Der scheidende HWWI-Chef Thomas Straubhaar spricht über die Chancen der Hansestadt, die Last der Politik, notwendige Veränderungen im Hafen, die Stellung der Bildung und eigene falsche Prognosen.

Viele Bücher, Akten, Briefe – wenn Thomas Straubhaar in diesen Tagen sein Büro in der Harvestehuder Villa räumt und die Unterlagen in Kisten verstaut, hält er die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands und auch Hamburgs noch einmal in den Händen. In den vergangenen 15 Jahren hat sich der gebürtige Schweizer – mittlerweile hat der 57-Jährige die deutsche Staatsangehörigkeit – hier als Leiter zunächst des Hamburger Welt-Wirtschafts-Archivs (HWWA) und dann des Nachfolgers Hamburgisches WeltWirtschaftsInstitut (HWWI) einen großen Namen in der Welt der Ökonomie gemacht; er beriet Politik und Unternehmen gleichermaßen, forschte und lehrte. Mit Ablauf des Augusts räumt Straubhaar diesen Posten und erfüllt sich seinen Traum, an Instituten in den USA mitzuarbeiten. Hamburg bleibt er als Lehrender an der hiesigen Universität erhalten. Zum Abschluss spricht er über notwendige Veränderungen im Hafen, seine Ansprüche an die Entscheider und auch über den Vorwurf des Lobbyismus.

Hamburger Abendblatt: Herr Professor Straubhaar, das HWWI hat kürzlich drei Tipps für Hamburg veröffentlicht: Wohnungen bauen, in Bildung und in Infrastruktur investieren. Ganz ehrlich: Das wären doch auch schon die Ratschläge bei Ihrem Amtsantritt vor 15 Jahren gewesen, oder?

Thomas Straubhaar: Wenn man böse ist, muss man in der Tat sagen, dass die Projekte von vor 15 Jahren immer noch auf der Agenda stehen. Es ist einiges liegen geblieben, so die Elbvertiefung, die Hafenquerungen, der Autobahnring. Und auch in die Bildung und Wissenschaft wird noch immer viel zu wenig investiert. Es wird zwar immer gesagt, dass es sich dabei um das wichtigste Zukunftsthema handelt, aber es passiert dann eben doch nicht genug.

Hamburger Abendblatt: Woran liegt das?

Straubhaar: Hamburg hat da ein Luxusproblem: Die Stadt ist sowieso so attraktiv für Studierende, dass die praktisch von allein kommen und man nicht so viel dafür tun muss. Aber es liegt wohl auch immer noch unterschwellig daran, dass in manchen traditionellen Wirtschaftsbereichen die Bedeutung von Bildung nicht hoch genug eingeschätzt wird, obwohl es doch tatsächlich fast keine Berufe mehr gibt, die ohne spezifische Fach-Abschlüsse auskommen, auch nicht im Handel oder in den Medien. Bildung hat jedenfalls weiterhin ein zu hartes Leben in Hamburg.

Hamburger Abendblatt: Als Sie 1999 die Leitung des HWWA – also des Vorläufers vom HWWI – übernommen haben, geschah das in einer Stadt, die 44 Jahre lang von der SPD regiert worden war. Wie empfanden Sie das damals?

Straubhaar: Der Hafen galt seinerzeit vielen als Auslaufmodell, Banken und Versicherer verließen nach und nach die Stadt, auch die ersten Medien gingen weg. Es war eine Stimmung des Niedergangs ohne große Visionen, obwohl doch die deutsche Einheit und die sich abzeichnende Osterweiterung so viele neue Chancen gebracht hatten für die Region. Das änderte sich erst ein wenig durch die Olympiabewerbung am Anfang des Jahrtausends und dann stärker durch das Leitmotiv der „wachsenden Stadt“, das dann aber schon die CDU-geführte Regierung formuliert hatte. Das war so herrlich kontrovers gegenüber dem Wachstumspessimismus, der vorher maßgeblich war! Ein neuer Reiz des Urbanen wurde entwickelt, der sich bis heute gehalten hat. Junge Leute und Familien ziehen mittlerweile seltener raus aus der Stadt, sondern sogar von außen in die Stadt.

