Hamburg Als die britische Tageszeitung „The Independent“ Anfang des Jahres über Hamburgs Verkehrspolitik berichtete, schwoll die Kernbotschaft in Internetforen so schnell an wie sonst nur ein Stau vorm Elbtunnel: Bis 2034, so hieß es, wolle die Hansestadt völlig autofrei sein. Die Nachricht basierte zwar auf einem Missverständnis – die zuständige Behörde sah sich sogar bemüßigt, ein Dementi zu verbreiten – doch die Geschichte vom autofreien Hamburg geistert immer noch durchs Netz. Offensichtlich klingt sie für viele gar nicht so abwegig.
Und tatsächlich sehen sich Hamburger derzeit mit einem Umbruch in der Verkehrspolitik konfrontiert. Seit einem Jahr vergeht kaum ein Monat, in dem der Senat nicht neue Verbesserungsvorschläge für den Radverkehr präsentiert, die oft auch zulasten der Autofahrer gehen – während Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) bei seinem Amtsantritt vor dreieinhalb Jahren dem Radverkehr in seiner Regierungserklärung gerade einmal einen Halbsatz gewidmet hatte.
Und nun das: 12.000 neue Stellplätze an den U-Bahnhöfen, mehr Raum für Räder auf neuen Fähren, neue Radfahrstreifen auf den Fahrbahnen und jüngst die Ankündigung, Autos aus den Straßen rund um die Alster komplett zu verbannen und dort den Radlern Vorrang einzuräumen. In den nächsten Monaten soll zudem das gesamte Radwegenetz der Stadt überprüft werden: Wo es nicht mehr „zeitgemäß“ ist, sollen die Radler auf die Straße. Rund ein Drittel der rund 1700 Kilometer muss folglich wohl ersetzt werden, weil „zu schmal und zu kaputt“, wie Verkehrsstaatsrat Andreas Rieckhof (SPD) sagt. Der Straßenraum, so scheint es, wird in Hamburg völlig neu verteilt.
Entsprechend scharf reagieren manche Autofahrer in sozialen Netzwerken oder mit Leserbriefen. Und auch der Verkehrsexperte der oppositionellen CDU in der Bürgerschaft, Klaus-Peter Hesse, sieht die neue Liebe zum Rad mehr als kritisch: Der Senat, so Hesse, „macht eine ideologische und die Autofahrer verachtende Politik“. Parkplätze würden abgeschafft, Staus provoziert, Baustellen nicht richtig koordiniert. Hesse: „Ich dachte eigentlich, dass die Zeiten vorbei wären, in denen Autofahrer durch Verkehrsschikanen in Busse und Bahnen getrieben werden sollten.“
Deutliche Worte, die aber wohl auch dem beginnenden Bürgerschaftswahlkampf geschuldet sind. Völlig anders kommentiert da der Grünen-Abgeordnete und Radfreund Till Steffen die Entwicklung. Protest gegen Verbesserungen des Radverkehrs in Hamburg bezeichnet er als ein „letztes Rückzugsgefecht der Autofahrer“. Immer wieder werde da das Klischee vom Kampfradler bemüht.
Stattdessen sei das Rad immer mehr zum bevorzugten Fortbewegungsmittel in der Stadt geworden. „Das Auto will niemand verbieten, man benutzt es aber einfach pragmatisch nur noch zu bestimmten Gelegenheiten, eben als eines von mehreren Verkehrsmitteln.“ Ähnlich sieht die große Interessenvertretung der Autofahrer, der ADAC, die Situation in Hamburg: „Wir befürworten den Ausbau des Radwegenetzes ausdrücklich. Denn auch die Autofahrer profitieren davon“, so ADAC-Sprecher Christian Hieff. Der Grund: „Wenn mehr Menschen auf das Fahrrad umsteigen, gibt es weniger Autos auf den Straßen, und entsprechend entspannter ist die Verkehrslage.“ Auch dass Fahrradfahrer künftig entlang der Alster eigene Straßen bekommen sollen, begrüßt der ADAC: „Eine gute Entscheidung.“
Hinter dieser wohlwollenden Einschätzung verbirgt sich die Erkenntnis, dass der Autoverkehr offenbar auch in Hamburg an Bedeutung verliert. Das Auto habe seit den 1990er-Jahren „dramatisch an Wertigkeit verloren“, sagt der verkehrspolitische Sprecher des ADAC in Hamburg, Carsten Wilms. Inzwischen nennt sich der Auto-Club, der einst „Freie Fahrt für freie Bürger“ gefordert hatte, denn auch lieber „Mobilitätsclub“.
