An den Wochenenden sorgen feiernde Jugendliche häufig für Polizeieinsätze – insgesamt 212 mal seit März 2012. Warum der Jungfernstieg zum ultimativen Treffpunkt avancierte, ist nicht ganz klar.

Hamburg. Kaum ist die Sonne untergegangen, schnellen Puls und Promille hoch. Druckbetankung am Jungfernstieg. Je später der Abend, desto mehr junge Leute strömen zum Alsterdampfer-Anleger am Jungfernstieg, zwischendurch hört man immer wieder den Motor eines aufgemotzten Autos aufheulen. Am Sonnabendabend haben sich trotz des mäßigen Wetters etwa 100 Teenager und Heranwachsende hier versammelt, an lauen Sommerabenden sind es gut doppelt so viele. Zwei-Liter-Plastikflaschen, gefüllt mit billigen Alkoholmischgetränken, machen die Runde. Es wird getrunken und gefeiert. Für drei Teenager aus der Vorstadt, zwei sind 16, einer erst 14 Jahre alt, ist der Abend bereits um 21.30 Uhr gelaufen. Eine Streife vom Polizeikommissariat 14 (PK 14) hat sie mit 1,5 Liter Apfelkorn erwischt. „Routinemäßig rufen wir die Eltern an, und die holen dann ihre Kinder ab“, sagt ein Beamter.

Der Jungfernstieg und die nähere Umgebung sind an Wochenenden längst zum festen Treffpunkt junger Leute geworden. Mit diesem Umstand hängt eine ganze Reihe „jugendtypischer Verfehlungen“ zusammen, die Passanten, Gastronomen und Geschäftsleuten übel aufstoßen: Pöbeleien, Rangeleien, Sachbeschädigungen, Lärmbelästigungen.

Für die Polizei, insbesondere für die zuständige Innenstadtwache, das PK 14, ist die Szene am Jungfernstieg ein Dauerbrenner. Unter dem Rubrum „Schwerpunkteinsatz Binnenalster“ absolvierten die Beamten zwischen Mitte März 2012 und Ende Juli dieses Jahres 212 Einsätze, vornehmlich freitags und sonnabends, wie aus der Senatsantwort auf eine Anfrage des CDU-Bürgerschaftsabgeordneten Christoph de Vries hervorgeht. Dabei wurden regelmäßig die Bereitschaftspolizei, die Reiterstaffel, Polizeihunde, Beamte des Jugendschutzes und Verkehrspolizisten eingesetzt. Mittlerweile sei das Problem keines mehr, sagt eine Sprecherin: „Durch die bisher getroffenen und weiter fortgeführten zielgerichteten Maßnahmen“ habe sich die Situation positiv entwickelt. Zudem sei die Zahl der Beschwerden 2014 stark zurück gegangen. Auf den steinernen Stufen vor dem Alsterdampfer-Anleger hingegen kümmert man sich um solche Aussagen nicht. Hier wird weiter ordentlich und zuweilen auch handfest gefeiert.

Gegen 22 Uhr ist der Platz deutlich voller, viele Jugendlichen sind es auch – betrunken, aber friedlich. Ein 20-Jähriger hat es sich mit einem Freund auf einem der Sitzplätze am Alsterdampfer-Anleger bequem gemacht, der Platz ist aufgebaut wie eine Tribüne, Erste-Klasse-Panorama und Blick auf die Alsterfontäne inklusive. Neben ihnen stehen – zum Mixen bereit – eine Flasche Weinbrand und eine Flasche Cola. „Wir glühen hier günstig vor, danach geht es auf die Reeperbahn“, sagt er. Warum ausgerechnet am Jungfernstieg? „Na, hier ist die Atmosphäre am besten“, sagt er. Andere wiederum zieht es zur Prachtstraße, weil am Apple Store das W-LAN kostenlos ist. Vor dem Laden hocken zahlreiche junge Männer, die unablässig auf der Tastatur ihrer Smartphones herumhacken, sich aber offenbar nicht viel zu sagen haben.

Vor wenigen Jahren hat die Stadt den Jungfernstieg für 16 Millionen Euro neu gestaltet. „Jetzt sieht es hier besonders am Wochenende aus wie nach einer Abbruchparty“, sagt Larry Cancian, 26, Juniorchef des Bistros Mio. In den warmen Monaten wiederhole sich das Schauspiel jeden Freitag und Sonnabend. Er berichtet von zerstörten Tischen, Stühlen, eingeworfenen Fenstern, von Jugendlichen, die an seinen Eiswagen pinkeln, von Wodkaflaschen und Essensresten, die überall herumliegen. Nicht selten zur vorgerückten Stunde seien viele Jugendliche betrunken, verhielten sich aggressiv. „Wenn ich dann abschließe und nach Hause gehe, habe ich manchmal Angst“, sagt er.

