Die Weltpremiere von Hamburgs neuem Musical „Das Wunder von Bern“ reißt die Zuschauer von den Plätzen. Michelle Hunziker war nicht die einzige, die zum Taschentuch greifen musste.

Hamburg. Wie gut oder schlecht die Chancen auf Sieg stehen, hängt nicht nur im Fußball von Faktoren ab, die sich selbst größtem prognostischen Scharfsinn entziehen. Auch beim Musical weiß man vorher nie, ob die Leute es lieben oder meiden werden. Im Falle der Neuproduktion der Stage Entertainment „Das Wunder von Bern“, die am Sonntag im extra dafür gebauten Theater an der Elbe gleich neben der Spielhöhle vom „König der Löwen“ ihre Uraufführung erlebte, ist der Erfolgsdruck besonders groß. Das Theater hat Angaben der Bauherren zufolge 50 Millionen Euro gekostet. Davon möchten sie bestimmt gern im Lauf der kommenden Jahre am Box office einiges wieder reinholen.

Groß aber ist auch die Risikobereitschaft der Produzenten. Denn sie betreten noch in weiterer Hinsicht Neuland. Sie verlassen sich weder auf schon anderswo auf Publikumstauglichkeit Getestetes noch auf die Zugkraft eines Namens. Auch bei der Musik verzichten sie auf Nummer Musicalsicher. Der Kompositionsauftrag ging an den noch weitgehend unbekannten Hamburger Martin Lingnau.

Vor allem aber: Erstmals im deutschen XXL-Musical erzählt Deutschland von sich selbst.

„Das Wunder von Bern“ bringt in teilweise großartigen Bildern und Szenen die Geschichte vom gänzlich unerwarteten Erwerb des ersten Sterns am Trikot der Nationalspieler in Erinnerung, bei der ersten Fußballweltmeisterschaft mit deutscher Beteiligung nach dem Krieg, 1954 in der Schweiz. Es tastet sich an die lädierte Befindlichkeit einer Nation heran, die neun Jahre zuvor die Welt in Schutt und Asche gelegt hatte und deren Bevölkerung seither selbst in Sack und Asche ging, wenn auch nur in Teilen. Beides ist gegenwärtig, der heraufziehende Morgen eines neuen, freudigen Selbstbewusstseins und die dunkle Nacht der Schuld, aufgeladen durch einen Weltkrieg, eine grauenhafte Ideologie und den Mord an sechs Millionen Juden. Das verleiht dem „Wunder von Bern“ einiges dramaturgisches Gewicht.

Gearbeitet nach Sönke Wortmanns gleichnamigem Film, verschränkt auch das Musical dies erste, sozusagen noch in schwarzweiß gehaltene deutsche Fußball-Sommermärchen mit einer auf Rührung anderer Art abzielenden Geschichte, in der sich das Private mit dem Kollektiven kreuzt. Im nämlichen WM-Sommer 1954 kehrt der deutsche Wehrmachtssoldat Richard Lubanski (Detlef Leistenschneider) aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft nach Essen zurück, zu Frau und mittlerweile drei Kindern. Ein Spätheimkehrer. Sein Jüngster, Matthias (Riccardo Campione), ist neun Jahre alt. Vater Richard sieht ihn hier, im für die Musicalbühne zum Kopfbahnhof umgedichteten Hauptbahnhof von Essen, zum ersten Mal – und zweifelt an der eigenen Vaterschaft. Seine Ehefrau Christa (Vera Bolten) verwechselt er mit seiner inzwischen pubertierenden Tochter Ingrid (Marie Lumpp), denn sie sieht aus wie die Frau, die er vor zehn Jahren zuletzt sah. Sohn Bruno, der Älteste, ist ihm der Fremdeste. Er klebt Plakate für die KPD und spielt Rock’n’Roll.

