Körber-Preisträger Immanuel Bloch studiert das Verhalten winziger Teilchen – mithilfe von Laserstrahlen. Die Ergebnisse könnten verlustfreie Stromleitungen oder neuartige Computer möglich machen.
Hamburg Immanuel Bloch ist ein Freund der Käfighaltung. Anfeindungen muss der Physiker allerdings nicht befürchten, denn in seinen Gefängnissen hausen keine Hühner, sondern Partikel, bei denen man Leidensdruck wohl ausschließen darf: Atome, die Bestandteile der Materie. Sterne, Planeten, wir Menschen, Küchentische, all das besteht aus diesen Teilchen, die jeweils zehn Millionstel Millimeter klein sind und sich aus noch viel kleineren Elementarteilchen wie Elektronen und Quarks zusammensetzen.
Der Aufbau dieser Materie ist klar, und die Grundkräfte, die zwischen einzelnen Teilchen wirken, sind von Physikern hinreichend beschrieben worden. Auch mit Lichtteilchen (Photonen) beschäftigen sich Forscher schon lange. Auf den Erkenntnissen fußen bahnbrechende Entwicklungen wie Atomuhr, Kernspintomograf und Laser. Einige Phänomene sind jedoch immer noch rätselhaft. „Wir verstehen teilweise nicht, auf welche Weise viele Teilchen zusammen agieren, wie aus ihrem mikroskopischen Wechselspiel ein makroskopisches Verhalten wird“, sagt Bloch.
Ein Beispiel sind bestimmte Festkörper, die Strom – also Myriaden von Elektronen – ohne Verluste leiten können. Sie verlieren ab einer Temperatur von minus 135 Grad Celsius ihren elektrischen Widerstand. Trotz der Minusgrade werden sie paradoxerweise Hochtemperatur-Supraleiter genannt. Warum sie ohne Verluste leiten, ist mehr als 26 Jahre nach der Entdeckung dieser Materialien immer noch unklar. Bisher werden sie erst in wenigen Hightech-Anwendungen eingesetzt, weil sie aufwendig gekühlt werden müssen. Und in normalen Stromleitungen bleibt bisher ein Teil der Energie wegen des elektrischen Widerstands auf der Strecke. Ein Supraleiter, der bei Raumtemperatur funktionierte, Leitungen, durch die Strom ungehindert flösse – „das würde enorme Energieeinsparungen ermöglichen und etliche Anwendungen vereinfachen“, sagt Bloch.
Am Max-Planck-Institut für Quantenoptik bei München sperrt der Professor seine Studienobjekte in winzige Käfige, deren Gitter aus Laserstrahlen bestehen. In diesem künstlichen Knast, der mit einer Ausdehnung von einem Zehntel Millimeter kleiner ist als ein Stecknadelkopf, kann Bloch die Bewegung jedes einzelnen Atoms beobachten; er kann den Zirkus selbst gestalten, er kann die Artisten „fotografieren“. Es handelt sich um „die einfachste Darstellung bestimmter Strukturen in einem Festkörper“, wie Bloch sagt – doch er glaubt, dass sich die Ergebnisse auf echte Festkörper übertragen lassen.
Für seine Arbeit erhält der 40 Jahre alt Forscher morgen in Hamburg den mit 750.000 Euro dotierten Körber-Preis für die Europäische Wissenschaft. Bloch habe ein neues Forschungsgebiet an der Schnittstelle von Quantenoptik, Quanteninformationsverarbeitung und Festkörperphysik eröffnet, begründet die Hamburger Stiftung ihre Wahl. Welchen Stellenwert der Preis hat, zeigt der Umstand, dass von den zuletzt Geehrten zwei Forscher später den Nobelpreis bekamen.
Bei einem späteren Nobelpreisträger begann Immanuel Blochs Karriere: Nach seinem Studium in Bonn und einem Forschungsaufenthalt in Stanford promovierte er bei Theodor Hänsch an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Seit 2009 hat Bloch dort selbst einen Lehrstuhl inne; am Max-Planck-Institut für Quantenoptik ist er wissenschaftlicher Direktor.
Phänomene wie die Hochtemperatur-Supraleitung könnten mit sogenannten Quanteneffekten zu tun haben, die in der Welt der kleinsten Teilchen auftreten. Auf mikroskopischer Ebene verhalten sich Atome und Elementarteilchen nämlich ganz anders, als wir es aus unserem Alltag von Materie – die ja aus Atomen besteht – kennen. Ein Fußball kann nur in ein Tor rollen, aber nicht in zwei Tore gleichzeitig. Einzelne Atome hingegen können dank ihrer Eigenschaften als sogenannte Quanten mehrere Zustände gleichzeitig einnehmen: Sie können in einem Grundzustand und einem angeregten Zustand sein. Sie können etwa für 0 und 1 stehen, die beiden Zeichen des digitalen Alphabets, und deshalb vielleicht Quantencomputer möglich machen, die mit extrem vielen Zahlen parallel rechnen – und so in Minuten Aufgaben erledigen, mit denen die besten Supercomputer etliche Jahre beschäftigt wären.
