Kritiker werfen Umweltorganisationen vor, das Verbandsklagerecht zu nutzen, um Projekte wie eine weitere Elbvertiefung zu verzögern. Eine Studie belegt, dass dem nicht so ist. Dennoch wächst der Druck auf alle Beteiligten.
Der Hamburger SPD-Bundestagsabgeordnete Johannes Kahrs ist für seine klaren Worte bekannt. Als er vor einigen Wochen an einer Podiumsdiskussion über Infrastrukturprojekte in der Metropolregion Hamburg teilnahm, machte er aus seiner kritischen Haltung gegenüber dem Verbandsklagerecht keinen Hehl. Es sei ein schwerer politischer Fehler gewesen, per Gesetz den Umweltschutzverbänden vor Gericht so viel Macht einzuräumen, meinte Kahrs. Damit seien wichtige Infrastrukturprojekte nur noch schwer umsetzbar.
Angesichts der derzeit laufenden Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht in Leipzig über eine weitere Elbvertiefung und der damit verbundenen Verzögerung mehren sich auch unter Anhängern einer demokratisch verfassten Gesellschaft die Zweifel, ob derart umfassende Einspruchs- und Verhinderungsmöglichkeiten für einzelne Interessengruppen nicht doch des Guten zu viel sind. So glauben Experten, dass um die Jahrtausendwende die Erweiterung der Airbus-Flugzeugwerft auf Kosten des Mühlenberger Lochs kaum möglich gewesen wäre, wenn es seinerzeit bereits das Vebandsklagerecht gegeben hätte.
Wolf Friedrich Spieth arbeitet bei der international tätigen Wirtschaftskanzlei Freshfields Bruckhaus Deringer in Berlin und vertrat vor Gericht als Anwalt bereits viele Projektträger. „Der Europäische Gerichtshof hat mit seiner Entscheidung aus dem Mai 2011 ein Tor aufgestoßen und die Spielregeln verändert“, sagt der Jurist. „Die Machtposition der Umweltverbände wurde erheblich gestärkt.“
Spieth bezieht sich auf das sogenannte Trianel-Verfahren. Der EuGH hatte seinerzeit entschieden, dass eine die Klagerechte von Umweltvereinigungen einschränkende Regelung im sogenannten Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz gegen EU-Recht verstoße. Deutschland musste daraufhin die Klagerechte von Umweltvereinigungen erheblich erweitern. Allerdings wurde zugleich Fristen und Regelungen eingeführt, die einen Interessenausgleich befördern und verhindern sollten, dass mit Hilfe des Klagerechtes Infrastrukturprojekte verzögert werden.
Gerichtsverfahren auf Länderebene
Das EuGH-Urteil war allerdings nur eine weitere Entscheidung, mit der die Positionen von Umweltverbänden gestärkt wurden. Bereits seit dem Jahr 2002 gibt es im Naturschutzrecht die Regelung, nach der Umweltverbände – wenn sie vom Staat als solche anerkannt wurden – vor den Verwaltungsgerichten Klage gegen Entscheidungen von Behörden zu erheben. So dürfen die Organisationen zum Beispiel gegen Planfeststellungsbeschlüsse über Vorhaben vorgehen, die in die Natur und die Landschaft eingreifen. Die meisten Gerichtsverfahren werden dabei auf Länderebene angestrengt.
Dieses Recht der Verbände ist eine Besonderheit. Das Verwaltungsrecht lässt üblicherweise nur dann eine Klage zu, wenn ein Mensch individuell in seinen Rechten verletzt wurde. Das Verbandsklagerecht soll helfen, öffentliche Rechtsgüter wie etwa sauberes Wasser oder die Gesundheit zu schützen. Auf diese hat die Allgemeinheit zwar einen Anspruch. Dieses Anrecht könnte aber ohne Verbandsklagerecht nicht durchgesetzt werden, weil ein Einzelner nicht nachweislich betroffen ist.
