Teil 3: Stefan von Merkl verkauft in Bergedorf Musikinstrumente. Er setzt auf eine großzügige Verkaufsfläche und intensive Beratung
Ouvertüre: Das Interview muss warten. Stefan von Merkl hat an diesem Morgen einen wichtigen Termin. Eine Gruppe von potenziellen Kunden ist da und möchte sich sein Musikgeschäft in Bergedorf anschauen. „Entschuldigen Sie bitte“, sagt Stefan von Merkl und eilt seinen Gästen entgegen. Es ist eine Kindergartengruppe aus Billstedt, zwölf Jungen und Mädchen, drei und vier Jahre alt. Sie haben mit ihrer Erzieherin „Peter und Wolf“ gehört. Jetzt wollen sie sich die Instrumente angucken. Nicht nur hören. Sondern anfassen, selbst ausprobieren. Stefan von Merkl lässt die Kinder am Schlagzeug trommeln, eine Geige spielen, in eine Trompete und Tuba blasen. Er zeigt ihnen kleine Instrumente, die „wie ein Vögelchen klingen“ und tiefe, die „sich wie ein Dampfer im Hafen anhören“. Er begeistert. Macht Lust auf Musik. Das ist sein Motto, seine Firmenphilosophie. „Lust auf Musik“ steht auf seiner Ladentür und einer Neonreklame auf dem Dach. „Lust auf Musik“ leuchtet nachts über Bergedorf.
Erster Satz: Stefan von Merkl, 51, ist niemand, der gerne den Ton angibt. Niemand, der die erste Geige spielen will. Lieber Orchestermitglied als Dirigent. Wenn er ein Musikinstrument wäre, dann eine Blockflöte, meint er. Unkompliziert und pflegeleicht. Auf den ersten Blick vielleicht etwas unscheinbar. Nicht so glänzend und groß wie andere Instrumente. Aber großartig, wenn es um die Musik geht. Als Kind hat er Blockflöte gelernt, heute hängt sie bei ihm zu Hause im Wohnzimmer am Notenständer seiner Tochter. Damit er sie jeden Tag sieht, spielt. „Musikinstrumente sollten nicht in Schubladen oder Schränken aufbewahrt werden. Man darf sie nicht erst suchen müssen, sondern muss sie sofort sehen. Anfassen. Spielen“, sagt Stefan von Merkl. Appassionato. Leidenschaftlich. Die Musik ist Teil seines Lebens. Sie ist seine Leidenschaft, sein Lebensinhalt. Sein Lebensunterhalt. Das Musikgeschäft gab es, lange bevor es ihn gab. 1950 wurde die Firma Grubitz in Bergedorf gegründet, 1962 haben seine Eltern die Musikalienhandlung und das Ostasiengeschäft Grubitz übernommen. Der damalige Inhaber wollte sich zur Ruhe setzen, seine in Köln lebenden Eltern Olaf und Elisabeth von Merkl sich in Hamburg eine Existenz aufbauen. Nur 15 Quadratmeter ist das Geschäft damals groß, in dem es außer Musikalien auch noch Japan-Importe wie Vasen und Geschenkartikel gibt. Stefan von Merkl wird ein Jahr nach der Geschäftsübernahme geboren, in Bergedorf. „Ich sag immer: Erst die Arbeit und dann das Vergnügen“, sagt er. Scherzando. Scherzend. Doch irgendwie klingt ein ernster Unterton mit.
Er kann ein Lied davon singen. Seine Eltern mussten immer viel arbeiten, ihre Zeit war knapp. Die Gelegenheit zum gemeinsamen Musizieren oder Singen hatten sie selten. Trotzdem gibt die Musik in seiner Kindheit den Ton an. Mit sechs oder sieben Jahren wird er von seinen Eltern zum Flötenunterricht geschickt. Er bekommt Einzelunterricht, fährt mit dem Rad zu der Lehrerin nach Hause, immer die Wentorfer Straße hoch. Wenn er dort ankommt, ist er aus der Puste, hat erst einmal keine Luft mehr zum Flöte spielen. Vier Jahre sind es, dann steigt er aufs Klavier um. Das reizt ihn irgendwie. Vielleicht, weil er damit aufgewachsen ist. Weil seine Großeltern eins hatten, seine Eltern auch. Sein Vater Olaf von Merkl hat selbst Klavier gespielt. Früher. Vorher. Vor seiner Kriegsverletzung. Danach geht es nicht mehr,ein Finger ist steif. Danach spielt nur noch seine Frau Elisabeth – und irgendwann später sein Sohn. Stefan mit der musischen Begabung, der im Bergedorfer Kinderchor von Herbert Rühl singt und in der Hamburger Musikhalle auftritt. Stefan mit dem schauspielerischen Talent, der jahrelang Theater spielt und darin so aufgeht, dass er das Abitur ein Jahr später macht. Machen muss. Bio und Musik sind seine Leistungskurse. Doch ausgerechnet in Musik „loost“ er, wie er es nennt. Weil er einem Musikstück mehr Sätze zuschreibt, als es in Wirklichkeit hat.
