„Rasterzellen“ helfen bei der räumlichen Orientierung, wie May-Britt und Edvard Moser herausgefunden haben. Für ihre Arbeit erhalten die norwegischen Hirnforscher nun den Nobelpreis für Medizin.
Hamburg. Der Untergang beginnt oft ausgerechnet in einer Hirnstruktur, die wohl eine zentrale Rolle für die räumliche Orientierung und das Gedächtnis spielt. Schon in einem frühen Stadium der Alzheimer-Krankheit sterben Nervenzellen im sogenannten entorhinalen Cortex ab, was vermutlich ein Grund ist, warum Betroffene immer wieder ihre Erinnerung im Stich lässt und sie sich verlaufen.
Bisher ist nicht zweifelsfrei geklärt, wie Alzheimer überhaupt entsteht. Dank des Forscherehepaars May-Britt und Edvard Moser wird allerdings immer deutlicher, wie jene betroffene Hirnstruktur funktioniert. Zumindest bei einigen Tierarten bilden dort Zehntausende Nervenzellen (Neuronen) durch ein raffiniertes Zusammenspiel ein Navigationssystem, das die Welt in ein feines Raster einteilt. Es lenkt die Tiere, lässt sie wissen, wo sie sich befinden und wohin sie gehen.
Die beiden Neurowissenschaftler aus Norwegen kamen diesem Mechanismus zunächst 2005 bei Ratten auf die Spur, aber inzwischen deutet einiges darauf hin, dass solche Zellen auch im menschlichen Gehirn existieren. Deshalb könnten die Erkenntnisse eines Tages dazu beitragen, Alzheimer-Patienten zu helfen. Aus diesem Grund, aber auch, weil sie das grundlegende Verständnis des Gehirns voranbringen, haben May-Britt Moser, 51, und ihr Mann Edvard, 51, zuletzt viel Lob von Kollegen bekommen. „Ich bewundere ihre Arbeit ungemein“, sagte etwa Neurowissenschaftler Eric Kandel der „New York Times“. Der emeritierte Nobelpreisträger verfolgt die Karriere der beiden Forscher schon seit deren Zeit als Studenten.
Mehrfach wurden die Mosers bereits für ihre Verdienste ausgezeichnet, vor Kurzem erhielten sie in Hamburg den mit 750.000 Euro dotierten Körber-Preis für die Europäische Wissenschaft. Nun erhalten sie gemeinsam mit dem Neurowissenschaftler John O’Keefe den Nobelpreis für Medizin.
Um die Würdigung zu verstehen, muss man sich die Herausforderungen der Disziplin klarmachen. Unser Denkorgan besteht aus schätzungsweise 100 Milliarden Neuronen. Ein Mäusegehirn ist mit 75 Millionen Nervenzellen zwar ungleich weniger aufwendig aufgebaut, aber immer noch ein ziemlich komplexer Kosmos.
Bisher können Forscher dem Gehirn meist nur oberflächlich bei der Arbeit zuschauen: Während ein Proband Bewegungen ausführt, ein Bild betrachtet oder sich neue Informationen merken soll, zeigen bildgebende Verfahren wie die funktionelle Magnetresonanztomografie, welche Hirnregion gerade aktiv ist. Durch solche Hirnscans ist relativ genau bekannt, welche Aufgaben die verschiedenen Strukturen erfüllen: Für das Wissensgedächtnis etwa, das neue Informationen speichert, ist der Hippocampus verantwortlich; der entorhinale Cortex, den die Mosers untersuchen, ist ein Nadelöhr, dass die meisten Signale auf dem Weg zum Hippocampus passieren müssen.
Weil Hirnscans nur bis zu ein Millimeter große Details erfassen, ist jedoch erst ansatzweise klar, wie Hirnregionen auf zellulärer Ebene arbeiten und kommunizieren. Anatomische Studien können zwar die Zusammensetzung der Zellen zeigen, aber nicht deren Aktivität. May-Britt und Edvard Moser gelang es mit Elektroden, die sie in die Gehirne ihrer Versuchstiere implantierten, Signale einzelner Hirnzellen einer Funktion zuzuordnen – der räumlichen Orientierung. Damit sei zum ersten Mal eine echte Denkleistung auf zellulärer Ebene nachgewiesen worden, schreibt die Körber-Stiftung.
Der Weg dorthin war mühsam. „Man braucht enorm viel Geduld“, sagt Edvard Moser. Es war 1988, May-Britt und er studierten Psychologie, als sie den Neurowissenschaftler Per Oskar Andersen überzeugten, sie als Master-Studenten aufzunehmen und damit den Grundstein für ihre Karriere legten. Damals konzentrierte sich die psychologische Forschung noch auf das Verhalten und Erleben, meist ohne die Hirnforschung einzubeziehen. „Wir wollten neurologische Erklärungen für bestimmte Verhaltensweisen finden, und wir waren überzeugt, dass dies möglich ist“, erzählt Edvard Moser.
