Rund ein Viertel der 115 bekannten schwerkriminellen jugendlichen Intensivtäter in Hamburg sind unbegleitete junge Flüchtlinge. Ein LKA-Dossier zeigt die Hilflosigkeit der Ordnungshüter.
Früher wären die Polizisten wohl überrascht gewesen, als sie am Mittwoch Abend die Personalien von drei Einbrechern aufnahmen, die kurz zuvor in eine Gartenlaube in der Bebelallee eingestiegen waren und dabei beobachtet wurden: 12, 13 und 15 Jahre alt waren diese erst. Doch mittlerweile ist es längst keine Seltenheit mehr, dass Täter dieses Alters in Streifenwagen abtransportiert werden – und fast immer handelt es sich dabei um Flüchtlinge, die ohne Eltern oder andere Erziehungsberechtigte nach Hamburg gekommen waren. Im Behördendeutsche heißen diese „minderjährige unbegleitete Flüchtlinge“, kurz „MUFL“.
Doch was zumindest in der Abkürzung sogar etwas niedlich klingt, stellt die Innenbehörde zunehmend vor Probleme. Bei der Polizei geht man davon aus, dass in diesem Jahr mehr als 1000 junge unbegleitete Flüchtlinge nach Hamburg gekommen sind – Hunderte von ihnen, so die Schätzung von Sicherheitsexperten, lassen sich weder registrieren noch staatlich betreuen und leben an unbekannten Orten. Auch von den 400 unbegleiteten jungen Flüchtlingen, die in Hamburger Erstaufnahmeeinrichtungen wohnen und zumeist aus afrikanischen Ländern kommen, werden etliche von der Polizei als Straftäter eingestuft. Rund ein Viertel der 115 bekannten schwerkriminellen jugendlichen Intensivtäter in Hamburg sind danach unbegleitete junge Flüchtlinge. Brennpunkte haben sich laut Polizei auf St. Pauli und in St. Georg herausgebildet. Eine Abschiebung der Kinder und Jugendlichen in ihre Heimatländer wird als „unmöglich“ eingestuft.
In einem Lagebericht des internen Dossiers des Landeskriminalamts (LKA) wird die Lage dezidiert beschrieben. Dabei wird von der Einwanderung bis zur Strafzumessung deutlich, wie komplex der Sachverhalt ist. Die „Welt am Sonntag“, der das Lagebild vorliegt, dokumentiert wörtlich die wichtigsten Stellen.
Einreise/Schleusung: „Die Bundespolizei stellt entsprechende Personen bei der Kontrolle der Reisewege in Zügen zum Hamburger Hauptbahnhof oder auf der Durchreise in Richtung Skandinavien fest. Die Jugendlichen reisen allein oder in Kleinstgruppen. Fahrkarten führen sie nicht mit sich. (…) Im Rahmen der Ermittlungen wurde festgestellt, dass der Schleusungsweg per Schiff von Alexandria nach Sizilien, dann auf dem Landweg nach Norditalien in den Raum Mailand und von dort ebenfalls auf dem Landweg in Kleingruppen nach Hamburg führt. (...) Dies ist für den norddeutschen Raum der am häufigsten festgestellte Schleusungsweg. Für die minderjährigen unbegleiteten Flüchtlinge ägyptischer Herkunft ist das Ziel Hamburg. In den überwiegenden Fällen liegt das Reiseziel der Geschleusten allerdings in Skandinavien. Hamburg ist von den Schleusern regelhaft als „Umsteigeort“ innerhalb des Landtransports aus Südeuropa auf die entsprechenden Bahnlinien Richtung Norden vorgesehen. (...) Die Schleusungsrouten aus den Maghreb-Staaten (das sind Tunesien, Algerien, Marokko, Libyen und Mauretanien; d. Red.) verlaufen teilweise über Libyen via Süditalien Richtung Mailand. Von dort dann per Bahn nach München, weiter über Frankfurt und Hamburg nach Skandinavien. (...) Es gibt immer wieder Hinweise auf Einzelpersonen, die sich als Schleuser betätigen sollen. Trotz intensiver Nachermittlungen sind die Angaben in der Regel nicht ausreichend, um Erfolg versprechend Strafverfahren gegen die Personen einzuleiten. Gleichwohl werden beim Landeskriminalamt 64 Ermittlungsverfahren vorangetrieben, die sich in den meisten Fällen aus verdeckt gewonnenen Erkenntnissen generieren.“
Alter, Personalien, Identitätsfeststellung: „Aus hiesiger Sicht gibt es zunächst eine große Anzahl von MUFL, die bereits heranwachsend sind, aber aufgrund fehlender Personalpapiere zunächst von der Jugendhilfe in Obhut genommen werden. Im Laufe des weiteren Verfahrens nach Erstellung von Altersgutachten werden diese Personen von der Jugendhilfe aus der Zuständigkeit herausgenommen. Die weit größere Gruppe von MUFL dürfte sich im Altersbereich zwischen 14 und 17 Jahren befinden, ein kleinerer Teil – der auch nur in Ausnahmefällen hochdelinquent ist – befindet sich noch im Kindesalter.“
