Serie, Teil 3: Uwe Seeler wohnt am Winzeldorfer Weg zu sechst mit seiner Familie in einer kleinen Wohnung, ohne Warmwasser und Dusche. Aufbruchstimmung – und ein entscheidender Gang zum Rothenbaum.

Der 5. November 1936 ist ein heiterer Herbsttag. An der Ostküste der USA streiken die Hafenarbeiter, und in Sevilla stehen 6500 deutsche Soldaten der Hilfstruppe Legion Condor als Unterstützung von General Franco gegen die Republikaner in Spanien bereit. Nach mehr als 5,5 Millionen Arbeitslosen im Deutschen Reich vier Jahre zuvor sind jetzt noch 1,5 Millionen Menschen erwerbslos. In Hamburg geht der Alltag seinen gewohnten Gang – soweit man das sagen kann. Die Nazis haben das politische und administrative Heft fest in der Hand.

Die Hanseaten ahnen nichts von den Katastrophen, die alsbald über ihre Hansestadt, ihr Land, Europa und die Welt hereinbrechen. In den Kneipen am Baumwall und Vorsetzen diskutieren die Arbeiter mehr über Sport als über Politik. Zum Beispiel über Max Schmelings Triumph gegen den „Braunen Bomber“ Joe Louis vor gut vier Monaten in New York. Und: Überraschend hat Eimsbüttel die Meisterschaft des Gaus Nordmark vor Victoria und dem HSV gewonnen.

Doch HSV-Recke Erwin Seeler hat anderes zu tun an diesem Donnerstag: Nach Dieter und Gertrud bringt Ehefrau Anny in der Wohnung am Schnelsener Weg ein drittes Kind zur Welt. Uwe wird das Baby genannt. Zweiter Vorname: Erwin. Getauft sowie konfirmiert wird Uwe erst mal nicht – sondern erst kurz vor seiner kirchlichen Hochzeit im Februar 1959.

Der kleine Uwe wächst behütet und liebevoll auf. Durch Doppel- und Dreifachschichten im Freihafen hat sein Vater ein reelles Einkommen. Hinzu kommen seine erstklassigen Kontakte: Als Grande des HSV kennt der Ewerführer Gott und die Welt. Und vor allem den einen oder anderen Schlachtermeister, von denen einer ein guter Freund ist. Sehr früh lernt Uwe, was eine Raute ist: Schon als Kleinkind nehmen ihn seine Eltern mit ins Stadion an der Rothenbaumchaussee. Laut und lustig geht’s dort zu. Uwe liebt die Atmosphäre dort – von Kindesbeinen an.

Die Seelers leben zu sechst in einer Wohnung

Zu Hause am Winzeldorfer Weg führt Anny Seeler das Kommando. „Ich war der Zuckerjunge und wurde ordentlich verwöhnt“, erinnert sich Uwe Seeler. Und in Haus Nummer16, im vierten von sechs Stockwerken, mehr zur Frickestraße hin, wohnen die fünf Seelers. Sechs Personen teilen sich die kargen Räume. Ständiger Gast, weil ohne eigenes Zuhause, ist „Onkel Moni“, Mutter Annys Bruder. Dieser heißt Günther Wolf, wird von den Kindern jedoch nur „Onkel Moni“ genannt. Er schläft auf einer Bank in der ebenfalls winzigen Küche, manchmal auch auf dem kleinen Flur. Zusammenrücken ist angesagt.

Die drei Kleinen mögen den Mann, der bei Victoria nahe der Hoheluftchaussee im Tor steht. Manchmal darf Uwe mit zum Victoria-Sportplatz. Immerhin weist dieser die erste überdachte Tribüne Norddeutschlands auf.

Während Uwes Schwester Getrud alias Purzel im Schlafzimmer der Eltern nächtigt, schlafen Uwe und sein fünf Jahre älterer Bruder Dieter alias „Didi“ auf zwei Bettsofas in der Küche. Dort steht auch ein großer Kohlenherd, der zudem als Heizung fungiert. Hinzu kommen ein Tisch und sechs Stühle. Alles ganz normal für Eppendorf, das damals keineswegs „chic“ ist.

Es gibt weder warmes Wasser noch Dusche

Im Badezimmer gibt es weder warmes Wasser noch Dusche. In Kannen schleppt Mutter Anny heißes Wasser heran, wenn die Kinder in die Wanne müssen – nach festem Takt verläuft diese Prozedur. Anny hat reichlich zu scheuern und bürsten, damit die Sprösslinge wieder sauber werden. Denn darauf legen die Eltern enormen Wert. Zwar können die Klamotten geflickt oder genäht sein, wichtig sind Sauberkeit und Ordnung.