Deutschland habe ein ausgereiftes Umwelt- und Prozessrecht und tue sich bei der Umsetzung der neuen europäischen Vorgaben oft zu recht schwer, sagt Wolf Friedrich Spieth. Die Verbandsklage sei ein Beispiel dafür. Diese wurzele eigentlich in „rechtspolitischen Grabenkämpfen der Siebzigerjahre“. Seinerzeit sei es darum gegangen, die staatliche Verwaltung zu demokratisieren.
Unter gesellschaftspolitischen Gesichtspunkten könne man es für fraglich halten, dass Umweltverbände eine Sonderrolle bei der Durchsetzung von Gemeinwohlinteressen übernähmen. Schließlich seien die Organisationen lediglich von einem Teil der Bevölkerung demokratisch legitimiert und in letzter Instanz Interessenvertreter.
Mehr Rechte als einzelne Bürger
Diese Diskussion sei zwar spätestens mit der EuGH-Entscheidung in Sachen Trianel entschieden, räumt Spieth ein. Allerdings stelle das erweiterte Verbandsklagerecht, das Umweltorganisationen mehr Rechte als einzelnen Bürgern einräume, das deutsche System des subjektiven Rechtsschutzes vor Verwaltungsgerichten in Frage. Zudem müsse der deutsche Gesetzgeber die unklaren Maßstäbe im Umweltrecht endlich präzisieren. Hier würden die Gerichte und die Genehmigungsbehörden oft allein gelassen.
Bedenklich ist aus Spieths Sicht die große wirtschaftliche Bedeutung der Regelung, nach der Umweltverbände gegen Vorhaben vorgehen können, die eine Umweltverträglichkeitsprüfung vorschreiben. Damit erhalten kleine Interessengruppen die Möglichkeit, gegen Industrieanlagen und Bebauungspläne vorzugehen, bei denen der Weg einer Verbandsklage vor einigen Jahren nicht möglich gewesen sei.
Wolf Friedrich Spieth spricht daher von einer „Schieflage“, in die Genehmigungsverfahren für Infrastrukturvorhaben geraten seien. „Zu Lasten neuer Investitionen werden umweltrechtliche Kriterien mit hoher Priorität geprüft, während andere Aspekte des Gemeinwohls wie der wirtschaftliche Fortschritt, eine moderne Infrastruktur, eine zukunftsfähige Industrie oder die Sicherung von Arbeitsplätzen nicht über denselben Stellenwert verfügen.“ Verbandsklagen hätten eine aufschiebende Wirkung für Industrie- oder Infrastrukturprojekte, so dass erhebliche Verzögerungen drohten.
Alexander Schmidt, Professor für Umwelt und Planungsrecht an der Hochschule Anhalt in Bernburg, sieht die Entwicklung der vergangenen Jahre nicht ganz so kritisch. „Im Durchschnitt gibt es im Jahr etwa 30 Klagen von Umweltverbänden gegen Infrastruktur- oder Industrieprojekte“, sagt er. Die Zahl habe sich seit elf Jahren nicht verändert. Die durchschnittliche Erfolgsquote der Klagen liege bei 46 Prozent. Das sei ein sehr guter Wert. Gingen private Personen gegen die Entscheidung einer Verwaltung gerichtlich vor, lägen die Aussichten auf Erfolg im Durchschnitt bei zwölf Prozent.
Schmidt hat die 171 Verbandsklagen ausgewertet, die zwischen den Jahren 2007 und 2012 hierzulande erhoben wurden. Der Anteil der Verbandsklagen an den insgesamt von Verwaltungsgerichten abgeschlossenen Verfahren sei weiterhin sehr gering, heißt es in der von Schmidt im Februar dieses Jahres veröffentlichten Studie. Was die Verfahrensdauer angehe, seien 62 Fälle innerhalb eines Jahres und weitere 33 Fälle innerhalb von etwa zwei Jahren abgeschlossen worden.
Hohe Professionalität
Schmidt führt diese Zahlen auf die hohe Professionalität der Verbände zurück. Zwischen 70 und 80 Prozent aller Klagen würden vom Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland oder dem Naturschutzbund angestrengt. Allerdings hätten auch Verwaltungen und private Investoren hinzugelernt. Sie bereiteten die eigenen Vorhaben deutlich besser vor und würden Naturschützer früh einbinden.
