Am Ende ist es fast ein Triumph: Trotz Widerstands kann Winfried Kretschmann auf dem Parteitag seine Asylpolitik überzeugend verteidigen. Der einzige grüne Ministerpräsident glänzt wegen der Schwäche der Parteiführung.
Hamburg. Der Protest fällt kurz und fast lautlos aus. Am Ende gibt es stehend Beifall für Winfried Kretschmann. Baden-Württembergs Ministerpräsident verteidigt am Sonnabendnachmittag in Hamburg beim Bundesparteitag mit einer leidenschaftlichen Rede sein Ja zum Asylkompromiss – und punktet an der Basis. Ein Großteil der Delegierten in der Sporthalle, die zu diesem Zeitpunkt das erste Mal bis unter die Ränge gefüllt ist, stellt sich hinter den grünen Vorkämpfer aus dem Südwesten. Auch Kritiker klatschen.
Die Parteispitze wirkt nach dem Auftritt erleichtert, es kommt nicht zum „Kretschmann-Bashing“, die große Abrechnung der Partei-Linken bleibt aus. Die kleine Protestaktion der grünen Jugend, die für einen Moment mit Plakaten die Bühne verdeckt, stört nur kurz die Rede Kretschmanns. Der geht auf die Störer nicht ein. Der Mann ist spätestens jetzt der eigentliche Star auf dem Parteitag.
Kretschmann musste viel Prügel dafür einstecken, dass er mit Union und SPD in der Länderkammer der Änderung des Asylrechts zustimmte - nachdem die Koalition praktische Erleichterungen für Flüchtlinge angeboten hatte. Aber die Parteitag-Strategen waren bemüht, die Wogen rechtzeitig zu glätten. Damit nicht mehr darüber gestritten wird, wer wann und wo etwas Falsches gesagt und getan hat. Versöhnlich sollte es zugehen in Hamburg – Blick nach vorne statt Schuldzuweisungen.
Kretschmann verteidigte seine Entscheidung. Er habe „skrupulös“ mit sich gerungen. Seine Entscheidung habe zu einer „substanziellen Verbesserung für Flüchtlinge“ in Deutschland geführt. Das gelte etwa für die Aufhebung der Residenzpflicht und die erleichterten Arbeitsmöglichkeiten. Dies sei „enorm wichtig für das Selbstwertgefühl der Menschen“. Das individuelle Recht auf Asyl sei nicht preisgegeben worden. Nur wer Kompromisse macht, kann auch von anderen welche erwarten, sagte Kretschmann. Der Parteitag verabschiedete auch einen Beschluss zur Unterstützung der Sinti und Roma Minderheiten.
Simone Peter sagte, die Grünen hätten das Konstrukt der sicheren Herkunftsstaaten stets für falsch gehalten. Man sei bei einer schwierigen Abwägung zu unterschiedlichen Entscheidungen gekommen. Die Sprecherin der Grünen Jugend, Theresa Klamer, sprach von einem historischen Bruch und warf Kretschmann vor, eine „rote Linie“ überschritten zu haben. Aber auch sie appellierte, wieder gemeinsamen in die Zukunft zu schauen.
Kretschmann hat eben eine besondere Rolle. Die Personenschützer sind unter den gut 700 Delegierten schnell ausgemacht. Gegen 15.00 Uhr sieht man auffällig viele Herren mit dem Knopf im Ohr in der Nähe des Rednerpults. Kretschmann ist auch der einzige, der in Hamburg mit gepanzerter Limousine vorfährt. Denn er ist der einzige grüne Ministerpräsident – und soll es im wirtschaftsstarken „Ländle“ trotz Kritik aus den eigenen Reihen auch nach 2016 bleiben. Er darf zweimal auf dem Parteitag reden, obwohl er kein Amt in den Spitzengremien auf Bundesebene bekleidet. Er ist eigentlich kein geborener Parteitags-Redner, der die Massen leicht begeistern könnte.
Stark ist er auch deshalb, weil die seit einem Jahr amtierende doppelte Doppelspitze aus den Parteichefs Cem Özdemir und Simone Peter sowie den Fraktionschefs Anton Hofreiter und Katrin Göring-Eckardt noch nicht wie erhofft Fuß gefasst hat. Stark auch, weil die Grünen wohl bald in acht Ländern mitregieren und Ländergrößen in der Partei zunehmend den Ton angeben – während die Grünen im Bundestag als kleinste Oppositionskraft um Gehör kämpfen. Da wird einer wie Kretschmann schnell zur Galionsfigur.
Schon am Freitagabend versuchte er, in der Freiheitsdebatte einmal mehr die Basis für sein Lieblingsthema zu begeistern. Er will die von ihm vor 35 Jahren mitgegründete Ökologie-Partei auch zu einer Ökonomie-Partei wandeln. Selbstverständlich seien die Grünen eine Wirtschaftspartei, ruft er in den Saal. Er, der in seiner Heimat mit der Automobilindustrie längst nicht mehr so fremdelt.
Die im Südwesten beklatschte Formulierung, die Grünen müssten eine klassische Wirtschaftspartei werden, wiederholt Kretschmann in Hamburg zwar nicht. Mancher Delegierte dürfte dennoch die Hand in der Tasche geballt haben, als der Pragmatiker Kretschmann in Richtung Idealisten vom „falschen Sound“ der Bevormundung spricht: „Wir müssen heute Unternehmen nicht mehr dauernd beibiegen, was grün ist.“ Immer mehr Unternehmen hätten das „längst im Film“.
An diesem Abend ist es relativ still im Saal. Man hört Kretschmann zu, ist neugierig – einige sind verärgert. Der Bundestags-Abgeordnete Sven-Christian Kindler wirft dem fast 37 Jahre älteren Regierungschef vor, sein Vertrauen in grüne Ziele der Unternehmen sei „heillos naiv“. Sozial-ökologischer Umbau gehe nicht mit Kuschelkurs. Ein anderer Spitzen-Landesgrüner springt Kretschmann bei: Robert Habeck, Umweltminister und Vize-Ministerpräsident aus Schleswig-Holstein, sagt: Die Grünen müssten sich ändern und um die Wirklichkeit kümmern. Sie hätten sich lange genug mit sich selbst beschäftigt.