Bereits 1971 hatte der Neurowissenschaftler John O’Keefe vom University College London in Experimenten herausgefunden, dass im Hippocampus von Ratten sogenannte Ortszellen (place cells) aktiv sind, Neuronen, die immer dann feuern, wenn Ratten in ihrer Umgebung auf prägnante „Landmarken“ treffen, etwa einen Futterplatz. Wahrscheinlich gibt es Ortszellen auch im menschlichen Gehirn. Die Mosers fanden O’Keeefes Erkenntnisse spannend, und nach dem Abschluss ihrer Doktorarbeiten 1995 durften sie ihn eine Zeit lang in London begleiten.
Auch bei ihren eigenen Experimente konzentrierten sie sich zunächst auf die Aktivität des Hippocampus, als sie 1996 an der Technisch-Naturwissenschaftlichen Universität Norwegens (NTNU) in Trondheim ihre ersten Stellen als Privatdozenten antraten. Woher kamen die Signale, die zu den Ortszellen flossen, bewegten sie sich von einer Region des Hippocampus zu einer anderen? Keine dieser Vermutungen stimmte, wie sich zeigte, vielmehr schienen die Informationen aus einer benachbarten Hirnregion einzutreffen, dem entorhinalen Cortex. Also platzierten die Mosers ihre Elektroden dort.
Während die Ratten durch ihre Box liefen, verstreute Futterstücke fressend, erfassten die Elektroden eine neue Art von Signalen, unabhängig davon, wo die Nager sich befanden. Es feuerten offenbar bestimmte Nervenzellen immer dann, wenn die Tiere eine bestimmte Entfernung zurückgelegt hatten. Als die Mosers diese Punkte mit Linien verbanden, wurde ihnen klar: Es ist ein Muster aus Dreiecken, die zusammen ein hexagonales Koordinatennetz bilden.
Die „Rasterzellen“, wie sie die Neuronen nannten, bilden eine mentale Karte, die den Ratten hilft, Abstände zu bestimmen. „Es ist so, als würden die Tiere mit den Rasterzellen in einer neuen Umgebung die Zahl ihrer Schritte messen“, erläutert Edvard Moser. In den folgenden Jahren fanden die Mosers heraus, dass im Rattenhirn mehrere Gruppen (Cluster) von Rasterzellen arbeiten, die wohl jeweils aus mindestens mehreren Zehntausend Neuronen bestehen.
Bereits vor dieser Entdeckung waren andere Forscherteams im sogenannten Subiculum im Hippocampus auf „Grenzzellen“ gestoßen, die feuern, wenn sich die Tiere einem Hindernis nähern, und auf „Kopfrichtungszellen“, die feuern, wenn der Kopf der Ratten in eine bestimmte Richtung weist. Die Mosers konnten 2008 zeigen, dass diese beiden Zelltypen auch im entorhinalen Cortex existieren.
Die Rasterzellen wurden von anderen Teams ab 2005 auch in Mäusen gefunden, danach in etwas anders aussehender Form auch in Affen und dann in Fledermäusen. 2013 berichtete ein US-Forscherteam von der Drexel University in Philadelphia, dass sie beim Menschen Hinweise auf eine „Raster-ähnliche neuronale Aktivität“ gefunden hätten. Die Wissenschaftler hatten 14 Patienten untersucht, denen im Rahmen einer Epilepsiebehandlung Elektroden implantiert worden waren.
Klar ist nun, dass die Rasterzellen zumindest bei Ratten zusammen mit den Grenz- und Kopfrichtungszellen ein Navigationssystem bilden und dass ihre Informationen zum Hippocampus fließen; unklar ist, wie genau die Rasterzellen die Ortszellen im Hippocampus informieren und umgekehrt. Fünf bis sieben Jahre werde es dauern, das herauszufinden, schätzt Edvard Moser. Das Preisgeld der Körber-Stiftung ist ihm und seiner Frau May-Britt dafür hochwillkommen.
Aus den Psychologiestudenten von damals sind zwei Spitzenforscher mit etwa 100 Mitarbeitern geworden. Nachdem sie nach Trondheim gekommen waren, gründeten sie 2002 an der NTNU das Centre for the Biology of Memory, 2007 das Kavli Institute for Systems Neuroscience und 2013 das Centre for Neural Computation. Geheiratet hatten sie 1985 als Studenten; 1995, beim Abschluss ihrer Doktorarbeiten, hatten sie bereits zwei Töchter.
Wie schafft man das, auch beruflich so lange zusammen erfolgreich zu sein, geht einem der andere nicht auch einmal auf die Nerven? „Nein“, sagt Edvard Moser und lacht. „Es ist so ähnlich wie mit der Erziehung von Kindern: Man mag bei einigen Dingen unterschiedlicher Meinung sein, aber letztendlich findet man einen Weg.“
Kompromisse macht das Ehepaar Moser auch privat, zum Beispiel im Urlaub. May-Britt Moser wuchs auf der Insel Bergsøya an der norwegischen Westküste auf; sie liebt den Strand und das Meer. Ihren Mann Edvard, geboren in der Stadt Ålesund, zieht es vor allem in die Berge, zu Vulkanen, und er mag auch Wanderungen durch Regenwälder. „Zu unseren Reisen gehört deshalb oft zweierlei“, erzählt Edvard Moser: „Ein bisschen Berge, ein bisschen Meer – das macht uns beide glücklich.“