Seit 25 Jahren berät der Verein Allerleirauh Kinder und junge Frauen, die sexuell missbraucht wurden. Der Verein will die Mädchen stark machen, nein zu sagen, sich mitzuteilen und sich zu behaupten.

Eilbek. „Uns geht es darum, dass sexuelle Gewalt in der Kindheit oder der Jugend weder bagatellisiert noch dramatisiert wird“, sagt Christa Paul. Die promovierte Sozialpädagogin arbeitet seit 18 Jahren in der Beratungsstelle Allerleirauh an der Menckesallee in Eilbek. Hierher kommen vor allem junge Mädchen zwischen 13 und 20 Jahren, die sexuellen Missbrauch erfahren haben. In der Familie, in der Schule, im Sportverein. Am morgigen Freitag feiert die Beratungsstelle ihr 25-jähriges Bestehen.

Seit einiger Zeit nimmt das Problem von sexuellen Darstellungen im Internet in Hamburg deutlich zu. „Wir haben mittlerweile zehn bis 20 Fälle im Jahr, in denen Fotos oder Filme von jungen Mädchen mit sexuellem Inhalt ins Netz gestellt worden sind – gegen ihren Willen, oft von Schulkameraden“, sagt Sabine Christiansen, die ebenfalls seit 18 Jahren als Diplom-Psychologin bei Allerleirauh arbeitet. Für die acht Mitarbeiterinnen der Beratungsstelle ist deshalb die Präventionsarbeit an den Schulen immer wichtiger geworden.

In Projektwochen in den 8. Klassen geht es vor allem darum, die 13 und 14 Jahre alten Mädchen darin zu bestärken, sich über ihre Gefühle klar zu werden. Was tut mir gut, was schadet mir? In Rollenspielen werden Anmachsituationen nachgestellt. Wo sind meine persönlichen Grenzen? Wenn ein Junge meine Telefonnummer haben will? Wenn er mit mir schlafen will? „Es geht darum, die Wahrnehmungen von Grenzüberschreitungen zu fördern“, sagt Christa Paul. „Wir wollen die Mädchen stark machen – Nein zu sagen, sich mitzuteilen und sich zu behaupten.“

Erwachsene müssen Kinder schützen

Christa Paul sagt auch, dass kein Kind sich alleine vor sexueller Gewalt schützen kann. „Für den Schutz der Kinder sind die Erwachsenen verantwortlich.“ Deshalb ist die Fortbildung für pädagogische und psychosoziale Fachkräfte ein Arbeitsschwerpunkt von Allerleirauh geworden. Dabei geht es um einen ersten Zugang zu den betroffenen Mädchen. Um die richtigen Worte und den richtigen Zeitpunkt für ein Gespräch. Um die Frage, wo fangen sexualisierte Übergriffe an, auch im Hinblick auf die digitalen Medien. Und es geht darum, wie Lehrer Signale von Schülern wahrnehmen und einen Zugang finden können, um von den Jugendlichen ins Vertrauen gezogen zu werden. Wie findet eine Verdachtsabklärung statt, wie kann trotz des großen Handlungsdrucks Panik vermieden werden?

„Die Lehrer oder Erzieher sollten mit dem Verdacht auf keinen Fall alleine bleiben, sondern im Team darüber sprechen“, sagt Sabine Christiansen. Und sie sollten den Schülern das Gefühl vermitteln: „Ich bin belastbar. Du kannst mir alles erzählen. Ich glaube dir, was du sagst.“

Die Anforderungen an das Allerleirauh-Team sind in den vergangenen 25 Jahren ständig gestiegen. Im Jahr finden rund 180 Beratungen statt, die Hälfte davon sind von sexueller Gewalt betroffene Mädchen. Dazu kommt die therapeutische Begleitung von 15 Mädchen über einen Zeitraum bis zu einem Jahr. Schließlich die Hilfe für Eltern und die telefonische Beratung, die durch Spenden seit acht Jahren auf 24 Stunden pro Woche erhöht werden konnte. Rund 300 Anrufer finden pro Jahr bei Allerleirauh eine kompetente Ansprechpartnerin und müssen mit ihren oft traumatischen Erlebnissen nicht allein bleiben.

Oft kennt das Opfer den Täter

Wer sind die Täter? „Drei Viertel der Täter kommen aus dem Nahbereich – der Familie, dem Bekanntenkreis“, sagt Sabine Christiansen. Der Vater, der Bruder, der Nachbar, der Trainer. Oft der Stiefvater. Gerade dann ist es für die jungen Mädchen schwer, sich zu öffnen. Sabine Christiansen berichtet von einer 14-Jährigen, die nach einer kurzen Andeutung sexueller Gewalt durch den Stiefvater anschließend zwei Jahre lang geleugnet hat, dass es zu einem Missbrauch gekommen ist. „Sie wollte die Familie nicht zerstören.“ Als sie es dann aber nicht mehr ausgehalten und darüber gesprochen hat, hat die Mutter ihr nicht geglaubt. „Und dann ist genau das passiert, was sie vermeiden wollte. Sie kam in eine Jugendeinrichtung, und die Familie ist zerbrochen.“

In solchen Fällen ist es das Ziel der Pädagoginnen, den Mädchen durch die Therapie zu vermitteln, dass sie nicht ihr ganzes Leben unter dem Vorfall leiden müssten. „Sie müssen das Erlebte erinnern, es betrauern und in ihre Geschichte integrieren. Sie müssen die Kontrolle über das Ereignis erlangen. Sie dürfen es nicht irgendwo abspeichern, sodass es sie dann in Albträumen immer wieder unerwartet überwältigt“, sagt Sabine Christiansen. Ziel sei es auch, die Mädchen aus ihrer Opfer-Identität herauszuholen und ihnen zu sagen, dass es trotzdem eine Zukunft gibt.

Seit einem Vierteljahrhundert finden Mädchen und junge Frauen, die Opfer von sexueller Gewalt geworden sind, bei Allerleirauh Hilfe. Was wünschen sich die Mitarbeiter der Beratungsstelle, die zehn Prozent ihres Etats durch Spenden finanziert, zum Jubiläum? „Der Bedarf für Hilfe ist ständig gestiegen, wir brauchen eine zusätzliche Stelle im Bereich der Prävention und mehr Kapazitäten für die Fachberatung“, sagt Christa Paul. Um Mädchen so stark zu machen, dass sie sich gegen sexuelle Angriffe behaupten können.