Eine Medizinerin der Bundeswehr verweigerte einem 22-Jährigen eine genaue Diagnose. 30-mal hatte der Soldat, der auf der Fregatte „Emden“ unterwegs war, vergebens bei ihr Hilfe gesucht.

Neustadt. Der junge Mann verfiel immer mehr. Von einem kräftigen Kerl zu einem schmerzgebeugten 22-Jährigen, der am Ende offenbar vor Schwäche kaum noch stehen konnte. „Ausgemergelt“ nannte seine Ärztin den Zustand des Marinesoldaten schließlich in den Krankenakten. Doch außer Schmerzmitteln und Placebos bekam der Obermaat, unterwegs auf der Fregatte „Emden“ unter anderem vor dem ostafrikanischen Somalia, von seiner Schiffsärztin keinerlei Therapie und vor allem keine vernünftige Diagnose.

Bis es am Ende fast zu spät war, der Mann sterbenskrank, vom Krebs durchwuchert, mit nur noch geringen Chancen auf Heilung. „Er gehört zu den Glücklichen, die das überlebt haben“, beurteilt ein Sachverständiger die Genesung des krebskranken Soldaten.

Üblicherweise haben Patienten Alternativen. Wenn sie mit der Behandlung durch einen Mediziner unzufrieden sind, können sie den Arzt wechseln oder bei akuten Fällen in ein Krankenhaus gehen. Doch Marinesoldat Erik L. (alle Namen geändert) war auf seiner Fregatte einzig auf die Schiffsärztin angewiesen. Und so suchte er über Monate wieder und wieder Hilfe bei Anke P. – insgesamt 30-mal, unter anderem mit Beschwerden im Genitalbereich, dann mit monatelangen immer stärker werdenden Rückenschmerzen und über sieben Wochen andauerndem Erbrechen.

Und doch kam die Medizinerin nicht auf die Idee, auch nur einen Ultraschall zu machen oder eine MRT-Untersuchung zu veranlassen. Auf dem Schiff habe sie „nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt“, hat die 41-Jährige gleichwohl zum Prozessauftakt vor dem Landgericht insistiert, wo sie sich wegen fahrlässiger Körperverletzung verantworten muss.

Doch am dritten Verhandlungstag vor dem Hamburger Landgericht räumt sie schließlich Fehler ein. Sie habe sich „nicht genug Zeit für eine Diagnostik genommen“ und spricht von „einer zu kurz geratenen Behandlung“ und einer „Sorgfaltspflichtverletzung. Es tut mir unendlich leid“, ergänzt die sehr angespannt wirkende Angeklagte mit gequältem Gesichtsausdruck. „Ich wünschte, die Uhr zurückdrehen zu können.“ Sie könne ihren Fehler bis heute nicht verarbeiten, erzählt sie weiter und deutet an, eine Zeit lang nicht gewusst zu haben, wie sie damit weiterleben könne. Aus der Bundeswehr ist sie längst ausgeschieden.

Vor nunmehr vier Jahren, im Umgang mit ihrem Patienten Erik L., ist die Medizinerin indes offenbar alles andere als bescheiden aufgetreten. „Sie sagte mir ins Gesicht, sie würde mir nicht glauben“, hat der ehemalige Obermaat als Zeuge die Zweifel der Ärztin angesichts seiner Beschwerden in Erinnerung. Der Mann wirkt älter als seine heute 26 Jahre, er trägt eine Beinprothese, weil sich seinerzeit im Zuge seiner Krebserkrankung eine Thrombose entwickelte und ihm ein Unterschenkel amputiert werden musste. „Sie sagte, ich solle Sport machen, und verordnete Wärmesalben“, erzählt der Zeuge weiter. Doch seine Schmerzen seien immer gravierender geworden. Warum sie den Mann unter anderem mit Placebos behandelt habe, will der Vorsitzende Richter von der Angeklagten wissen. Ihre Mandantin habe „die Authentizität der Beschwerden angezweifelt“, antwortet die Verteidigerin für sie.

Auch als Erik L. sich über sieben Wochen immer wieder erbrach und ihn die Ärztin sogar mit Infusionen wegen Dehydrierung behandeln musste, versäumte sie es, nach den Ursachen seiner Beschwerden zu forschen. Am Ende hatte der an Hodenkrebs leidende Mann Metastasen an fast allen Organen, sogar in Lunge und Gehirn, und musste etliche Operationen, Bestrahlungen und diverse Zyklen Chemotherapie über sich ergehen lassen.

Dass er überhaupt genesen ist, grenzt schon fast an ein Wunder. Ein Sachverständiger erklärt, dass Erik L. seiner Einschätzung nach nur noch eine geringe Überlebenswahrscheinlichkeit hatte, als er endlich auf einer Intensivstation in Norddeutschland behandelt wurde. Zwar habe er schon vor seinem ersten Arztbesuch an Krebs gelitten. Doch je früher die Erkrankung erkannt werde, desto höher die Heilungschancen, Schmerzen wären ihm erspart geblieben.

Wenn sich über vier Monate die Rückenschmerzen nicht besserten, „muss eine Diagnostik eingeleitet werden“, betont der Gutachter. Vor allem als das wochenlange Erbrechen hinzukam und schließlich die Ärztin einen „ausgemergelten Zustand“ feststellte, „hätte das eine Diagnose erforderlich gemacht“, erläutert der Onkologe. „Das ist medizinischer Standard.“ Ein Ultraschallgerät habe zur Verfügung gestanden. „Ich verstehe nicht, warum sie das nicht gemacht hat.“ Für Anke P. geht es nun darum, wie hoch ihre Strafe ausfällt. Der Strafrahmen reicht von Geldstrafe bis zu drei Jahren Haft.

Abendblatt-Gerichtsreporterin Bettina Mittelacher schreibt jede Woche über einen außergewöhnlichen Fall