Nach dem Zoff zwischen Katja Suding und Sylvia Canel geht die politische Auseinandersetzung weiter. Ein Streitgespräch über die FDP und die neu gegründete Abspaltung „Neue Liberale“.

Hamburg. Mit Katja Suding und Sylvia Canel wäre so eine Fahrstuhlfahrt wohl nicht möglich gewesen. Die Hamburger Fraktionsvorsitzende und die kürzlich ausgetretene, frühere Landesvorsitzende der FDP wären vermutlich nicht einmal in denselben Aufzug eingestiegen, so sehr wie sie seit Monaten ihre gegenseitige Verachtung ausleben.

Bei Dieter Lohberger und Najib Karim ist das anders. Der kommissarische FDP-Chef und der FDP-Aussteiger und Gründer der Partei „Neue Liberale“ flachsen und witzeln bei der Fahrt in den siebten Stock, und auch beim Fotoshooting auf dem Dach merkt man, dass sie ein freundschaftliches Verhältnis pflegen. Eine gute Grundlage für ein Gespräch, das sich nicht nur um persönliche Befindlichkeiten, sondern um die FDP, um Politik und die Krise des Liberalismus drehen soll.

Hamburger Abendblatt: Herr Karim, Sie waren lange in der FDP aktiv, sind dann ausgetreten und haben in dieser Woche die Partei „Neue Liberale“ gegründet, mit der Sie bundesweit antreten wollen. Ist das nicht ein, sagen wir: irreführender Name?

Najib Karim: Warum?

Man könnte neuliberal als neoliberal interpretieren, aber Sie wollen doch sozialliberal sein, nicht marktradikal.

Najib Karim: Bisher kommt der Name gut an. Wir haben das unter den Gründungsmitgliedern eingehend beraten. Wir sehen uns in der Tradition des „New Liberalism“, von dem Vorläufer des Sozialliberalismus. Dessen Vertreter wollten Ende des 19. Jahrhunderts im Zuge der Industrialisierung weg von der reinen Verteidigung bürgerlicher Privilegien und stattdessen die gesamte Gesellschaft in den Blick nehmen. Heute geht es natürlich nicht um die Anpassung an die Industrialisierung. Wir wünschen uns einen Liberalismus, der Antworten auf Globalisierung und Digitalisierung findet. Dabei geht es auch darum, die reine Marktfixierung der FDP zu überwinden und dafür die anderen Aspekte des Liberalismus stärker zu betonen: das Soziale und vor allem den Einsatz für Chancengerechtigkeit.

Kurzform der neuen Partei ist „Liberale“, Herr Lohberger, muss Herr Karim mit einer Klage rechnen, weil er Ihrer FDP das Etikett geklaut hat?

Dieter Lohberger: Ich glaube nicht, dass das vor Gericht geht. Wir freuen uns nicht über Austritte, aber wir sagen: Konkurrenz belebt das Geschäft. Vielleicht bringt diese neue Partei indirekt auch der FDP neuen Schwung. Wir nehmen diese Herausforderung an.

Nun sind ja nicht irgendwelche Mitglieder zur neuen Partei übergetreten, sondern die Parteivorsitzende Sylvia Canel und Herr Karim, der im Landesvorstand saß und Europa-Kandidat war. Außerdem der frühere Zweite Bürgermeister Dieter Biallas, ein Urgestein der Hamburger FDP.

Lohberger: Natürlich ist das ein großer Schnitt, auch für uns. Aber das ist letztlich die Entscheidung derjenigen, die gehen. Wir als FDP Hamburg müssen jetzt nach vorne sehen. Und momentan ist die Stimmung ganz gut bei uns.

Liegt das daran, dass der Kleinkrieg zwischen Canel und Suding durch die Parteispaltung beendet ist?

Lohberger: Natürlich war das ein Problem für die Partei. Für Frau Canel kann ich nicht sprechen. Ich kann nur sagen: Nach ihrem Austritt ist bei der FDP Ruhe eingekehrt. Die Zusammenarbeit zwischen Frau Suding und mir als Landesvorsitzenden klappt sehr gut.

Herr Karim, ist es für Sie ein Problem, dass Ihre neue Partei nun als Ergebnis einer persönlichen Fehde wahrgenommen wird? Zumal Frau Canel, die jetzt Schatzmeisterin bei Ihnen ist, bisher nicht für einen sozialliberalen Flügel stand.

Karim: Wir sind nicht eine Reaktion auf einen lokalen, persönlichen Konflikt in Hamburg. Wir sind eine Reaktion darauf, dass die FDP den Liberalismus nicht mehr so repräsentiert, wie wir ihn verstehen. Wir haben uns als Bundespartei gegründet, in unserem Gründungsvorstand sitzen mehrheitlich Menschen, die vorher nicht in Parteien aktiv waren. Neben früheren Grünen und Piraten sind auch Sozialliberale bei uns, die 1982 aus der FDP ausgetreten und seither heimatlos waren. Sie kommen aus dem gesamten Bundesgebiet.