Du lieber Herr Gesangverein! Ist das alles lange her! Stefan von Merkl schüttelt verwundert den Kopf, als er darüber spricht. Jahrzehnte sind seitdem vergangen. Jahrzehnte, in denen das Geschäft umzieht, immer mehr erweitert wird. Expandiert. Nachbar-Immobilien werden angemietet, Wände durchgebrochen. Über eine Treppe werden die Häuser miteinander verbunden. 400 Quadratmeter auf sieben Ebenen sind es. Das Geschäft ist verwinkelt, verschachtelt. Viel zu eng. Irgendwann wird der Ostasienzweig der Firma „Japan von Merkl“ ausgelagert und eingestellt. Die Familie konzentriert ihre Energie auf das Musikaliengeschäft. Ein Geschäft, in das Stefan von Merkl 1983 direkt nach dem Abitur einsteigt, dort eine Ausbildung als Musikalienhändler macht. „Ich habe versucht, mich freiwillig dafür zu entscheiden, aber die Erwartung meiner Eltern war natürlich da“, sagt Stefan von Merkl. Was er sonst geworden wäre? Wenn er die freie Wahl gehabt hätte? Stille. Er überlegt, zögert. Dann kommt eine vorsichtige Antwort: „Vielleicht hätte ich dann Religion und Philosophie studiert und wäre Pastor geworden.“ Religion? Pastor? „Ja, weil mich der Konfirmandenunterricht und das Umfeld stark geprägt haben“, sagt er. Doch eigentlich möchte er das nicht an die große Glocke hängen, lieber ein paar Takte über das Geschäft sprechen.
Zweiter Satz: Wenn Stefan von Merkl ein Musikstück über sein Geschäft komponieren würde, wäre es eine Suite in Dur mit ein paar Mollakkorden. Weil die Grundstimmung fröhlich und beschwingt wie bei einer Suite sei, es aber auch dunkle und traurige Töne gebe. Weil er seit Jahren beobachtet, wie das Geschäft immer härter werde. 2001 hat er „Musik von Merkl“ von seinen Eltern übernommen. Seitdem ist er Alleininhaber. Seitdem hat er die Anzahl der Mitarbeiter auf elf verdoppelt und die Verkaufsfläche nach dem Umzug in die Stuhlrohrstraße fast verdreifacht. „Die alten Räume waren einfach zu klein“, sagt Stefan von Merkl. Um alle wichtigen Instrumente in ausreichender Zahl präsentieren zu können, brauche man mindestens 1000 Quadratmeter. In der Stuhlrohrstraße gibt es diesen Platz. Platz für mehrere tausend Instrumente. Allein 400 Gitarren, 450 Blockflöten, 35 Klaviere und 19 Schlagzeuge sind es. Andere stellen die Instrumente aus wie in einem Museum. Stefan von Merkl stellt sie bereit. Bereit zum Anspielen. Ausprobieren. Anfassen. Fühlen. „Ein Instrument muss man in die Hand nehmen können, spielen. Erleben. Das kann man im Internet nicht“, sagt Stefan von Merkl. Er spricht immer schneller, accelerando. Weil es dazu so viel zu sagen gibt, dass die Zeit dafür kaum zu reichen scheint. Weil es ihm nicht nur um sein eigenes Geschäft geht, sondern um die gesamte Musikbranche. Weil der Musikfachhandel am Ende einer Kette von Entwicklungen steht, die er mit Sorge beobachtet. Weil er findet, dass es zu wenig Musikunterricht an Schulen gibt und die Kinder infolge von Ganztagsschulen und G8-Abitur zu wenig Zeit zum musizieren haben. Und weil das alles nicht nur dazu führt, dass der Musikfachhandel ausstirbt. Sondern die Musik. Das wäre dann das Ende vom Lied.
So, Stefan von Merkl hat auf die Pauke gehauen. Jetzt schlägt er andere Töne an. „Ich will nicht in meinem Laden stehen und jammern. Sondern gucken, wo die Probleme sind und wie ich sie ändern kann“, sagt er. Aus diesem Grund engagiert er sich im Landesmusikrat Hamburg, dem Dachverband aller am Musikleben beteiligten Institutionen, Fachverbände und Persönlichkeiten. Das ist ihm wichtig, das hat schon sein Vater gemacht. Früher war er im Präsidium des Gesamtverbandes Deutscher Musikfachgeschäfte. Jetzt will er sein Engagement auf Hamburg konzentrieren. Damit alle Akteure sich gemeinsam dafür einsetzen, dass wieder mehr musiziert wird.
