Teil 7: Sandra Helmrich führt ihren Blumenladen Natürlich in Nienstedten mit viel Herzblut. Demnächst wird das Geschäft ohne sie auskommen müssen – zumindest eine Zeit lang.

Natürlich. Ohne Blumen geht es bei ihr nicht. Sandra Helmrich braucht sie einfach. Immer und überall. Sogar zu Hause im Badezimmer am Waschbecken stehen Blumen. Manchmal pflückt Sandra Helmrich sie einfach am Wegesrand oder geht, ganz selten, in ein Blumengeschäft. Meistens macht sie die Sträuße aber selbst. In ihrem eigenen Laden.

Natürlich! Das Blumengeschäft von Sandra Helmrich, 38, sieht genauso aus, wie es heißt. Mit alten Holzsteigen, Terrakottatöpfen, Zinkeimern, einem verrosteten Gartenzaun. Die Blumen sind saisonal und kommen vorwiegend aus dem Hamburger Umland. Für Sandra Helmrich liegt das Besondere im Einfachen. Sie will nicht in die Natur eingreifen. Blumen nicht mit Draht verbiegen, nicht mit buntem Wasser einfärben. Sondern ursprünglich lassen. Natürlich. So steht es über ihrem Laden in der Rupertistraße 28 in Nienstedten, so steht es auf den Flyern in ihrem Büro.

Ihr Büro ist ein Hinterzimmer im Laden, ihr Schreibtisch eine ausziehbare Platte in einem alten Schrank mit einem Laptop darauf. Auf einem Schemel liegt ein Halstuch mit Schmetterlingen, im Regal an der Wand steht eine Playmobil-Figur. Ein Geschenk von ihren Mitarbeitern zur Hochzeit im Juli. „Sie haben unseren Laden im Miniaturformat nachgebaut und für jeden Mitarbeiter eine Playmobil-Figur in das Modell geklebt“, sagt Sandra Helmrich und greift nach der Plastikfigur im Regal. „Diese eine hier ist am Ende übrig geblieben.“ Sie hat sie behalten. Symbolisch für die neuen Mitarbeiter, die sie sucht. Und nicht findet. Weil sich die Branche im Umbruch befindet, Fachkräfte fehlen. Weil mehr Floristen gesucht als ausgebildet werden. Alleine der Branchenprimus Blume 2000, der jetzt auch gebundene Sträuße anbietet, will in Hamburg rund 100 Fachkräfte einstellen. Gleichzeitig ist die Zahl der Auszubildenden von Ende 2012 bis Ende 2013 von 78 auf 61 zurückgegangen.

„Es wird immer gesagt, dass das am Geld liegt“, sagt Sandra Helmrich. Dass die Vergütung in der Lehrzeit (525 Euro im 1. Jahr bis 625 Euro im 3. Jahr) sowie das Einstiegsgehalt von 1600 bis 1700 Euro brutto zu wenig seien. Doch Sandra Helmrich persönlich glaubt nicht, dass das der einzige Grund ist. Klar, damit könne man keine großen Sprünge machen. Dass hat sie selbst gemerkt, als sie sich nach der Lehre selbst finanzieren musste. Als sie sich von ihrem Gehalt auf Sylt und in Hamburg noch nicht mal eine eigene Wohnung leisten konnte, sondern in eine WG ziehen musste. Aber das sei nicht der Hauptgrund. Sondern die mangelnde Wertschätzung des Berufs. Vor allem in Zeiten, in denen jeder am liebsten erst mal Abi machen und studieren will. „Der Job genießt kein Ansehen bei den jungen Leuten. Viele Unwissende halten Floristinnen doch nur für ,kleine Verkäuferinnen‘, die nur Bändchen um hübsche Blümchen binden. Was sich alles hinter dem Beruf verbirgt, sieht kaum jemand“, sagt sie. Nicht anklagend oder verbittert. Sondern sachlich, nüchtern. Auf ihre natürliche Art.

Wenn man Sandra Helmrich fragt, wann sie ihre Liebe zu Blumen entdeckt hat, muss sie einen Moment überlegen. Abwägen. Ein Naturkind sei sie eigentlich nie gewesen. Obwohl sie auf dem Bauernhof ihrer Eltern aufgewachsen ist, seien sie und ihre Schwester eher drinnen im Haus bei der Mutter gewesen und die Jungs draußen auf dem Hof beim Vater. „Ich habe nie auf einer Wiese gesessen und Blumenkränze geflochten, so wie man sich das vielleicht vorstellt“, sagt sie und lacht. Eine natürliche Begabung? Nö! Trotzdem gibt es da eine Sache in ihrer Kindheit, die sie geprägt hat. Die sie nie vergessen hat. Als sie das erste Mal in einem Blumenladen war. Als ihre kleine Schwester geboren wurde und sie mit ihrem Vater einen Blumenstrauß für die Mutter gekauft hat. Da muss sie elf Jahre alt gewesen sein. An die Blumen kann sie sich nicht erinnern. Aber an den Duft. Diesen berauschenden Duft von Blumen und Erde. Unbeschreiblich. Unverwechselbar. Einzigartig. Natürlich.