Ist es denn dann klug, dass Frau Canel gleich wieder eine Führungsrolle in der neuen Partei übernimmt?

Karim: Frau Canel ist eine von 24 gleichberechtigten Mitgliedern des Gründungsvorstandes. Für uns ist es wichtig, eine gute Mischung hinzukriegen von Leuten, die Erfahrung mit der Organisation einer Partei haben, und solchen, die sich mit ganz viel Enthusiasmus aber wenig Erfahrung einbringen.

Und doch wirkt die Partei wie eine Abspaltung der FDP.

Karim: Wir verstehen uns als eine Sammlungsbewegung für einen neuen Liberalismus, der den Menschen wieder in den Mittelpunkt der Politik rückt.

Wie gefährlich sind die Neuen Liberalen für die FDP, Herr Lohberger?

Lohberger: Jeder Mitbewerber schwächt einen ein wenig. Da diese Partei aber erst einmal als Bundespartei antritt, sehe ich für uns in Hamburg noch nicht so große Probleme.

Karim: Wir schließen nicht aus, bei der Bürgerschaftswahl anzutreten.

Lohberger: Gut, so oder so: Für die FDP ist das Ganze ein Weckruf. Wir müssen jetzt einig sein und kämpfen. Die Fraktion macht in der Bürgerschaft eine anerkannt gute Arbeit. Wir bringen jetzt das Wahlprogramm auf den Weg ...

Karim: ... in dem nicht ein Wort zum Thema Soziales steht.

Lohberger: Doch, jetzt ja.

Karim: Ja, der Vorstand hat das jetzt vielleicht per ordre de mufti da noch reingeschrieben. Aber es ist doch symptomatisch, dass Sozialpolitik erst einmal komplett vergessen wurde.

Muss denn die FDP nun auch zur Partei der Sozialen Gerechtigkeit werden? Noch eine sozialdemokratische Partei, wo doch sowieso fast alle irgendwie sozialdemokratisch sind?

Lohberger: Nein, die FDP legt nach wie vor ein großes Gewicht auf die Leistungsbereitschaft des Einzelnen. Das ist der Kern unseres Menschen- und Gesellschaftsbildes. Der Staat soll nicht alles regeln, die Menschen können sich viel besser entfalten, wenn sie selbst Verantwortung für sich übernehmen. Dazu gehört auch die Feststellung, dass nur verteilt werden kann, was erwirtschaftet wird. Deswegen darf man Leistungsträger auch nicht überlasten durch zu hohe Steuern und Abgaben oder zu starke Regulierungen. Ich glaube, dass unsere Probleme nicht damit zu tun haben, dass wir dieses Programm haben – denn damit haben wir ja 2009 unseren größten Wahlerfolg eingefahren. Sie haben damit zu tun, dass wir Teile unserer Wahlversprechen nicht umgesetzt haben. All das heißt aber nicht, dass wir als FDP für soziale Kälte stehen.

Das ist zuletzt wohl nicht mehr so wahrgenommen worden. Da war der Westerwelle-Ausspruch von der „römischen Dekadenz“ eines Landes, in dem viele ohne Arbeit Geld einfordern ...

Lohberger: ... das war eine ziemlich blöde Aussage von ihm, die uns bis heute an den Hacken klebt ...

... und dann kürzlich die Forderung, man solle das Sozialticket für sozial Schwache abschaffen und für das Geld Straßen bauen.

Lohberger: Das hat ein einzelner Abgeordneter in Nordrhein-Westfalen gesagt ...

Karim: ... der zufällig auch Bundesvorsitzender der FDP ist und Christian Lindner heißt.

Lohberger: Ja, gut, trotzdem distanziere ich mich davon, das ist wirklich nicht der richtige Umgang mit sozial Schwachen. Ich finde das falsch. Aber ich will doch noch einmal sagen, dass diese neue Partei in Hamburg im Grunde gar nicht gebraucht wird. Denn die FDP selbst steht hier für eine sozialliberale Politik. Wir wollen eine Koalition mit der SPD von Olaf Scholz. Wir wollen ihm zum Beispiel in Sachen Haushaltsdisziplin auf die Finger schauen. Eine SPD-FDP-Regierung in Hamburg würde klassische sozialliberale und gute Politik machen. Wir können nämlich schon gute Arbeit vorweisen und sind für sozialliberale Politik die bessere Alternative.

Karim: Das bezweifle ich. Die FDP krankt nämlich auch daran, dass sie verkrustet ist und sich nicht erneuert. Zwei Drittel der Hamburger FDP-Mitglieder haben für die Abschaffung des Delegiertenprinzips gestimmt und dafür, dass künftig Mitgliederversammlungen entscheiden. Aber die Delegierten weigern sich einfach, das umzusetzen. Das muss man sich mal vorstellen.

