Die Beteiligung am Sonntag war so hoch wie noch nie. Die Sternfahrer genießen ganz andere Aussichten auf bisher unbekannte Ecken – und demonstrieren gleichzeitig für bessere Radfahr-Bedingungen.

Hamburg. „Radfahren macht Spaß, es hält fit, schont die Umwelt und den Geldbeutel.“ Damit ist eigentlich alles gesagt. Für Ulrike Müller, 54, gibt es viele Gründe, aufs Rad umzusteigen. Seit 1995 ist die Hamburgerin deshalb auch jedes Jahr bei der großen Fahrradsternfahrt dabei. Wenn sich die Menschen zu Tausenden in Itzehoe und Bad Oldesloe, Wedel und Lüneburg, Buxtehude und Harburg oder an zahlreichen Treffpunkten in der Stadt versammeln, um gemeinsam für ihre Art der Fortbewegung zu demonstrieren. Und wenn es darum geht, Räume zu erobern, die ansonsten den Autofahrern vorbehalten sind. Oder einfach mal den Blickwinkel zu erweitern.

Um kurz vor zehn Uhr sorgt Uwe Jancke, 69, per Megafon an der Kehrwiederspitze für Ordnung. Hier warten bereits mehrere Hundert Radler auf den großen Tross aus Wedel. Dort haben sich die Fahrradfahrer bereits um acht Uhr auf den Weg in die Innenstadt gemacht. Der Sprecher von „Mobil ohne Auto“ ist selbst seit Langem leidenschaftlicher Radfahrer, aber diesmal ist er im Auto unterwegs. Sein Anhänger ist mit einem Besen ausgerüstet. „Falls jemand eine Panne hat, werden wir ihn mit dem Besenwagen einsammeln.“

Als die Wedeler eintreffen, gibt es lautes Geklingel zur Begrüßung. Sie kommen mit Kind und Kegel, mit Tandem, Liegerad oder gar auf dem Einrad. Sie haben Proviant dabei, Sonnencreme und manchmal auf einem Anhänger auch Lautsprecher, aus denen tiefe Bässe wummern. Es sind Alte und Junge, Freizeitradler und Halbprofis, die für alle sichtbar auf ihrem Trikot demonstrieren, dass sie auch schon in der französischen Provence oder im kolumbianischen Gebirge geradelt sind.

Um zehn Uhr machen sich Tausende Radler bei herrlichem Sonnenschein auf die vielleicht schönste Strecke der Sternfahrt, die in diesem Jahren insgesamt 22 Routen für die Teilnehmer bereithält. Über die Elbbrücken geht es auf die A 255. „Wir fahr’n, fahr’n, fahr’n auf der Autobahn“, singen sie, bevor es rechts ab nach Wilhelmsburg geht. Ein gutes Stück bergauf, und weil es so viele sind, stehen die Radler plötzlich – im Stau. Auf der Gegenfahrbahn winken die Autofahrer freundlich herüber.

Sie haben sich gegenseitig im Blick. Und genau darum geht es den zahlreichen Veranstaltern. „Hab dich im Blick!“ heißt die Aktion, mit der für mehr Fahrradstreifen auf Hamburgs Straßen geworben wird. „Wir wollen, dass es der Regelfall wird, dass die Radfahrer auf der Straße fahren – und nicht auf dem Fußweg“, sagt Jancke. Das sei am sichersten, müsse aber erst noch gelernt werden.

So langsam wächst die Zahl der markierten Fahrradstreifen in Hamburg. Es gibt sie an der Billstedter Hauptstraße, an der Alsterkrugchaussee, am Baumwall oder an der Bebelallee. Sie sorgen für eine eindeutigere Raumaufteilung zwischen allen Verkehrsteilnehmern. Aber auch so mancher Radfahrer muss sich erst noch daran gewöhnen, auf der Straße zu fahren. „Meine Generation hat ja noch gelernt, dass man mit dem Rad nicht auf der Straße fahren darf“, sagt Jancke. Aber je mehr Streifen es gebe und umso selbstverständlicher das Radfahren auf der Fahrbahn werde, „desto mehr gewöhnen sich auch alle Teilnehmer daran“. Weil sie sich im Blick haben.

Die Sternfahrer genießen ganz andere Aussichten. Auf bisher unbekannte Ecken. „Ich wusste gar nicht, wie schön Wilhelmsburg ist“, sagen sie bei der Fahrt über die Wilhelmsburger Reichsstraße mit Blick auf Kanäle und Kleingärten. Und verabreden spontan, den Stadtteil demnächst einmal per Rad zu erkunden. Sie werden freudig von winkenden Menschen auf den Balkonen in der Buxtehuder Straße begrüßt. Sie entdecken Moorburg, fahren unter der A 7 durch und radeln langsam dem buchstäblichen Höhepunkt entgegen: In kleinem Gang geht es hoch auf die Köhlbrandbrücke. „Allein für diesen Augenblick hat sich die ganze Tour gelohnt“, meinen Peter und Susanne, steigen von ihrem Tandem und machen ein paar Erinnerungsfotos in luftiger Höhe. In rasanter Fahrt geht es zurück in die City. Abschlussveranstaltung in Barmbek am Museum der Arbeit. „Laut einer Umfrage“, sagt Jancke, „ist Hamburg immer noch auf dem letzten Platz bei der Zufriedenheit der Radler.“

Es braucht wohl noch ein paar Sternfahrten, um das zu ändern.