Grundsätzlich ist es Schmidt zufolge in Deutschland kaum möglich, große Infrastrukturprojekte mit der Hilfe einer Verbandsklage endgültig zu verhindern. „Die Möglichkeiten, ein Projekt endgültig zu stoppen, sind nicht besonders ausgeprägt.“ Umweltverbände könnten meist nur erreichen, dass die Verwaltungen bei Planungsfehlern nacharbeiten und zusätzliche Kompensationsmaßnahmen oder Umweltschutzauflagen festlegen.
Deutsche Gerichte, auch das Bundesverwaltungsgericht, täten sich besonders schwer, wenn der Staat hinter einem Projekt stehe. Dann spielten der Erhalt oder die Schaffung von Arbeitsplätzen eine wichtige Rolle. Bei Verkehrsprojekten sei die künftige Verkehrsentwicklung oft ein schwergewichtiges Argument.
Auch die Befürchtung, dass Infrastruktur- oder Industrieprojekte massenhaft durch Baustopps bedroht seien, kann der Wissenschaftler nicht teilen. „Im Zeitraum von 2002 bis 2008 gab es bei 75 Projekten, gegen die geklagt wurde, nur in zehn Fällen einen zeitweisen Baustopp. Und das deshalb, weil gravierende Planungsfehler vorlagen.“
Andererseits sieht Schmidt die Änderungen der Klagebegründungsfristen, die im vergangenen Jahr ins Gesetz geschrieben wurden, relativ gelassen. Gerichte könnten die Fristen, wenn es notwendig sei, verlängern. „Ich gehe davon aus, dass in komplexen Fällen regelmäßig einer Fristverlängerung zugestimmt wird.“
Trotz seiner grundlegenden Bedenken erwartet der Berliner Jurist Wolf Friedrich Spieth nicht, dass die Möglichkeit der Verbandsklage „wieder zurückgedreht wird“. Vielmehr sei damit zu rechnen, dass die Umweltverbände eine zunehmend größere Rolle spielen würden und ihre Klagemöglichkeiten erweitert werden dürften.
Grundidee ist richtig
Der Jurist rät daher allen Vorhabenträgern – staatlichen wie privaten –, die Umweltverbände ernst zu nehmen und ihnen auf Augenhöhe zu begegnen. „Vor Gericht werden sie durch spezialisierte Anwälte vertreten und haben entsprechende Experten an der Hand.“ Zudem seien sie in der öffentlichen Wahrnehmung „die Vertreter des Gemeinwohls“, die nur Bedenken äußern müssten. Die Entwickler eines Projekts seien hingegen verpflichtet, nachzuweisen, dass ihr Vorhaben die Natur nicht übermäßig belaste oder dass es ausreichende Kompensationsmaßnahmen gebe. Sie sollten daher so früh wie möglich mit Umweltverbänden ins Gespräch kommen. Dann ließen sich zeitraubende und kostenintensive Auseinandersetzungen vermeiden, sagt Spieth.
Auch der SPD-Bundestagsabgeordnete Johannes Kahrs betont, dass die Grundidee, die hinter dem Verbandsklagerecht steht, richtig ist. „Aber viele Kritiker machen sich nicht genug Gedanken über den Preis, den wir bezahlen müssen“, sagt er angesichts des Streits um die Elbvertiefung und fordert: „Größere Infrastrukturprojekte müssen durchsetzbar bleiben, weil sie Arbeitsplätze, Wertschöpfung und die Zufriedenheit der Bürger sichern.“
Kahrs vermisst bei manchen Umweltverbänden den „sensiblen Umgang“ mit ihrem Klagerecht. „Viele Verbände haben eine 100-Prozent-Dagegen-Haltung.“ Zugleich macht der Politiker deutlich, dass ein „Durchregieren der Wirtschaft“ nicht gehe. Notwendig sei es, einen gesellschaftlichen Konsens zu erarbeiten. Für den Streit, der derzeit in Leipzig ausgefochten wird, sieht Kahrs nur eine Lösung: „An der Elbvertiefung führt kein Weg vorbei – also lasst uns darüber reden, wie wir am besten dahin kommen und dabei die Interessen der Obstbauern und der Fischer berücksichtigen.“