Lohberger: Ja, das ist unschön. Ich hoffe, wir ändern das beim Parteitag.

Karim: Das ist übrigens ein großer Unterschied zwischen der FDP und den Neuen Liberalen: Bei uns sollen alle Mitglieder mitmachen. Wir haben ein System etabliert, das Teilhabe ermöglicht, ohne dass das Ganze im Chaos endet wie bei den Piraten – oder in Kungeleien wie bei der FDP. Wir wollen zum Beispiel Satellitenparteitage einrichten, bei denen es Live-Übertragungen an andere Orte gibt. Dort sollen die Menschen mit abstimmen können. Das ermöglicht auch Mitgliedern die Teilhabe, die nicht genug Zeit oder Geld haben, zu einer Mitgliederversammlung zu reisen.

Das ist mehr ein formaler Unterschied zur FDP.

Karim: Ja, aber es ist trotzdem wichtig. Sie können doch nicht sagen, Sie wollen mehr demokratische Elemente in die Gesellschaft einbringen, und das als Partei selbst aber nicht umsetzen.

Inhaltlich sehe ich immer noch keine gravierenden Unterschiede. Auch die Neuen Liberalen schreiben im ersten Grundsatzpapier, dass sie „dem Leistungsvermögen und der Leistungsbereitschaft jedes Einzelnen vertrauen“. Das könnte Herr Lohberger sicher locker unterschreiben.

Lohberger: Stimmt.

Karim: Uns geht es ganz zentral darum, mit einer starken Gesellschaftspolitik möglichst allen Menschen Chancen zu ermöglichen, Arbeitslosen und Unternehmern. Es geht zwar in diesem Land zum Glück sehr vielen Menschen gut. Aber es gibt auch viele, denen es gar nicht möglich ist, ihr Leistungsvermögen einzubringen. Viele sind von den Freiheiten ausgeschlossen, die diese Gesellschaft eigentlich allen bieten sollte. Das sind zum Beispiel Flüchtlinge, Migranten, Menschen mit Behinderungen, alte Menschen, zunehmend auch Familien, aber auch Berufsstarter. Auch hier sind Potenziale für unsere Gesellschaft.

Und was wollen Sie dagegen tun?

Karim: Da gibt es mehrere Instrumente, zum Beispiel ist uns das Thema Bürgergeld wichtig ...

Also eine Art Grundeinkommen, bei dem alle Sozialleistungen gebündelt werden. Jeder bekäme dann zwischen 600 bis 800 Euro.

Karim: ... ja, das ist auch von der FDP immer gefordert worden. Aber wie so vieles ist auch das nie umgesetzt worden. Die Bündelung der Sozialleistungen hätte viele Vorteile. Jeder würde das Geld bekommen und es würde dann je nach Einkommen verrechnet. Damit gibt es auch keine Stigmatisierung zum Beispiel von Hartz-IV-Empfängern.

Lohberger: Das Bürgergeld ist ja eine FDP-Erfindung. Das fordern wir schon ewig. Aber ich will da jetzt auch nicht schon wieder etwas fordern. Wir müssen erst einmal insgesamt Glaubwürdigkeit zurückgewinnen. In Hamburg sind wir aufgrund der Arbeit der Fraktion da ja auf einem guten Weg.

Karim: Ich finde nicht, dass die FDP glaubwürdige Großstadtpolitik in Hamburg machen kann. Es leben hier 30 Prozent Menschen mit Migrationshintergrund – in der FDP gibt es weder auf der Bürgerschaftsliste noch im Vorstand jemanden mit Migrationshintergrund. Die Hälfte der Menschen sind bekanntlich Frauen. Bei den FDP-Funktionsträgern bekommt man diese Quote nicht annähernd hin. Auch die Mischung von Jung und Alt stimmt in der FDP nicht. Bei den Neuen Liberalen haben wir dagegen einen Querschnitt, der die Gesellschaft ziemlich gut widerspiegelt.

Meine liberalen Herren: Was würden Sie als Erstes ändern, wenn Ihre Partei in Hamburg mitregieren könnte?

Karim: Das müsste ein noch zu gründender Landesverband entscheiden. Ich persönlich finde: Wir müssen zusätzliche Perspektiven zum Hafen schaffen. Irgendwann können wir die Elbe nicht mehr vertiefen. Wir sollten den Fachkräftemangel ernst nehmen. Wir brauchen eine tief gehende Strukturreform all unserer Hochschulen und einen Ausbau der Studienplätze. Wir wollen eine Gründerzeit für Hamburg ermöglichen. Und Hamburg braucht eine Ausbildungsoffensive für Erzieher und Erzieherinnen.

Lohberger: Der Hafen ist der Motor, und dieser Motor muss laufen, dafür steht die FDP. Die Elbvertiefung muss endlich energisch vorangetrieben werden. Außerdem sollten wir unsere Metropolregion noch stärker in den Blick nehmen – und dabei durchaus auch weiter in Richtung Nordstaat denken