Hamburger Abendblatt: Aber die jetzt wieder regierende SPD hat doch so ein kerniges Leitmotiv gar nicht formuliert.

Straubhaar: Ich erkenne da dennoch eine Kontinuität, wie es ohnehin eine Stärke der Regierung unter Olaf Scholz ist, dass sie positive Entwicklungen fortführt und stützt, auch wenn sie nicht selbst initiiert wurden. Ein ausformuliertes Leitmotiv würde sowieso immer in Konkurrenz zu dem sehr griffigen des damaligen CDU-Senats stehen, das vermeidet Scholz dann lieber. Was sein Senat mit Blick auf Hamburgs Osten entwickelt und auch schon umgesetzt hat, ist aber doch nichts anderes als ein Handeln im Sinne der wachsenden Stadt. Das ist die logische Fortsetzung der HafenCity.

Hamburger Abendblatt: Die SPD steht voll hinter dem Hamburger Hafen und seinen Entwicklungschancen, aber es gibt auch Kritiker, die sagen, dass man da zu einseitig handelt oder langfristig gar auf das falsche Pferd setzt. Wer hat Recht?

Straubhaar: Mittelfristig wird der Hafen seine große Bedeutung behalten, und es ist weiter richtig, hier zu investieren. Aber der Wachstum des Güterhandels wird auf lange Sicht so nicht weitergehen. Tatsächlich wäre ich schon zufrieden, wenn es überhaupt noch geringe Wachstumsraten gibt. China etwa wird in einigen Jahren sicher nicht mehr so viel aus Europa importieren, weil die Produktionsstätten noch stärker dort vor Ort sein werden, und das gilt dann auch für die Zulieferindustrien, die heute in Europa noch stark sind. VW macht es doch schon vor. Hinzukommen werden auch neue Technologien wie etwa die 3-D-Drucker, die viele Transporte unnötig machen. Und schließlich werden die Transportkosten steigen, einerseits durch den Energieverbrauch, aber auch durch die Gefährdungslage auf zunehmend vielen Routen etwa durch Piraterie. Das alles zusammen macht es nicht einfach für Hamburg.

Hamburger Abendblatt: Was also tun?

Straubhaar: Es wird in Zukunft immer stärker um einen Austausch von Ideen und auch Kapital gehen und weniger um den Wettlauf um das Massengeschäft. Handel mit hochwertigen Gütern, die auch höhere Frachtraten zu erzielen erlauben, kundengerechte Passgenauigkeit, Schnelligkeit, Know-how, das werden die Herausforderungen der Zukunft auch im Hafen sein, und dafür braucht man gut ausgebildete Menschen und eine leistungsfähige Infrastruktur. Da sind wir praktisch wieder am Anfang unseres Gesprächs.

Hamburger Abendblatt: Bleiben wir eben noch kurz im Hafen. Der Hamburger Senat hat sich an Hapag-Lloyd beteiligt, um die Traditionsreederei vor Übernahmen oder einer möglichen Zerschlagung zu schützen. Sie haben das immer mit eher theoretischen, ordnungspolitischen Argumenten kritisiert.

Straubhaar: Ja, ich habe volles Verständnis dafür, dass Politiker noch andere Argumente anführen und dann, auch mit Blick auf Wahlen, anders entscheiden. Ich sehe das aus Sicht des Ökonomen: Hier wird künstlich ein großes Gebilde erhalten und die Marktkräfte werden ausgehebelt. Die jüngsten Geschäftszahlen waren ja auch alles andere als erfreulich, das wird noch ein langer Weg für Hapag-Lloyd. Ich hoffe wirklich sehr, dass das noch eine Erfolgsgeschichte wird. Dennoch: Kleinere Unternehmen, die das eigentliche Rückgrat der wirtschaftlichen Entwicklung sind, hätte man nicht so beschützend behandelt. Unterstützt wird wieder einmal Größe, und meistens schafft man so schon auf Sicht das nächste Problem, weil dann irgendwann noch gewaltigere Strukturen gerettet werden müssen.