Ein Bedeutungsverlust des Autos ergibt sich tatsächlich aus verschiedenen Statistiken: Laut Hamburger Verkehrsverbund (HVV) stagniert trotz steigender Einwohnerzahlen seit dem 1990er-Jahren die Zahl der privaten Pkw pro 1000 Einwohner in Hamburg. Mit Auswirkungen auf den Verkehr: Die Gesamtmenge auf den Stadtstraßen sank in den vergangenen Jahren um sieben Prozent. Innerhalb des Rings 2 ging der Kfz-Verkehr sogar um zwölf Prozent zurück, wie aus einer Senatsantwort auf eine Anfrage der Bürgerschaft hervorgeht. Immer weniger Hamburger besitzen zudem ein Auto: 2003 waren 39,5 Prozent der Haushalte autolos, inzwischen sind es nach Angaben der Grünen fast 50 Prozent.
Die Verkehrsforscherin Philine Gaffron von der TU Harburg verweist auf Studien, wonach die Hälfte der Autofahrten in Hamburg kürzer als fünf Kilometer sei. Bahn oder Rad seien auf solchen Strecken oft schneller. Das Auto, so das Fazit der Wissenschaftlerin, habe sich in einer Großstadt in vielen Fällen als Fortbewegungsmittel überlebt. Stattdessen fahren immer mehr Menschen mit Bus und Bahn – aber auch mit dem Rad: An den meisten der 38 Fahrradpegel in Hamburg wird seit einigen Jahren eine stete Zunahme des Radverkehrs gemessen. An der Alster stieg er zwischen 2007 und 2011 von 7000 auf 11.000 täglich registrierte Radler. Rund 75 Prozent davon waren Berufspendler, die zum Job in die Innenstadt radeln, ergab kürzlich eine von der Verkehrsbehörde in Auftrag gegebene Umfrage. Kritiker meinen: Der Senat fördert mit seiner neuen Radpolitik nicht eine Entwicklung, sondern reagiert lediglich auf eine. Eine Politik, wie sie typisch ist, sagt der Architekturhistoriker Gert Kähler.
Kähler hat kürzlich mit dem Autor Sven Bardua ein Buch zum Thema „Die Stadt und das Auto“ geschrieben. „Wie der Verkehr Hamburg veränderte“, lautet der Untertitel. Es war nicht die Vision der Stadtplaner, die autogerechte Stadt zu schaffen, sie mussten vielmehr auf gewaltige Zunahmen der Kfz-Zahlen reagieren, sagt Kähler und erinnert daran, dass er in den 1960er-Jahren als Kind noch Platz zum Spielen auf den Straßen der Stadt hatte. Später gab es dann Schneisen wie die Ost-West-Straße für den Autoverkehr, Fußgänger und Radfahrer wurden quasi von den Fahrbahnen verdrängt. Doch der Stau auf den Straßen blieb.
Die Elbtunnel-Autobahn konzipierte man für 60.000 Fahrzeuge am Tag, heute sind es dort fast 120.000. Noch in den 1970er-Jahren gab es gigantische Pläne für neue Stadtautobahnen, die teils unter der Alster verlaufen sollten. Doch Ende der 1970er-Jahre schon setzte ein Umdenken ein, „Rettet unsere Städte“ hieß ein Slogan des Protests gegen den allumfassenden Autoverkehr.
Und heute? Wird das Rad wieder zurückgedreht, wie wohl viele Autofahrer fürchten, wenn sie von den Fahrradstraßen an der Alster hören. Tatsächlich hat die Politik in Hamburg das Rad entdeckt. Aber von einer reinen Fahrradstadt ist Hamburg noch weit entfernt: Zwei Millionen Euro stellt die Hamburger Verkehrsbehörde für Radwegebesonderheiten wie an der Alster im Jahr bereit. Zum Vergleich: Für die Sanierung von Autostraßen sind in diesem Jahr mehr als 70Millionen Euro veranschlagt.