Dritter Satz: Seine Zahlen möchte Stefan von Merkl nicht nennen. Die kommen stattdessen vom Spitzenverband SOMM (Society Of Music Merchants e.V.), der sich für die kulturellen und wirtschaftlichen Interessen der Musikinstrumenten- und Musikequipmentbranche einsetzt. Nach Berechnungen der SOMM ist der Umsatz 2013 im Vergleich zum Vorjahr um 18 Millionen Euro (1,9 Prozent) auf 897 Millionen Euro zurückgegangen – nachdem er in den Vorjahren jährlich gestiegen war. „Der Branche geht es nicht schlecht. Aber sie befindet sich in einem dramatischen Wandel“, sagt SOMM-Geschäftsführer Daniel Knöll. Im Zuge der digitalen Transformation habe sich das Interesse der Verbraucher verschoben. Doch obwohl in den Bereichen DJ-Zubehör, Beschallung, Computer-Software und elektronische Produkte Zugewinne erzielt wurden, konnten damit nicht die Umsatzeinbrüche im Verkauf von Schlagzeugen, Blas-, Seiten- und Tasteninstrumenten kompensiert werden.
„Probleme bereitet dem stationären Einzelhandel vor allem die branchenfremde Konkurrenz aus dem Internet sowie die sinkende Bedeutung von Musikunterricht an Schulen. Da dieser immer seltener oder gar nicht mehr stattfindet, wird vielen Kindern der wichtige Erstkontakt mit einem Instrument verwehrt“, so Knöll. Die Folge: „Schwindende Kundschaft aufgrund ausbleibender musikalischer Bildung bekommen alle Marktteilnehmer deutlich zu spüren“, so Knöll.
Vierter Satz: Wie sich vor allem die Veränderung der Schullandschaft auf die Zahlen auswirkt, das erklärt Stefan von Merkl am liebsten anhand der Blockflöte. Früher, vor 15 Jahren, habe er ganze Klassensätze Holzflöten verkauft. Dann nur noch Klassensätze Plastikflöten. Und heute nur noch vereinzelt ein paar Flöten. „Man kann sagen, dass ich heute 90 Prozent weniger Flöten verkaufe, als vor 15 Jahren“, sagt Stefan von Merkl. Trotzdem: Den größten Umsatz macht er inzwischen mit Musikinstrumenten. Der Verkauf gedruckte Noten ist stark rückläufig, dabei waren sie früher einmal der Hauptumsatzträger. Da sich immer mehr Musiker Noten im Internet runterladen, leiden die Umsätze des Musikfachhandels. Rund 13.000 Hefte hat Musik von Merkl derzeit im Angebot. 13.000 von rund 250.000 Notenausgaben deutscher Verlage. Und nach Angaben des Deutschen Musikarchivs kommen jährlich mehr als 7000 Neuerscheinungen hinzu. „Da wir nicht alles aufnehmen können, müssen wir entscheiden, was wir dem Kunden aus dieser Fülle anbieten“, so Stefan von Merkl.
Er sieht sich nicht als reinen Musikalienhändler oder Musikfachhändler, wie der Beruf heute heißt. Sondern als Manager einer Erlebniswelt. Denn so bezeichnet er sein Musikgeschäft gerne. Als Erlebniswelt. In der man Musik erleben kann. Lust auf Musik bekommt. In der man Instrumenten reparieren lassen und den Meistern bei der Arbeit zuschauen kann. In der man Instrumente mieten oder auf Raten kaufen kann. Damit sie sich jeder erlauben kann. Damit die Hemmsschwelle sinkt, ein teures Instrument zu erlernen. Deswegen gibt es sogar eine Rücknahmegarantie, bei der der Kaufpreis abzüglich einer Miete zurück erstattet wird. Nur eins bietet er – im Gegensatz zu vielen anderen Fachhändlern – nicht an: Musikunterricht. „Wir wollen für unsere wichtigsten Kunden, den Musiklehrern und Chorleitern, keine Konkurrenten sein. Sondern faire Partner“, sagt Stefan von Merkl. Der Ton macht die Musik.
Finale: Die Kindergartengruppe ist weg. In zwei Wochen will die Erzieherin mit der nächsten Gruppe kommen. Für Stefan von Merkl ist das Musik in den Ohren. Er gibt die Hoffnung nicht auf, dass man Kinder wieder für Musik begeistern kann. Fürs Musizieren. Nicht nur fürs Singen, wie es in den Castingshows populär ist. Sondern fürs Klavier spielen, geigen, trompeten. Stefan von Merkl glaubt daran. Er ist Idealist. „Diesen Beruf kann man nur mit Idealismus ausüben“, sagt er. Allegro. Munter. „Bei dem, was an materiellem Lohn erreicht werden kann, muss schon eine persönliche Bereicherung durch die Berufsausübung erfolgen.“ Freizeit hat er selten. Zeit für Konzerte, sein Gewächshaus, Musizieren mit seinen Zwillingen. Das geht nur sonntags. Und abends. Wenn er das Geschäft abgeschlossen hat und die Neonreklame auf dem Dach angeht. Wenn der Schriftzug „Lust auf Musik“ über Bergedorf leuchtet.
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