Claus Kühn begann 1951 als Reporter im Bunker und stieg zum Studio-Hamburg-Chef auf. Jetzt feiert der Fernsehpionier seinen 90. Geburtstag. Rückblick auf eine glorreiche Ära.

Poppenbüttel. Es ist die Geschichte eines langen, intensiven Lebens, das bis zum heutigen Tag Glück und Erfüllung beschert. Es ist aber auch ein hervorragendes Beispiel für die Tugend, die Gunst der Stunde zu nutzen – wenn sie denn schlägt. Im beruflichen Werdegang des Hamburger Film- und Fernsehpioniers Claus Kühn gibt es mindestens zwei solcher Schlüsselmomente. Der 90. Geburtstag des NDR-Urgesteins und Weichenstellers der ersten Stunde an diesem Sonntag ist Anlass, Rückblick zu halten.

Es ist ein eigentlich gewöhnlicher Arbeitstag im Nachkriegsjahr 1951. Die Bundesrepublik ist gerade mal zwei Jahre alt. Claus Kühn, am 12. Oktober 1924 als Sohn des namhaften Journalisten Erich Kühn geboren und in Fuhlsbüttel aufgewachsen, ist gesund von der Kriegsfront heimgekehrt. Er hat sein Abitur nachgeholt und in Frankfurt Philosophie sowie Theologie studiert. Eigentlich will er Arzt werden, doch eröffnet die Welt der Medien spannende Perspektiven. Auf Zeilenbasis schreibt Claus Kühn für die Hamburger Freie Presse und für die Ressorts Feuilleton und Lokales der Hamburger Allgemeinen.

Nach Redaktionsschluss pflegt er zu Hause das Radio einzuschalten, ein Gerät wahrhaftigen Fortschritts. Besonders fasziniert ihn 1951 die vom Nordwestdeutschen Rundfunk (NWDR) produzierte Sendung „Ein Abend für junge Hörer“. Kühn lässt sich weder von Pförtnern noch resoluten Vorzimmerdamen abhalten, dringt zum verantwortlichen Redakteur durch und schlägt eine freie Mitarbeit vor. Es ist eine dieser Schlüsselszenen.

Testweise soll er eine Radioreportage aus dem Elsass machen. Dort reißen Studenten aus Protest gegen die Grenze Schlagbäume ein. Vorschuss, Fahrkarten oder ähnlichen Luxus gibt es nicht. Auf eigenen Faust und nur mit ein paar Markstücken schlägt sich der 26-Jährige in den Südwesten durch. Teilweise muss er Schwarzfahren. Der Mann weiß, was er will. Sein Bericht wird gesendet und in der Zeitung abgedruckt.

Diese Leistungsnachweise und ein hartnäckiges Naturell öffnen das Tor zum blutjungen Medium Fernsehen. Auf Monatsbasis heuert Kühn bei einer NWDR-Tochter an. In einem heute längst abgerissenen Bunker auf dem Heiligengeistfeld brechen eine Handvoll tatendurstiger Pioniere in die Zukunft auf. „Fernseh-Versuchsprogramm“ heißt das Projekt.

Die Ausrüstung ist bescheiden: zwei Kameras aus der Zeit der Olympischen Spiele 1936 in Berlin, drei Mikrofone, ein alter Flügel – aber jede Menge Elan. Fünf Spielfilme stehen zur Verfügung. Sie werden immer und immer wieder gezeigt. Vor 20 und nach 22 Uhr bleibt der Bildschirm dunkel. Ist ja eben ein Versuchsbetrieb.

Claus Kühn erledigt hinter den Kulissen alle nur möglichen Aushilfsarbeiten. So fabriziert er mit in einem Sieb kullernden Erbsen Regengeräusche oder imitiert pfeifenden Wind. Das Honorar fällt bescheiden aus. Dafür installiert er in seiner Wohnung auf der Uhlenhorst stolz wie Bolle einen der ersten Fernsehapparate. Gut 100 Hamburger besitzen einen solchen monströsen Wunderkasten. Via Antenne funktioniert das recht gut, viel zu sehen aber gibt’s auf dem Leihgerät noch nicht. Das „Puschenkino“, wie die Leute sagen, steckt noch in den Kinderschuhen. Die Deutschen gehen lieber ins Kino. Und Kino im Fernsehen? Noch undenkbar. 1956 verkaufen die Lichtspielhäuser bundesweit 817 Millionen Billetts.

Im Bunker auf St. Pauli jedoch macht das Fernsehen Karriere – Schritt um Schritt. Claus Kühn ist Zeitzeuge, als „Das Bild des Tages“ geboren wird, ein aktuelles Foto aus der Hansestadt. Neu ist zudem ein Liveteil von einer Viertelstunde täglich: Musik, Interviews, in Windeseile gezeichnete Karikaturen.

Ebenfalls im für Claus Kühn so entscheidenden Jahr 1951 darf er mit der NWDR-Crew zur Funkausstellung nach Berlin. Der Sendebetrieb in Hamburg wird für ein paar Tage eingestellt. Man verlädt die Technik auf einen Lkw. Und los geht’s.

In Berlin zeigen die Norddeutschen auf einer Bühne den Krimi „Es war der Wind“. Kühn schmeißt Laubblätter in die Szene – als sei es der Sturm. Bei einer Organisationspanne beweist er Mumm, bietet kurzentschlossen die Lösung an, ackert rund um die Uhr. Er schafft es tatsächlich. Wieder ein Schlüsselmoment. Die Chefs werden aufmerksam auf den einsatzfreudigen, kreativen Nachwuchsmann. Ende der 50er-Jahre wird Kühne zum Sendebetriebsleiter befördert. Es geht weiter voran.

1962 wechselt der Mann der ersten Hamburger Fernsehstunde als Prokurist zum Studio Hamburg nach Tonndorf. Ein Jahr später steigt er zum Geschäftsführer auf. Zuständigkeitsbereiche: Personal, Technik, Produktion, Kalkulation. Bis zu seinem Ruhestand 1984 steigt das Stammkapital des Unternehmens von 300.000 auf 40 Millionen D-Mark. Die Mitarbeiterzahl wächst von 250 auf 650.

„Es waren großartige Zeiten wahrhaftiger Pionierarbeit“, sagt Claus Kühn bei einem Glas Mineralwasser in seinem Appartement in einer Poppenbütteler Seniorenresidenz. Einen Großteil seiner Unterlagen und Fotos aus einer legendären Zeit stellte er dem Staatsarchiv zur Verfügung.

Geblieben sind Erinnerungen an eine glorreiche Ära. Drei Kinder, 13 Enkel und fünf Urenkel lauschen fasziniert, wenn Claus Kühn aus der Gründerzeit vor mehr als sechs Jahrzehnten berichtet. Besonders gut mitreden kann Sohn Thomas Kühn, der als Abteilungsleiter Vorabend-Magazin des NDR-Fernsehens Verantwortung trägt.

Kinners, was ist aus dem „Puschen-Kino“ von damals bloß geworden? Überwiegend Gutes, befindet das Geburtstagskind, aber nicht nur Gutes. Er kritisiert die „Überzeichnung der Unterhaltungssendungen“ und die Masse oft nichtssagender Talkshows.

Und wenn die Familie an diesem Sonntag den 90. Geburtstag groß feiert, ist es ein bisschen so wie früher: Die Mattscheibe bleibt schwarz.