Der Prozess um den gewaltsamen Tod der dreijährigen Yagmur geht am Dienstag zu Ende. Die Details und die Kälte der Angeklagten schockierten viele Beobachter.
Hamburg. Dieses verhaltene Lächeln, der scheue Blick, wie tastend, zögerlich, aus großen fragenden Augen. Darf ich? Kann ich es wagen, einen Moment unbeschwert zu spielen, scheinen diese Blicke zu fragen, die die kleine Yagmur ihrer Mutter zuwirft. Um dann für einen Augenblick eine Spur von Fröhlichkeit zu kosten, beim Tanz mit der Puppe im Arm und beim ausgelassenen Plantschen im Wasser. Es sind wohl einige der letzten Aufnahmen, die es von der Dreijährigen gibt, aufgenommen von der Mutter. Ein vergnügtes Mädchen, so scheint es, ein Kind, das Lebensfreude versprüht und Lebendigkeit. Eine Fröhlichkeit, die für Momente die qualvollen Schmerzen überlagert, die das Kind beständig martern. Kurze Zeit später ist die Dreijährige tot, nach Wochen des furchtbaren Leidens, geschunden und misshandelt.
Diese Bilder der fröhlichen Yagmur sind es, die den emotionalsten Moment in dem am Dienstag mit der Urteilsverkündung zu Ende gehenden Schwurgerichtsprozess um den gewaltsamen Tod des kleinen Mädchens auslösen: eine gefühlsgeladene Konfrontation der beiden Angeklagten, bei der Yagmurs Vater Hüseyin Y. von seinem Stuhl aufspringt und anfängt zu brüllen. „Du hast sie umgebracht! Warum weinst du?“, schreit der 26-Jährige seine Noch-Ehefrau Melek Y. an. Und die wegen Mordes angeklagte Mutter zischt zornig zurück: „Du mit deinen Drohungen. Jetzt zeigst du dein wahres Gesicht.“ Böse Blicke, böse Worte. Tage später indes, als Bilder der toten Yagmur gezeigt werden, ihres mit Verletzungen übersäten kleinen Körpers, bleiben die Gesichter der Eltern abgewandt, ihre Mienen unergründlich, ihre Münder stumm. Es ist, als hätten die beiden einen schützenden Panzer um ihre Gefühle gelegt.
Die Angeklagte wirkt wie eine Statue, mit maskenhaftem Gesichtsausdruck
Mord aus Hass wird der 27-jährigen Mutter vorgeworfen. Die Staatsanwaltschaft fordert, lebenslange Haft gegen Melek Y. zu verhängen, die aus „gefühlloser und unbarmherziger Gesinnung“ ihr Kind über Monate misshandelt habe. Als Yagmur am 18.Dezember vergangenen Jahres starb, war das Mädchen gerade drei Jahre und zwei Monate alt.
Was Melek Y. indes dabei durch den Kopf geht, versucht sie im Prozess konsequent abzuschirmen. Jeweils zu Beginn der Verhandlungstage legt sie eine Hand an die Wange, mit ausgestreckten Fingern, um möglichst viel von ihrem Gesicht vor forschenden Blicken zu kaschieren. Mit unbewegter Miene stiert die zierliche Frau vor sich hin, mit dunkel verschatteten Augen, in sich gekehrt. Fast wie eine Statue wirkt sie, nahezu starr. Mit diesem zur Maske verhärteten Ausdruck verharrt die 27-Jährige auch an dem Verhandlungstag, der für viele Prozessbeobachter die Grenze des Ertragbaren markiert – als der Direktor des Instituts für Rechtsmedizin, Klaus Püschel, als Sachverständiger von den Verletzungen und der Todesursache des kleinen Opfers berichtet und etliche Fotos von ihrem geschundenen nackten Körper gezeigt werden. 83 äußere Verletzungen sind dokumentiert, stumme Zeugen des Leids, das das kleine Mädchen ertragen musste. Zudem waren ihr Gehirn und nahezu alle ihre Organe verletzt.
Die Verteidiger agieren unorthodox: ruhig, zurückhaltend, ohne Schärfe
Gleichwohl sind auf dem Handyvideo, auf dem die Dreijährige mit ihrer Puppe im Arm tanzt, keine offenkundigen Einschränkungen in der Motorik des Mädchens zu erkennen. „Da sieht man, dass sie sich kurz vor ihrem Tod normal bewegt hat“, kommentiert der Verteidiger von Hüseyin Y., Carsten Kerschies, die Aufnahmen. Der Anwalt ist kein Mann der großen Gesten oder eitlen Auftritte. Ruhig sitzt er an der Seite seines Mandanten, mit aufmerksamem Blick in Akten und zu den jeweiligen Zeugen. Zurückhaltend, aber mit gezielten Fragen versucht er zu beweisen, dass Yagmurs Vater nichts von massiven Angriffen gewusst habe, sondern lediglich von „geringfügigen Verletzungen“ ausgegangen sei. Er hätte allerdings „handeln müssen“, sagt Verteidiger Kerschies. Mit dieser Schuld müsse der Angeklagte „für den Rest seiner Tage leben“. Manche Prozessbeobachter hat es indes erstaunt, dass der Anwalt mitteilte, er und sein Mandant würden auf eine Erklärung des Angeklagten „verzichten“. Erst im letzten Moment hat Hüseyin Y. das Wort ergriffen und unter Tränen über seine Tochter Yagmur gesagt: „Ich habe sie geliebt.“
Tatsächlich sieht Hüseyin Y. so aus, als würde er von einer Last niedergedrückt. Apathisch wirkt er, oft fixiert der drahtige Mann stundenlang einen Punkt vor ihm auf dem Tisch, regungslos, mit gesenktem Kopf. Der Angeklagte, dem vorgeworfen wird, die Misshandlungen seiner Tochter tatenlos geduldet zu haben, scheint sich in Gedanken an einen anderen Ort wegtragen und so viel wie möglich von dem Geschehen ausblenden zu wollen. Auch die in Fotos dokumentierten und im Prozess gezeigten Qualen seines Kindes sollen nicht seinen emotionalen Schutzpanzer durchdringen. Mehrere Zeugen hatten den 26-Jährigen als zurückhaltend und liebevoll bezeichnet.