Schließlich sind die Seelers wer zwischen Martinistraße und Lokstedter Weg. Störung bringt neben elterlichen Abpfiffzeiten mit grundsätzlich viel, viel zu frühem Heimkommen vor allem die Einschulung am 1.April 1942. Uwe ist fünfeinhalb Jahre alt. Mehr als 30 Jungs sind in seiner Klasse versammelt. Im Sommer kommen die Jungs oft barfuß in die Schule. Das Schuhwerk muss für den Winter geschont werden. Naht die kalte Jahreszeit, fällt manchmal der Unterricht aus – keineswegs zur Betrübnis von Uwe und seinen Kumpels. Es gibt kaum Kohle zum Heizen, sodass es in den Räumen schlicht und ergreifend zu kalt ist. Erwachsene wie Kinder leiden unter Kälte und Hunger. Es sind erbärmliche Zustände.

Der Lütte verschafft sich Respekt

Gekickt wird trotzdem: Uwe darf bei den Großen mitspielen. Er dribbelt wie ein kleiner Weltmeister und erzielt die schönsten Tore. Wenn die Kapitäne der jeweiligen Straßenmannschaften zu Beginn der Bolzpartie ihre Spieler wählen dürfen und die Aufstellung ausknobeln, heißt es immer öfter: „Ich nehm den Lütten!“ Uwe ist gemeint. Zwischen den Trümmern werden Tore aus Backsteinen errichtet. Davon gibt es zuhauf.

Auf dem Grundstück eines zerstörten Hauses an der „Fricke“, in einer Höhle, errichten die Jungs ihr Klubhaus. Sie schichten eine Mauer auf, setzen ein Blechdach darauf. Es ist ein Traum, ein Mini-Refugium, das ausschließlich den Buttjes gehört.

Das Kriegsende im Mai 1945 wird als Erlösung begriffen. Endlich Frieden. Am 3.Mai 1945 hat der Hamburger Kommandant im Rathaus die Hansestadt an den britischen Brigadegeneral David Spurling übergeben. Uwe und die anderen dürfen wieder auf die Straße gehen. Staunend betrachten sie die englischen Soldaten, die allgegenwärtig sind. An jeder Haustür muss ein Zettel hängen, auf dem die Bewohner aufgelistet werden. Das wird kontrolliert. Durch die Tarpenbekstraße fahren Panzer; in der „Fricke“ verteilen britische Besatzer Schokoladentafeln von einem Lastkraftwagen. Auch Uwe langt zu.

Mit Bolzen auf der Straße ist jetzt Schluss, mien Jung

Weihnachten 1945 wird in ganz bescheidenem Rahmen begangen. Dass es für Uwe dennoch ein Fest wird, hängt mit einer Entscheidung des Familienrates zusammen, der aus drei Köpfen besteht: Anny, Erwin und Onkel Moni. Das Ergebnis, von Vadder verkündet: „Mit Bolzen auf der Straße ist jetzt Schluss, mien Jung. Du musst in einen richtigen Verein. Du musst zu unserem HSV.“

Gesagt, getan. Für Uwe beginnt das Jahr 1946 mit einem Gang, der sein Leben entscheidend prägen wird: An der Seite seines Vaters geht er zu Fuß von Eppendorf an die Rothenbaumchaussee, um die Mitgliedschaft zu beantragen. Der Junge kriegt einen richtigen Ausweis. Nummer 1725. Sie hat heute noch Gültigkeit. Ja, jetzt ist er eine Rothose. Uwe hat eine zweite Familie gefunden. Er wird sie niemals verlassen. Sein Glück ist unbeschreiblich.

„Uns Uwe“ – das Buch

Der Band „Uns Uwe – Ein Hamburger mit Herz“ würdigt den Aufstieg des blonden Buttjes aus Eppendorf zum Sportidol und Ehrenbürger seiner Heimatstadt. Titel, Volltreffer und Triumphe standen im Spannungsverhältnis zu bitteren Rückschlägen. In elf Kapiteln, auf 263 Seiten, beschreibt Autor Jens Meyer-Odewald ebenso lebendig wie einfühlsam einen einmaligen Werdegang. Es geht um den kleinen und großen Fußball, viel mehr aber um Seelers Wurzeln und Werdegang im Spiegel der Geschichte. Mehr als 100 Fotos, darunter bisher nicht veröffentlichte Motive aus den Privatalben der Familie Seeler, runden das Bild ab. Namhafte Zeitzeugen wie Angela Merkel, Helmut Schmidt und Olaf Scholz beteiligten sich mit Beiträgen an diesem Buch. Und natürlich kommen auch prominente Wegbegleiter wie Franz Beckenbauer, Günter Netzer, Gerd Müller, Willi Schulz oder Charly Dörfel ausführlich zu Wort.