Gemessen an dem, was dort wirklich vorfällt, scheint am Jungfernstieg aber in erster Linie das subjektive Sicherheitsgefühl Außenstehender betroffen zu sein. So haben Polizisten am vergangenen Sonnabend gerade mal drei Anzeigen geschrieben, eine wegen Diebstahls, eine wegen Widerstands gegen Polizeibeamte, eine wegen Körperverletzung. „Eine signifikant hohe Belastung mit Straftaten hat die Polizei bisher nicht festgestellt“, heißt es auch aus Behördenkreisen. Es sei eine „Gemengelage“ aus einzelnen Straftaten, Verkehrsverstößen, Belästigungen und provozierendem Verhalten. Ein Kriminalitätsschwerpunkt wie etwa rund um die Reeperbahn oder den Hansaplatz, sei nicht zu erkennen.

Über die, die rund um die Aufgänge des unterirdischen Bahnhofs Jungfernstieg herumtollen, sich teils bis zur Kunsthalle lärmend ausbreiten, sich vor der Europa-Passage sammeln und vor dem Apple-Store Mails und WhatsApp-Nachrichten checken, gibt es nur begrenzt Erkenntnisse. Es sei keine „ fest strukturierte Gruppe“ Jugendlicher und Heranwachsender. „Die Personen mit und ohne Migrationshintergrund stammen aus unterschiedlichen Hamburger Stadtteilen und aus dem Umland“, sagt die Polizei. Mal sind es 30, die sich treffen, dann wieder mehrere Hundert „relevante Personen“, die mit „zunehmendem Alkoholkonsum innerhalb und außerhalb der Gruppe aggressives Verhalten zeigen“.

Juniorchef Cancian ist nicht der einzige Gastronom, der sich über die zuweilen ausufernde Feier- und Trinklust der Jugendlichen mokiert. „So schlimm war es noch nie“, sagt Teresio Bruni, Betreiber des Restaurantschiffs Galatea. „Vier bis fünf Einbrüche“ verzeichne er pro Jahr, inzwischen melde er gar nicht mehr jeden Schaden seiner Versicherung. „Sonst schmeißen die mich noch raus.“ Die Täter ließen meist harten Alkohol mitgehen. Mindestens genauso schlimm seien die Sachbeschädigungen. „Die haben gerade erst wieder Blumen und Stühle in die Alster geschmissen. Einfach so“, sagt Bruni.

Im Vorjahr hätten die Täter seine Terrasse zerstört, indem sie nachts einen Schlauch dorthin verlegt und das Wasser aufgedreht hätten. „Das Holz war danach total durchfeuchtet“, sagt er. Den Schaden beziffert Bruni mit 20.000 Euro. Zwar habe er Kameras installiert, die neben der Zerstörung seiner Terrasse auch mehrere Einbrüche aufgezeichnet hätten. „Aber die Staatsanwaltschaft hat alle Fälle eingestellt“, sagt Bruni resigniert. Der Gastronom fühlt sich im Stich gelassen. Teresio Bruni nerven zudem die ganzen Asphalt-Cowboys, die mit ihren getunten Autos sogar vor Wettrennen im Herzen der Stadt nicht zurückschreckten. Dabei ist das Problem inzwischen teilweise „baulich“ gelöst worden. Fahrer PS-starker Wagen fühlten sich vom Auflauf und späteren Beifall der Jugendlichen angespornt, nutzten den Jungfernstieg als Rennstrecke, zogen auf 50 Metern voll durch, inklusive Motordröhnen und Reifenquietschen. Mittlerweile wurden die Fahrbahnen der Prachtstraße, ehemals zwei auf jeder Seite, durch einen ausgewiesenen Bushalteplatz verengt. Durchstarten ist jetzt nicht mehr so einfach.

Dennoch: „Die Situation am Jungfernstieg ist unbefriedigend“, sagt Norman Cordes, Sprecher des Bezirks Mitte. Den Jugendlichen sei es jedoch nicht verboten, sich dort aufzuhalten. Wie an allen anderen öffentlichen Plätzen sei es auch am Jungfernstieg erlaubt, Alkohol zu trinken. Ein Glasflaschenverbot wie auf der Reeperbahn, jüngst von CDU-Kreisen gefordert, könne das Bezirksamt zudem gar nicht anregen, dafür sei der Senat zuständig. Aus Senatskreisen heißt es: Solche Maßnahmen würden über das Ziel hinausschießen, die aktuelle Lage gebe solche Forderungen gar nicht her. Denn die sei aufgeblasen. Insgeheim hoffen Polizei und Bezirk ohnehin, dass sich das Problem in den kühlen bis kalten Herbst- und Wintermonaten ganz von allein erledigt. Den Jugendlichen dürfte es dann draußen zu ungemütlich sein.

Warum der Jungfernstieg vor zwei Jahren zum ultimativen Treffpunkt vieler Jugendlicher avancierte, ist nicht ganz klar. Zum einen sind es neue Geschäfte wie eben der Apple Store direkt an der Einkaufsmeile, jene in der Europa-Passage, aber auch der Flagship-Store des Modelabels Abercrombie & Fitch an der Poststraße, die in den vergangenen Jahren eröffneten und Jugendliche vermehrt in die Innenstadt locken. Zum anderen ist es die Verdrängung aus anderen Stadtteilen: Ungestört trinken ist auf dem Kiez seit den verstärkten Kontrollen nur noch begrenzt möglich – im Gegensatz zum Jungfernstieg.