Der Poetry-Slammer Lars Ruppel liest Demenzkranken einst vertraute Verse vor. Seit 2009 besucht er Pflegeheime und will so Poesie als Kommunikationsmittel in der Pflege integrieren.
Harburg. „Hast uns Stullen geschnitten und Kaffee gekocht. Und die Töpfe rübergeschoben und gewischt und genäht und gemacht und gedreht alles mit deinen Händen. Hast die Milch zugedeckt. Uns Bonbons zugesteckt und Zeitungen ausgetragen. Hast die Hemden gezählt und Kartoffeln geschält. Alles mit deinen Händen.“
Ruhig, jedes Wort betonend, geht Lars Ruppel umher und trägt an diesem Morgen im Speisesaal des DRK-Seniorenheims Eichenhöhe in Harburg das Gedicht „Mutters Hände“ von Kurt Tucholsky vor. Ein bisschen fehl am Platz wirkt der 29-Jährige in seiner schwarzen Jeans und den Turnschuhen auf den ersten Blick. Aber entscheidend ist nicht sein Alter oder seine Kleidung. Worauf es ankommt, ist seine Stimme, seine Sprache. Damit schafft er etwas, das den Altenpflegern im Alltag nicht immer gelingt: Die sieben Menschen, die im Stuhlkreis sitzen und dement sind, zeigen Gefühle.
Beim Alzpoetry wird Vergessenes wieder wach. Wenn Lars Ruppel „Mutters Hände“ rezitiert oder „Die Loreley“ von Heinrich Heine, hat das enorme Auswirkungen. Nicht nur, dass die alten Menschen die Worte mitsprechen; sie zeigen sich von einer Seite, die im Heimalltag verborgen bleibt. So wie der 88 Jahre alte Heinz Wallisch, der sonst kaum spricht. In dieser Runde redet er.
Weckworte-Workshop nennt Lars Ruppel das Programm, bei dem er klassische Gedichte für Menschen mit Alzheimer oder geistiger Behinderung vorträgt. Seit 2009 tourt er damit durch Seniorenheime in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Auch die Pflegenden lernen bei ihm, wie Gedichte zum Bestandteil der Pflege von Menschen mit Demenz werde können. Derzeit leben in Hamburg rund 26.000Menschen mit mittelschwerer oder schwerer Demenz. Durch den demografischen Wandel wird die Zahl der Erkrankten weiterwachsen.
Mit den Gedichten können die Worte zurückkommen. Worte, die sie in ihrer Kindheit auswendig gelernt haben. Die Bewohner in diesem Stuhlkreis zeigen Freude oder Wehmut. Ruppel transportiert die Gefühle und Gedanken der Gedichte zu seinen Zuhörern.
Das schafft er auch, weil er immer wieder Körperkontakt zu ihnen sucht, ihnen in die Augen schaut und sie wahrnimmt. Als er sich zur 90-jährigen Gerda Seidel und ihrem Rollstuhl hinunterkniet, ihre Hände in seine nimmt und weiter rezitiert „wir waren der Kinder acht, sechs sind noch am Leben, alles mit deinen Händen“, ist die alte Dame zu Tränen gerührt. „Ich habe sogar zwei Kinder“, sagt sie. Sie, deren Erinnerungen immer weiter schwinden.
120 der 188 Bewohner des Seniorenheimes Eichenhöhe sind dement. Dieses Gedichteprogramm ist für Menschen mit mittelschwerer Demenz geeignet, sagt Dominique Robertson, die Leiterin der Sozialen Betreuung. Bei einer beginnenden Demenz könnten sich die Bewohner vorgeführt fühlen, bei schwerer Demenz sei mit Worten nicht viel zu erreichen, sondern nur durch Berührungen. Aber bei den sechs Frauen und Männern, die gerade Texte von Heinz Erhardt, Kurt Tucholsky oder Auszügen aus Schillers „Glocke“ hören und erleben, kann das viel bewirken: „Sie erinnern sich an schöne Zeiten, denn diese Gedichte haben sie noch in ihrer Schulzeit auswendig gelernt, und diese Zeit war für die Kriegsgeneration noch unbelastet“, sagt Dominique Robertson. Selbstsicher spricht Hans Reiff, 91, die Zeilen aus Schillers „Glocke“ laut mit. Gelernt ist gelernt.
Poesie in der Pflege, das hört sich für Pflegeassistentin Carina Schmitt zunächst seltsam an, aber sie und die fünf übrigen Pfleger und Sozialpraktikanten lernen bei Lars Ruppel, wie das in Zukunft gehen könnte. „Wenn sich jemand nicht waschen lassen möchte, fangt mit einer oder zwei Zeilen an.“ Vielleicht mit den Worten von Joachim Ringelnatz: „Morgenwonne. Ich bin so knallvergnügt erwacht. Ich klatsche meine Hüften. Das Wasser lockt. Die Seife lacht.“
Poesie, da ist er sich sicher, lasse sich als Kommunikationsmittel in der Pflege integrieren. „Dadurch schaffen sie einen Zugang zu den Senioren und werten deren Leben kulturell auf.“ Leider fehle es dafür im Alltag häufig an Zeit, sagen die Pfleger. Für den Moment jedoch hat die Poesie viel bewirkt: Sie alle hatten einen fröhlichen Moment.