Die junge Frau Sandra F. ist das Opfer von einer Gewalttat geworden. Seit dem Überfall kann die Hamburgerin Menschen kaum noch ertragen. DRK hilft ihr, das Trauma zu überwinden. Jahr registriert hat

Bergedorf. Früher hat sie sich mit Freunden zum Bowling getroffen, sie ist ins Theater gegangen und hat die Grillnachmittage für die Nachbarschaft organisiert. Ihr Leben war bunt. Sandra F., die ihren Nachnamen nicht in der Zeitung lesen möchte, war eine unternehmungslustige, gesellige Frau. Heute traut sie sich nicht in den Supermarkt, wenn dort zu viele fremde Menschen sind, und sie kann ihren Mitmenschen kaum die Hand geben, weil sie Berührungen nicht ertragen kann. Menschenansammlungen sind für sie eine Qual.

Sie muss das Leben neu lernen: Seit der Silvesternacht 2013 ist die 33-Jährige psychisch krank. Sie leidet unter Depressionen und Angstzuständen, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort war. Die junge Frau ist das Opfer von Gewalt geworden, von Körperverletzung, so wie 20.792 Menschen, die die Polizeiliche Kriminalstatistik für Hamburg im vergangenen Jahr registriert hat.

An das Silvesterfeuerwerk über der Binnenalster erinnert sich Sandra noch gut. Sie war von Bergedorf aus mit der Bahn in die Innenstadt gefahren, um sich mit ihrem Freund, der in der Nacht arbeiten musste, zu treffen. Am Jungfernstieg war sie ausgestiegen, hatte sich dort im Trubel der Menschenmassen das Feuerwerk angesehen, später fuhr sie zum Hauptbahnhof und wartete dort auf ihren Freund. Um zwei Uhr morgens wollten sie sich treffen. Es war gegen 1.40 Uhr, und der Bahnhof war gut besucht. „Ich stand dort, wo es hell war, damit mir nichts passiert“, erzählt Sandra.

Die Polizei konnte die Männer nicht mehr einholen

Sie hat eine leise, freundliche, Stimme. Die Helligkeit schützte sie aber nicht vor den Männern, die sie aus dem linken Augenwinkel auf sich zukommen sah. Was dann geschah, weiß sie nicht mehr. Ihre Erinnerung setzte erst wieder ein, als sie auf dem Fußboden im Hauptbahnhof lag. Eine Frau reichte ihr ein kaltes Tuch, meldete sich gleich als Zeugin. Der linke Ellenbogen schmerzte und war angeschwollen. Zwar waren Polizeibeamte innerhalb von zwei Minuten vor Ort, doch die Männer, die sie angegriffen und zu Boden geworfen hatten, konnten die Beamten nicht mehr einholen. Sie waren fortgerannt und sind bis heute nicht ermittelt.

Die Prellungen an ihrem Körper waren bald verheilt. Dass ihre Psyche diesen Übergriff nicht so leicht wegstecken konnte, spürte die gelernte Physiotherapeutin in der Nacht nach dem Übergriff: Ihr Körper reagierte mit heftigem Zittern und Weinen. Vier Wochen später hatte sie ihren körperlichen und seelischen Zusammenbruch. Sie hatte noch eine Patientin im Behandlungsraum, als sie einfach nicht mehr konnte und hinausrennen musste aus dem Raum.

In einem Nebenzimmer schloss sie sich ein, weinte, zitterte und musste sich übergeben. Seit Februar ist sie krankgeschrieben. Depressionen und Angstzustände lassen einen normalen Alltag gar nicht mehr zu. Sie mag keine Menschen anfassen und wird wohl nie wieder in ihrem alten Beruf arbeiten können. Mit ihrem damaligen Freund ist sie nicht mehr zusammen.