27 Jahre ist das jetzt her, seit mehr als 22 davon arbeitet Sandra Helmrich in Blumengeschäften. Bereits während der Schulzeit in Coesfeld hat sie ein Praktikum im Blumenladen absolviert, nach der Mittleren Reife dort eine Lehre als Floristin gemacht. Weil sie etwas mit den Händen machen wollte, etwas schaffen wollte. Etwas, dessen Ergebnis man sehen kann. Anfassen. Auch wenn sie sich daran erst mal gewöhnen musste. Ans Anfassen. Von pelzigen Blättern und dornigen Blumenstielen. Dreckigem Wasser, schwarzer Erde und splittrigem Holz. „Das ist schon eine Umstellung“, sagt sie. Vor allem für die Hände. „Selbst mein Vater sagt immer, dass meine rauer sind als seine Bauernhände“, sagt Sandra Helmrich, bevor sie weitererzählt. Von der Zeit auf Sylt, wo sie gemeinsam mit einer Kollegin auf 35 Quadratmetern gelebt hat. Und von ihrem Entschluss, nach Hamburg zu gehen, wo sie jahrelang in verschiedenen Blumengeschäften gearbeitet hat, bevor sie sich vor genau drei Jahren selbstständig gemacht hat. Mit ihrem Laden Natürlich in Nienstedten – dem „Ort meines beruflichen Zuhauses“, wie sie es nennt. Weil sie schon ein paar Jahre vor der Übernahme des Geschäftes selbst dort gearbeitet hat, angestellt war. Weil sie aber erst noch einmal weggehen musste, um wiederkommen zu können. Als Chefin.

Von der Angestellten zur Unternehmerin, von der Kollegin zur Chefin. Leicht sei das nicht gewesen, sagt sie und erzählt von Businessplänen und Verhandlungen mit der Bank. Weil sie nicht genug Eigenkapital hatte, ist die Bürgschaftsgemeinschaft Hamburg eingesprungen, eine Selbsthilfeeinrichtung der Hamburger Wirtschaft zur Förderung mittelständischer Unternehmen, die Ausfallbürgschaften bis zu maximal 80 Prozent der Darlehenssumme übernimmt. Geld von ihrer Familie oder Freunden wollte sie nicht nehmen. Sie wollte es alleine schaffen. So wie sie immer alles alleine schaffen, selbst erledigen will. Den Einkauf, die Preiskalkulation, die jeden Tag entsprechend des Einkaufspreises auf dem Großmarkt neu erstellt wird. Das Versorgen der Schnittblumen, das Binden der Sträuße, die Gespräche mit den Kunden, das Ausliefern der Ware. „Das war ein schwieriger Lernprozess“, sagt sie und meint: zu lernen, loszulassen. Zu delegieren. Und zu akzeptieren, dass dann andere die Dinge vielleicht nicht genauso erledigen, wie sie es vielleicht selbst getan hätte. Das heißt: nicht besser oder schlechter. Sondern einfach anders. Sieben Mitarbeiter hat sie zusammen mit dem Laden übernommen. Drei Festangestellte und vier 400-Euro-Kräfte. Sie sind geblieben, der Name nicht. Für Sandra Helmrich war es wichtig, dem Laden einen neuen Namen zu geben. Ein Name, der mit ihr in Verbindung gebracht werde und nicht mit ihrer Vorgängerin. Und der charakteristisch für ihren Laden und ihre Ansprüche sei. So wie Natürlich.

Das Telefon klingelt. Es ist die Krankenkasse. Sie ruft wegen des Mutterschutzes an. Und wegen des Mutterschaftsgeldes. Denn Sandra Helmrich ist schwanger und erwartet ihr erstes Kind. Die Freude ist groß, die Probleme sind es jedoch auch. Denn obwohl es einen gesetzlich vorgeschriebenen Mutterschutz von sechs Wochen vor der Geburt und acht Wochen danach gibt, können selbstständige Geschäftsführerinnen wie Sandra Helmrich diesen oftmals kaum in Anspruch nehmen. „Ich bin zwar offiziell in Mutterschutz und stehe nicht mehr im Geschäft, bleibe aber bis zur Geburt Ansprechpartnerin für mein Team“, sagt Sandra Helmrich. Schließlich könne sie wegen des Mitarbeitermangels nicht von heute auf morgen aussteigen und alles hinter sich lassen. Oder „den Kopf ausstellen“, wie sie es nennt. Das mag als Angestellte gehen, nicht aber als Chefin.

Als Chefin, die Verantwortung trägt. Die ihre Mitarbeiter und die laufenden Ausgaben zahlen muss. Sogar zusätzliche Kosten hat, weil ihre eigene Arbeitskraft wegfällt. Und weil sie als selbstständige Unternehmerin nicht das gleiche geregelte Mutterschaftsgeld bekommt, das Angestellten zusteht – in Höhe ihres Nettoeinkommens. Im Gegenteil: Wer sich als Selbstständiger freiwillig gesetzlich versichert, bekommt nur dann Mutterschaftsgeld, wenn gegenüber der Krankenkasse der Anspruch auf Krankengeld erklärt wurde. Das wären dann rund 70 Prozent des beitragspflichtigen Arbeitseinkommens. So weit die Theorie. Was das jedoch in der Praxis für sie bedeutet, weiß Sandra Helmrich selbst noch nicht genau. Das weiß selbst die Krankenkasse noch nicht genau. Das muss individuell geklärt werden.