Melek Y.s Rechtsbeistand wirkt manchmal geradezu verloren
Die Verteidigerin von Melek Y. dagegen versucht den Vater als den Aggressor darzustellen, der offenbar sein Kind misshandelt habe – ganz auf der Linie der angeklagten Mutter, die ihren Noch-Ehemann in immer weiter ausufernder Dramatik der Verbrechen bezichtigt hat. Dass Hüseyin „ein Unschuldslamm“ sei, sei „widerlegt“, sagt Sultan Maden-Celik in ihrem Plädoyer. Yagmurs Mutter habe sich aus Angst vor der Gewalt des Ehemanns in Passivität geflüchtet. Für diese Version hat die Anwältin indes im Prozess wenige Argumente sammeln können. Maden-Celik, Fachanwältin für Familienrecht, hakt bei den Zeugenaussagen kaum nach. Eine verhaltene und dadurch manchmal etwas verloren wirkende Anwältin, auch dann, wenn Zeugen die Angeklagte als Mutter skizzieren, die ihr Kind ablehnte. Andere Strafverteidiger, die einen wegen Mordes angeklagten Menschen vor Gericht vertreten, versuchen häufig, die Glaubwürdigkeit von Zeugen durch bohrendes, hartnäckiges Nachfragen zu erschüttern. Sie dagegen bleibt still.
Überhaupt ist es trotz des gravierenden Vorwurfs des Mordes ein eher ruhiger Prozess mit nicht viel Konfrontation. Ein Verfahren, in dem sich der Wahrheit mit dem mühsamen Zusammensetzen eines Puzzles genähert werden muss. Monatelang hat sich der Vertreter der Staatsanwaltschaft, Michael Abel, in den Fall vertieft. Nicht bei jedem Zeugen, aber dann mit bestechender Hartnäckigkeit stellt der Ankläger präzise Fragen. Ihm ist es gelungen, ein beeindruckendes und eindringliches Plädoyer auszuarbeiten. Diesen Schlussvortrag hielt dann in Vertretung des erkrankten Abel eine andere Staatsanwältin, die durch Mitarbeit an der Vorbereitung und ihre Art des Vortrags keinen Zweifel daran ließ, dass sie im Verfahren ebenfalls zu Hause war.
Der Richter agiert souverän: mal bestimmt, mal einfühlsam
Souveränität zeichnet vor allem auch den Vorsitzenden Richter aus. Joachim Bülter, ein Richter mit jahrelanger Erfahrung in Prozessen um Mord und Totschlag, ist ein einfühlsam wirkender Mann, der mit pointierten Fragen die Aussagen der Zeugen begleitet. Der bei Schilderungen, die erkennbar nicht ganz dicht an der Wahrheit liegen, den Zeugen sehr bestimmt gegenüber tritt. Der aber freundlich und mitfühlend agiert, wenn es angebracht erscheint – so bei der Aussage von Inés M., in deren Obhut Yagmur mehr als zwei Jahre gelebt hatte. Die Pflegemutter hatte sich um das Mädchen gekümmert, als wäre es ihr eigenes Kind. „Yagmurs Tod brach mir das Herz“, sagte die 44-Jährige. Melek Y. bricht in Tränen aus, auf ihrem Gesicht machen sich rote Flecken breit, als Inés M. einen besonders schönen Moment schildert, als sie mit Yagmur und Melek auf einem Trampolin hüpfte. „Yagmur war gut drauf, und wir sprangen zu dritt“, sagt die frühere Pflegemutter. Yagmur habe gejuchzt vor Vergnügen.
Die Erinnerung an diesen unbeschwerten Moment scheint Melek Y. mehr zu schmerzen als die Schilderungen der Pflegemutter über die vielen blauen Flecke, die Yagmur offenbar nach Besuchen bei ihren Eltern aufwies. Höchstens vier Meter trennen die beiden Frauen. Sie wechseln keinen Blick. Inés M. ist kaum zu verstehen, während sie von den Verletzungen spricht, ihr Körper bebt. Melek Y. hingegen sitzt ruhig auf ihrem Stuhl, wischt sich mit dem Handrücken die Tränen weg. Beide Frauen weinen auf ihre eigene Art. Inés M., das ist offensichtlich, trauert. Und Melek Y.? Vielleicht liegt die Antwort in der Einschätzung, die der psychiatrische Sachverständige nach vier Gesprächen mit der Angeklagten gewonnen hat. Die 27-Jährige habe „kalt gewirkt“, erzählt der Gutachter im Prozess. Emotionalität und Empathie bei Melek Y. seien nur dann spürbar gewesen, „wenn es um ihre eigene Situation ging“ – und nicht um das Schicksal ihrer kleinen Tochter und die Qualen, die diese durchlitten hat.
Gut möglich also, dass sie sehr emotional reagiert – wenn am Dienstag das Urteil über sie gefällt wird.