Hamburger Abendblatt: Kann man denn überhaupt Politik gegen die Mehrheit der negativ Betroffenen machen?

Straubhaar: Ja, aber man muss sie dann offenbar anders anlegen. Nehmen wir das Beispiel der Schuldenbremse für öffentliche Haushalte in Bund und Ländern, die ja gesetzlich ab 2019 greifen wird oder wenigstens greifen soll. Hier haben Parlamente, also Politiker, vor einigen Jahren etwas entschieden, das nicht unmittelbar zu spüren war und dessen Auswirkungen bei vielen Beteiligten auch nicht mehr in die eigene Laufbahn fallen werden. Vielleicht kann weitsichtige Politik verstärkt auf so lange Zeitachsen aufgesetzt werden, und dann spielen auch die wissenschaftliche Expertise und die strategische Beratung wieder eine größere Rolle als im hektischen Handeln eines akuten Falls.

Hamburger Abendblatt: Nun muss man allerdings auch sagen, dass Ihre Prognosen zuweilen grundfalsch waren.

Straubhaar: Ja, das stimmt in zwei Fällen sicher, und das ärgert mich noch heute total. So was fühlt sich in etwa an wie ein verlorenes Finale im Sport. In dem einen Fall hatten wir im September 2008 zu einer Pressekonferenz geladen, um eine Wachstumsprognose für Deutschland abzugeben. In die gleiche Zeit fiel die Pleite der Lehman Brothers, und ich habe die Dimension, das Ausmaß der entstehenden wirtschaftlichen Verwerfungen nicht richtig erkannt.

Natürlich war meine Prognose dann komplett falsch. In dem anderen gravierenden Fall sprachen alle wirtschaftlichen Modellrechnungen und Grundannahmen, die wir seit Jahrzehnten kennen und die immer stimmten, für ein deutliches Anwachsen der Inflation, weil die Zentralbanken mehr Geld in den Markt pumpten, das Wachstum der Realwirtschaft aber nicht mithielt. Eigentlich ein klassischer Fall für ein Inflationsszenario. Die Inflation stieg aber nicht an, zeitweise drohte sogar eine Deflation. Seitdem sage ich: Ganz offensichtlich sind meine monetaristischen Grundmodelle nicht mehr zeitgemäß, also schmeiße ich die in die Tonne. Die „FAZ“ nannte mich daraufhin einen Konvertiten.

Hamburger Abendblatt: Die Ökonomie ist eben nicht so eine exakte Wissenschaft wie die Physik.

Straubhaar: Äpfel des gleichen Gewichts fallen unter gleichen Umständen immer in der gleichen Geschwindigkeit zu Boden. In der Ökonomie spielen aber noch andere Variablen mit, etwa der Mensch als Konsument, der sich mal so und mal anders verhält. Die alten monetaristischen Erklärungsansätze sind nicht mehr gültig. Punkt.

Hamburger Abendblatt: Sind Prognosen heute nicht noch schwieriger zu formulieren, weil geopolitische Entwicklungen in einer so eng verzahnten Welt wieder eine größere Rolle spielen? Was in Osteuropa oder im arabischen Raum passiert, könnte vieles ins Wanken bringen.

Straubhaar: Das ist der fundamentale Unterschied zu den vergangenen zehn Jahren. In dieser Zeit war es eigentlich friedlich, zumal in Deutschland und Europa. Wenn es Probleme gab, dann waren sie im wirtschaftlichen Handeln selbst begründet, also quasi systemimmanent. Für meine Nachfolger werden aber die Bereiche, die Sie ansprechen, eine viel größere Rolle spielen – und das wird das Geschäft schwieriger machen.