Allgemeine Situationsbeschreibung: „Aufgrund der an den Polizeikommissariaten gemachten Erfahrungen lässt sich zunächst generell feststellen, dass die MUFL bei polizeilichen Einsätzen in und außerhalb der Unterkünfte regelhaft ein nicht normengerechtes Verhalten auf alltägliche Situationen an den Tag legen. Insbesondere führen kleinste Anlässe kontroverser Sachverhalte, auch untereinander, schnell zu aggressiv geführtem Angriffs- und Verteidigungsverhalten, wobei sich die betroffenen Jugendlichen zu Gruppierungen zusammenfinden und gegenseitig unterstützen oder auseinandersetzen. Reglementierende Eingriffe finden wenig Akzeptanz. Der Umgang mit anderen Menschen ist häufig respektlos und geprägt von fehlender Anerkennung hiesiger Werte und Normen. Dieses wiederkehrende Muster lässt in der Einzelfallbetrachtung eine Ursächlichkeit in den fehlenden familiären und sozialen Bindungen, herkunftsbedingten Mentalitäten sowie traumatischen Erfahrungen der Jugendlichen in Krisengebieten vermuten. Die MUFL treten schwerpunktmäßig im Innenstadtbereich nahezu täglich in Erscheinung. Während sie sich tagsüber überwiegend in St. Georg aufhalten, verlagern sie ihre Aktivitäten in den Abendstunden in Richtung Binnenalster, Flora- und Sternschanzenpark und St. Pauli. Meist treten sie in Gruppen auf, so sind schon bis zu 30 MUFL an Wochenendnächten gleichzeitig auf St. Pauli festgestellt worden. Das Verhalten der Gruppe der hochdelinquenten MUFL gegenüber den einschreitenden Beamten ist als aggressiv, respektlos und herablassend zu charakterisieren. Sie signalisieren, dass ihnen die polizeilichen Maßnahmen gleichgültig sind.“
Straftaten: „In vielen Fällen werden die Jugendlichen ziemlich schnell sehr und sehr häufig auffällig, hauptsächlich im Bereich des Taschendiebstahls („Antanzen“) oder des Straßenraubs. Inzwischen kommen auch Einbruchstaten in Wohnungen dazu. Häufig werden auch Laubeneinbrüche und Kfz-Aufbrüche festgestellt, die sich jedoch oft als Hausfriedensbruch bzw. Sachbeschädigung darstellen, weil die Jugendlichen dort nur einen Schlafplatz suchten. Ladendiebstähle zur Erlangung von Lebensmitteln sind an der Tagesordnung. Bei Festnahmen kommen auch Widerstandshandlungen und Körperverletzungsdelikte hinzu. Den Jugendlichen geht jeglicher Respekt vor staatlichen Institutionen ab. (...) Mit den Tatverdächtigen werden Norm- und Hilfegespräche mittels eines mit den Gepflogenheiten ihres Kulturkreises vertrauten Dolmetschers durchgeführt.“
Ausländerrechtliche Erkenntnisse: „Jugendliche werden von Hamburg nicht abgeschoben. Der fragliche Personenkreis verweigert in den meisten Fällen eine ausländerrechtliche Erfassung oder Mitarbeit. Vorsprachen bei der Ausländerbehörde versucht man solange wie möglich aus dem Weg zu gehen. Asylanträge werden oft nur zur Vermeidung von Inhaftierungen wegen Straftaten gestellt. Verteilungen in andere Bundesländer (nur über 16 Jahre) kommen die Jugendlichen normalerweise nicht nach. Da sich in diesen Fällen die Hamburger Ausländerbehörde als nicht mehr zuständig ansieht, die zugewiesene Ausländerbehörde sich in Ermangelung der persönlichen Vorsprache des Jugendlichen noch nicht für zuständig erklärt, verbleiben die Jugendlichen in einem ungeklärten Aufenthaltsstatus. (…) Aufgrund der erheblichen Kapazitätsprobleme der Ausländerbehörde und der Unmöglichkeit sie abzuschieben, stuft man die Jugendlichen als nicht vordringlich ein und erteilt zum Teil sehr langfristige Meldeauflagen. (…) Als Problem stellt sich immer wieder die Verweigerungshaltung der Jugendlichen dar, sich ausländerrechtlich überhaupt registrieren zu lassen. Ferner befolgen sie Meldeauflagen eigentlich nie. Sie verbleiben bewusst im illegalen Aufenthalt. Die Androhung von Maßnahmen deutscher Ausländerbehörden ignorieren sie weitgehend. Zwangsweise Maßnahmen zur Durchsetzung von Meldeauflagen erfolgen nicht.“
Joachim Lenders, Landesvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft, sieht die in dem internen Papier skizzierte Entwicklung mit Sorge. „Wir brauchen dringend Maßnahmen, die diesem Phänomen gerecht werden und den Tätern Einhalt gebieten. Wir werden sonst einen signifikanten Anstieg der Straftaten durch die Gruppe erleben müssen“, sagt er. In der Sozialbehörde heißt es hingegen, man brauche kein neues Konzept. „Die bestehenden Regeln, ihre Durchsetzung sowie die stetig verbesserte Zusammenarbeit der jeweils zuständigen Organe sind die wirksamsten Mittel“, so Sprecher Marcel Schweitzer.