Wie noch so vieles geklärt werden muss. Zum Beispiel, ob sie im Anschluss an die achtwöchige Schutzfrist nach der Geburt wieder arbeiten kann? Ob sie pünktlich zum Hauptgeschäft in der Adventszeit zumindest tageweise wieder im Geschäft einspringen kann, wenn sie noch stillt? Und ob ihr Mann wie geplant in Elternzeit geht? Weil sie keine zehn oder zwölf Monate pausieren kann! Weil sie den Laden so lange weder schließen, noch eine Vertretung finanzieren kann. Das ist ihr ganz wichtig! Zu sagen, dass der Laden weiterläuft. Auch wenn sie selbst weg ist. Zumindest physisch. Denn psychisch ist sie immer da. Während andere in den letzten Wochen vor der Geburt Babybettchen kaufen, Kinderzimmer streichen, Vorbereitungskurse machen und Plüschtiere drappieren, ist Sandra Helmrich gedanklich bei ihrem Laden. Schließlich ist der auch so etwas wie ihr Baby. Etwas, um das sie sich drei Jahre lang von morgens um fünf bis spät abends gekümmert hat. Dass sie nicht einfach loslassen kann.

Die Babysachen hat sie erst vor zwei Tagen in die Schränke geräumt, den Vorbereitungskurs an einem Wochenende erledigt. „Ich habe keinen Kopf dafür“, sagt sie. Und keine Zeit. Keine Zeit, Krankenhäuser anzuschauen und Schwangerschaftsbücher zu lesen. Sich in das Thema „einzuarbeiten“, wie sie sagt. Deswegen hat sie sich eine Beleghebamme gesucht, die sich um alles kümmert.

Manchmal, wenn Sandra Helmrich über ihre Schwangerschaft spricht, erzählt sie von ihren Freundinnen, die im dritten oder vierten Monat mit der Planung schon weiter sind als sie. Und von ihrer Angestellten, die vor eineinhalb Jahren schwanger war und nach dem fünften Monat täglich nur noch fünf Stunden im Stehen arbeiten durfte. Sonn- und feiertags gar nicht mehr. Für die eine Möglichkeit geschaffen werden musste, sich hinzusetzen. Sogar hinzulegen. Und die keine schweren oder gesundheitsgefährdenden Arbeiten mehr erledigen durfte. Für Sandra Helmrich hätten eigentlich die gleichen Regeln gelten müssen – als Schwangere. Doch nicht als Chefin. Was für ihre Angestellten Pflicht ist, war für sie selbst als Unternehmerin kaum realisierbar. Weil sie auch mit Baby im Bauch für alles verantwortlich war. Den Einkauf auf dem Großmarkt. Den Laden. Die Umsätze. Wie sie das alles geschafft hat? Mithilfe ihres Mannes und ihrer Mitarbeiter. Im Laden wird großer Wert auf das Miteinander gelegt. Auf einen „natürlichen Umgang miteinander“. Und mit den Kunden. Das ist die Firmenphilosophie.

Ihre Lieblingsblume ist übrigens die Englische Rose „Winchester Cathedral“, die ein bisschen nach Zimt duftet. Als Schnittblume war sie im Brautstrauß von Sandra Helmrich, als Pflanze steht sie bei ihr zu Hause in Winterhude auf dem Balkon ihrer Wohnung. Und sie wird in den Garten des Hauses in Vaale (Kreises Steinburg) gepflanzt, wo sie mit ihrem Mann Sven, 42, am Wochenende lebt, wenn sie mal aus der Stadt weg können.

Sven, ein selbstständiger Kunsthändler, der sie unterstützt, wo er nur kann. Der mit ihr zum Großmarkt fährt, damit sie die schweren Waren nicht tragen muss. Der in Elternzeit gehen wird, damit sie den Laden weiterführen kann. Und der ihr zu einer der ersten Verabredungen einen Blumenstrauß mitgebracht hat. Aus dem eigenen Garten. Wenn Sandra Helmrich nicht gerade in ihrem Geschäft ist, wäre sie am liebsten in ihrem Haus mit Garten. Doch die Zeit dafür ist gerade knapp. Deswegen sehe es dort derzeit aus wie „Kraut und Rüben“. Einen Gärtner damit zu beauftragen, ist für sie undenkbar. Sie will keinen durchgestylten, sterilen Garten. Sondern ihre persönliche Note einbringen. Was ihr vorschwebt? Vielleicht ein Bauernjasmin. So einer, wie er im Garten ihrer Eltern in Coesfeld steht. Der meistens dann blüht, wenn sie Geburtstag hat. Irgendwann wird sie ihn pflanzen. Zusammen mit einer Winchester Cathedral und anderen Stauden. Welche? Irgendwas. Egal. Hauptsache: natürlich!

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