliche Lehrerstellen erforderlich, was den Schuletat mit 19 Millionen Euro zusätzlich belasten würde. Bei einem Wert von fünf Prozent wären es immer noch 9,5 Millionen Euro mehr.
Katzer vermutet, dass Rabe mit seiner Weigerung, die Daten zu veröffentlichen, ein Konfliktthema aus dem Bürgerschaftswahlkampf heraushalten wolle. „Es ist ein Skandal, wenn der Senator zwei Jahre lang den Schulen falsche Zahlen unterstellt und nun die Ergebnisse der von ihm selbst angeordneten Diagnostik aus wahltaktischen Gründen geheim hält“, sagt Katzer.
Die Schulbehörde hält an ihrem Vorgehen fest. „Die Ergebnisse werden derzeit ausgewertet und sollen im Rahmen der Schulorganisation im Februar zur besseren Verteilung der Schüler auf die Schulen dienen“, sagt Behördensprecher Thomas Bressau. Außerdem werde überprüft, ob die Daten „korrekt und vollständig eingetragen und übermittelt wurden und plausibel“ seien. Aber: „Die Ergebnisse werden nach Abschluss der Qualitätssicherung noch vor der Wahl veröffentlicht“, sagt Bressau.