Sandra ist aus dem Leben gerissen

„Grundsätzlich ist ein Überfall geeignet, das Weltbild eines Opfers zu erschüttern“, sagt Boris Wolff vom Weissen Ring in Hamburg. Jeder Mensch gehe normalerweise davon aus, unbeschadet durch den Tag zu kommen. „Deswegen versuchen Opfer nach der Tat, die wenn auch scheinbare Sicherheit wiederherzustellen. Dies passiert dadurch, dass man Plätze meidet, die dem Tatort ähnlich sind.“ Gerade wenn man zufällig Opfer werde, fehlen Erklärungsmöglichkeiten, auf die man sich einstellen kann, die Verunsicherung werde dadurch noch größer. Wolff: „Werden auch die Täter nicht gefasst, ist hinsichtlich der Verunsicherung der Schaden demgemäß maximal.“

Die ehemals „schwer aktive Frau“, wie es ihr Betreuer Michael Buchmüller von der DRK-Begegnungsstätte in Bergedorf formuliert, „ist eine Frau geworden, die feststellen muss: Ich kann es nicht mehr. Und das führt zu depressiven Störungen.“ Sandra ist aus dem Leben gerissen. Eine Therapie hat sie von der Krankenkasse nicht bezahlt bekommen, sondern eine fachpsychiatrische Krankenpflege, die als Leistungsart von der Krankenkasse nur vier Monate befürwortet wird.

Im Anschluss hat sie eine ambulante Eingliederungshilfe bewilligt bekommen. „Beide Leistungen wurden von unserer Seite erbracht, sodass eine längerfristige Unterstützung gewährleistet ist“, sagt Buchmüller. Zu den psychischen Problemen kommt noch die Sorge darum, wie die eigene Heilung finanziert werden kann.

Man muss sich irgendwann mal zusammenreißen

Auch das musste Sandra lernen: Nach vier Monaten erwartet jeder, dass es nun auch gut sein müsse. „Nun lächle doch einfach mehr“, sagten Kollegen zu ihr. Im April hat ihre Chefin ihr gekündigt, weil die Zukunftsperspektiven so unklar seien. Das ist laut Arbeitsrecht auch möglich. Doch für Sandra war das noch einmal ein Stich. Einerseits. Andererseits sei es „allerdings auch befreiend, dort nicht mehr hingehen zu müssen“.

Bei psychischen Erkrankungen meinen viele, müsse man sich eben irgendwann einfach mal zusammenreißen. „Jetzt muss doch auch mal gut sein, ist so eine typische Reaktion von Außenstehenden“, weiß Michael Buchmüller, der Fachkrankenpfleger für Psychiatrie ist. Vielen fehle das Hintergrundwissen, und es herrsche eine Verdrängungsmentalität vor. Eine gewisse Zeit werde eine psychische Erkrankung akzeptiert, doch dann müsse es weitergehen. Ein Trugschluss.

In der DRK-Begegnungsstätte führt Sandra Gespräche mit Michael Buchmüller, sie nimmt an Kreativkursen teil, geht mit der Gruppe schwimmen. In der DRK-eigenen Kleingartenparzelle kümmert sie sich um Blumen und Gemüse. Vier Tage die Woche hat sie mit solchen Aktivitäten verplant, um eine Tagesstruktur zu haben und mit anderen in Kontakt zu treten.

Sandras altes Leben funktioniert nicht mehr

Zu Hause hat sie ihren Haushalt und Katze Lilli zu versorgen. Mehr geht im Moment nicht. „Sie muss wieder laufen lernen wie ein kleines Kind. Das Alte funktioniert nicht mehr, gewohnte Strukturen und Strategien müssen komplett neu gelernt werden“, so Buchmüller. So wie Sandra ihr altes Leben gelebt hat – Arbeit, Freizeitgestaltung – das alles funktioniert nicht mehr.

Ein Buch lesen, das geht noch nicht. Die Konzentrationsfähigkeit fehlt. Ohne Begleitung im Supermarkt einkaufen, das musste Sandra erst wieder lernen. Wenn der Supermarkt nicht so voll ist, dann klappt das auch schon genau wie kurze Fahrten mit dem Bus. Doch trifft sie auf zu viele fremde Menschen, bekommt sie schwitzige Hände, ihre Atmung wird schneller und sie nestelt an ihren Fingern. Sie ist dann hypernervös. „Ich bekomme das in fast allen Situationen, in denen es zu voll, zu eng, zu nah ist“, sagt sie.

Ihre Depression, die sich durch Müdigkeit, Antriebslosigkeit und Abgeschlagenheit äußert, hat Sandra mit Medikamenten so weit im Griff, dass sie zumindest nachts schlafen kann. Der Übergriff war ein traumatisches Erlebnis. Gerade nachts war sie immer wieder aufgewacht und sah sich am Hauptbahnhof auf dem Fußboden liegen. „Sie muss nun lernen zu leben und nicht nur zu funktionieren“, sagt Buchmüller.