Die Unsicherheiten wachsen: Welche Rolle werden etwa die Glaubenskriege spielen, wie sehr weiten die sich noch aus, auch auf andere Kontinente? Irrationale Verhaltensweisen machen es der Ökonomie und der Beratung unendlich schwierig. Mit der Rolle der Religionen werde ich mich übrigens auch bei meiner künftigen Tätigkeit in den USA beschäftigen.

Hamburger Abendblatt: Ihrem Institut und auch Ihnen persönlich wurde immer wieder Wirtschaftslobbyismus vorgeworfen. Verstehen Sie das?

Straubhaar: Ich bekomme mein Geld für die Forschung und Beratung aus der Wirtschaft und arbeite dann für diese, natürlich bestehen da Abhängigkeiten. Die bestehen aber übrigens auch, wenn man als Dienstleister für den Staat oder Verbände arbeitet. Wir haben diese Beziehungen immer transparent gemacht, nichts ist bei uns geheim. Und wenn es sich nur um plumpen Gefälligkeits-Lobbyismus gehandelt hätte, wäre es uns wohl kaum gelungen, eine so breite und gute Reputation auch in der Fachöffentlichkeit aufzubauen.

Hamburger Abendblatt: Sie haben sich auch immer mal wieder in politische Debatten eingemischt, etwa als Sie die Pendlerpauschale nicht nur ablehnten, sondern sich sogar dafür aussprachen, die Pendler stärker zu belasten. Was bekommen Sie darauf für Reaktionen?

Straubhaar: Viele, das können Sie mir glauben. Das Automobil ist für viele Deutsche noch immer unantastbar, auch wenn nachwachsende Generationen damit ganz anders umgehen. Aber auf meine Forderung, die Pendlerpauschale abzuschaffen, die ich übrigens immer wieder machen würde, habe ich dann schon Hunderte Mails und Kommentare erhalten, und darunter sind nur sehr sehr wenige freundliche.

Zurückschreiben lohnt sich aber auch nur selten, meistens wird es danach noch schroffer und beleidigender. Gerade im Internet sind die Sitten stark verroht. Das darf einen aber nicht abschrecken, wenn man mit guten Gründen zu einer Überzeugung gekommen ist.

Hamburger Abendblatt: Zum Schluss doch noch eine Prognose: Wie wird sich Hamburg entwickeln?

Straubhaar: Die Stadt bringt ganz viele Voraussetzungen dafür mit, um zu den Gewinnern der nächsten Jahrzehnte zu zählen, wenn jetzt die richtigen Maßnahmen getroffen werden. Die Lebensqualität ist ja schon jetzt wunderbar hoch, aber die wird es auch in Zukunft nur zusammen mit wirtschaftlichem Erfolg geben. Hamburg muss an den „4 Is“ arbeiten: Innovationen (also Bildung), Immobilien (also genügend erschwinglicher Wohnraum), Infrastruktur und Internationalität. Zwar heißt es immer, hier sei das Tor zur Welt, aber da ist im Vergleich zu anderen Metropolen doch noch gewaltig Luft nach oben.

Hamburger Abendblatt: Würde dabei eine Olympiabewerbung helfen?

Straubhaar: Schon das Mitmachen am Wettbewerb würde etwas bringen für Hamburg, ich erhoffe mir einen gewaltigen Kreativitätsschub. Ganz ehrlich: Ich bin nicht überzeugt, dass wir am Ende den Zuschlag in der internationalen Ausscheidung bekommen werden. Dazu müssten sich die Vorgaben des IOC schon sehr ändern. Aber schon das gemeinsame Thema würde der Stadt helfen, sich weiter gut zu entwickeln.