Er kann die Bilder und die Töne nicht vergessen

Lubanski leidet, modern gesprochen, an einem posttraumatischen Belastungssyndrom. In einer der stärksten Szenen fährt er mit den Kumpels erstmals wieder in die Zeche ein. Im Flackern der Grubenlampen, im Hitzefeuer des Hochofens, im Knattern und Knallen der Presslufthämmer überblendet sich die Untertagewelt für ihn unweigerlich mit dem Schützengraben. Er kann die Bilder und die Töne nicht vergessen. Und findet sich nicht mehr zurecht in der alten Heimat. Eine Szene kurz darauf im ehelichen Schlafgemach, begleitet von vier diskret im Hintergrund „Glück auf!“ singenden Bergarbeitern, zeigt nicht nur, dass diesem Richard Intimität mit seiner Christa noch unmöglich ist; sie erlaubt für einen allzu kurzen Moment auch einen Blick in einen spannenden, surrealen Theaterraum, den Regisseur Gil Mehmert mit diesem Stoff gern hätte weiter öffnen können.

Aber wir befinden uns in einem Musical der Generation 3.0, mindestens, in dem das Digitale, das Filmische und eine Fülle detailverliebter, großartig entworfener und real gezimmerter Bühnenbilder in beeindruckender Präzision ineinander spielen. Der stete Wechsel der kaum aufzählbaren Prospekte – mal fragmentiertes Pupppenstuben-Zuhause der Lubanskis, mal lokaler Fußballplatz; mal Frau Lubanskis Ruhrpott-Kneipe „Christas Eck“, mal Kirchenraum mit Beichtstuhl, aus dem die Fußballübertragung im Radio dringt; mal Büroraum, in dem Richard die Entschädigung versagt wird, mal Spielerhotel; mal Stadionkabine, mal Autobus – hat einen Hang ins Rastlose. Technisch ist hier alles möglich, und darum wird es auch vorgeführt. Wirklich atemberaubend spektakulär ist allerdings die Wiedergabe einiger Szenen des Endspiels Deutschland gegen Ungarn, wo die Fußballer, durch Seile gesichert und offenbar mit Magnetschuhen bewehrt, auf der Steilwand über der Bühne entscheidende Spielzüge simulieren. Das ist technisch grandios und sorgt für einen Verblüffungseffekt erster Güte.

Unterhaltsam bis zauberhaft

Die Figur des Bundestrainers Sepp Herberger (stilecht bis in die Diktion: Michael Ophelders) wird hier ganz aufs Anekdotische, seine Strenge, seine Schläue und seine berühmten Bonmots verkürzt („Der Ball ist rund, und das Spiel dauert 90 Minuten“). Das ist unterhaltsam bis zauberhaft – etwa die Varianten der Aufstellung, die der Trainer in seinem Zimmer im Mannschaftsquartier in Spiez mit zusammengefalteten Socken, Pantoffeln und Schuhen auf der grasgrünen Wolldecke seines Bettes ausprobiert. Dass dieser Held der heilenden Welt des deutschen Fußballs eine Nazi-Vergangenheit hatte, bleibt zwischen den Zeilen verborgen, etwa in dem ersten, martialisch-schneidigen, aber tollen Fußball-Ballett, das die Mannschaft um Fritz Walter (Mark Weigel) und das am Ende so siegbringende Sorgenkind Helmut Rahn (Dominik Hees) auf Geheiß des Trainers vorführt.

Es wird im „Wunder von Bern“ nur leider sehr durchschnittlich gesungen. Außer bei Elisabeth Hübert (als hübschem, dann doch nicht so unschlauen Dummchen Anette Ackermann) und David Jakobs als Bruno Lubanski fehlt es den Gesangstimmen an Prägnanz und Charisma. Und trotz der schlagerhaft simplen Songtexte von Frank Ramond, die nahezu ausnahmslos syllabisch vorgetragen werden, bleibt nicht eine Hookline, nicht eine Melodie wegen ihres Wurmcharakters im Ohr hängen. Auch die nahezu permanente Anwesenheit von Musik selbst in den Dialogszenen irritiert; sie schwächt die Songs. Sollten jedoch im Musical 3.0 Geschichte und Special effects mehr gelten als Musik und ihre Wiedergabe, steht dem Erfolg des „Wunders von Bern“ nichts im Wege.