Mit dem Verstand ist das schwer zu begreifen, aber Experimente zeigen, dass diese scheinbar paradoxen Erscheinungen real sind. Der Doppelspaltversuch etwa beweist, dass Partikel auf mikroskopischer Ebene sowohl Teilchen als auch Welle sein können. Dabei trifft Licht auf eine Blende mit zwei schmalen, parallelen Spalten. Die dahinter montierte Fotoplatte zeigt, dass einzelne Lichtteilchen (Photonen) gleichzeitig durch beide Spalten gedrungen sein müssen, weil sie sich als Welle bewegt haben. Bei einem ungleich größeren Objekt aus Materie, etwa einem Fußball, ginge das nicht: Er könnte – gequetscht – nur durch einen der beiden Spalte dringen.
Die Theorie der Quantenmechanik beschreibt solche Effekte. Auf ihrer Grundlage könnten Forscher prinzipiell berechnen, wie sich Teilchen in einem Festkörper unter bestimmten Bedingungen verhalten sollten. Praktisch sei dies derzeit aber ab einer bestimmten Menge von Teilchen nicht einmal mit den schnellsten Supercomputern möglich, sagt Bloch. Zur Erläuterung gibt er ein Beispiel aus dem Alltag: In einem Raum mit 300 Menschen holt sich ein Mann ein Getränk an der Bar. Anschließend will er sich wieder unter die anderen Menschen mischen und stößt dabei mit jemandem zusammen.
Mit den klassischen Gesetzen der Physik lässt sich berechnen, wie sich dieser Stoß auf alle anderen Personen im Raum überträgt. In der Quantenwelt kann sich etwa ein Elektron (in dieser Analogie der Mann) unter Umständen aber gleichzeitig in alle Richtungen des Raumes bewegen, und andere Elektronen (die anderen Menschen in dem Raum) können dies auch. „Schon bei 300 Elektronen sind so viele Konfigurationen möglich, dass es hoffnungslos wäre, dies mit einem Supercomputer berechnen zu wollen", sagt Bloch.
Einige Wissenschaftler versuchen, sich mit Berechnungen der Realität zumindest zu nähern; andere wie der in Hamburg forschende Physiker Andrea Cavalleri studieren reale Materialien, die womöglich als Supraleiter taugen, indem sie die Festkörper zuerst mit Laserstrahlen anregen, so dass Atome in einer bestimmten Weise in Bewegung geraten. Anschließend „fotografieren“ sie die Teilchen. Dazu erzeugen sie Lichtblitze, die kürzer als ein Millionstels einer Millionstelsekunde dauern – und damit kürzer sind als die Zeit, die Atome für ihre Bewegungen brauchen.
Immanuel Bloch verfolgt einen anderen Ansatz, der auf einer Idee des US-Physiker Richard Feynmann beruht. Festkörper bestehen aus Kristallstrukturen; ihre Festigkeit entsteht durch die Bindung zwischen den Atomen. Festkörper lassen sich auf atomarer Ebene aber nicht mal eben so herrichten, wie es sich Forscher wünschen. „Es gibt keinen Knopf, um die Kristallstruktur schnell zu ändern“, sagt Immanuel Bloch. Deshalb stellt er den Aufbau mit Gas nach, das er in eine Vakuumkammer leitet. Weil die Gas-Atome sich bei Raumtemperatur so schnell bewegen, dass sie nicht kontrollierbar sind, kühlt Bloch sie bis auf fast minus 273,15 Grad ab, den absoluten Nullpunkt.
Dann errichtet er mit Laserstrahlen Gitter, die eine Art Käfig bilden und die Kristallstruktur in Festkörpern nachbilden. Bloch vergleicht den Versuchsaufbau mit einem winzigen Eierkarton, der Mulden und Spitzen hat. „Die Atome sind gewissermaßen unsere Eier, die wir in diese Landschaft legen können“, erläutert Bloch. „Sie bewegen sich von einer Mulde zur nächsten, sie wechselwirken miteinander, sie stoßen sich ab oder ziehen sich an.“
Erkennen lassen sich die Teilchen, weil der Abstand zwischen den Mulden des künstlichen Systems 10.000 Mal größer ist als der Abstand von Atomen in einem Festkörper. „Es handelt sich um ein tausendfach vergrößertes Modell eines Kristalls, in das wir wunderbar hineinschauen können“, sagt Bloch. Zudem dauere die Bewegung der Atome „nur“ tausendstel Sekunden und verlaufe damit erheblich langsamer als in einem Festkörper. Damit die Forscher einzelne Atome mit einem hochauflösenden Lichtmikroskop abbilden können, regen sie die Teilchen mit einem Laserstrahl an. „Dann leuchten sie auf wie winzige Glühbirnen“, sagt Bloch.
Inwieweit der Physiker mit seinen Erkenntnissen die Forschung erleuchten wird, bleibt abzuwarten. Der Preis der Körber-Stiftung soll ihn beflügeln.