Mit 150 Millionen Euro will Hamburg Wasser das Sielsystem für die Häufung von Starkregen rüsten. Oliver Schirg schildert, warum und wie das heute 5500 Kilometer lange Rohrleitungsnetz überhaupt entstand.

Als der Hamburger Brand am frühen Morgen des 5. Mai 1842 in der Deichstraße ausbrach, sollte er mehr als ein Viertel des damaligen Stadtgebietes vernichten. 51 Menschen kostete er das Leben. Allerdings boten die großen Zerstörungen in der Altstadt die Möglichkeit, das Zentrum Hamburgs neu zu gestalten.

Auch die Infrastruktur entsprach längst nicht mehr den Anforderungen der aufstrebenden Hansestadt. Noch im Mai 1842 erhielt der englische Ingenieur William Lindley – er hatte gerade im Auftrag einiger wohlhabender Kaufleute die Eisenbahnstrecke zwischen Hamburg und Lübeck vollendet – den Auftrag, ein modernes Abwassersystem zu entwickeln.

Lindley schlug der Stadt ein Sielsystem nach Londoner Vorbild vor. In unterirdischen Rohren sollten alle festen und flüssigen menschlichen Fäkalien zusammen mit dem Regenwasser in natürlichem Gefälle stadtabwärts in die Elbe fließen. Im Prinzip funktioniert das Hamburger Sielsystem noch heute so. Lindley ging davon aus, dass die Abwässer mit einer hohen Geschwindigkeit durch die Siele fließen und so Ablagerungen und anschließende Fäulnis verhindern würden.

„Die Siele wurden in einer die Geschwindigkeit des Abflusses erheblich steigernden ovalen Form mit runder Sohle und glatten Wandungen aus hart gebrannten Backsteinen gemauert“, heißt es in einer Festschrift zu 150 Jahre Stadtentwässerung. Es sollte eine „Stadt“ entstehen, „die im Dunklen liegt, aber klarer durchdacht ist als die Stadt an der Oberfläche“.

Als Lindley den Auftrag erhielt, war der Gestank in der Stadt an manchen Tagen – vor allem zur Sommerzeit – unerträglich. Auf Wegen und in Fleeten stapelte sich Unrat. Bedrohlicher waren jedoch die gesundheitlichen Gefahren. Vor allem die Cholera-Epidemien machten klar, dass der Stadthygiene mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden musste.

„Ein Teil der Fäkalien wurde unter erheblichen Kosten von ‚Kummerwagen‘ abgeholt“, heißt es in einem Bericht „Über die Gesundheitsverhältnisse Hamburgs im 19. Jahrhundert“. „Sie fuhren unbedeckt, so dass sie einen Teil ihrer ekelhaften Fracht wieder verloren. Bei anhaltendem Frost sammelte sich der Unrat, und man wandelte über eine höckerige, dicke Masse von Eis. Bei Tauwetter waren diese kaum noch zu begehen.“

Die Probleme wurden mit steigender Einwohnerzahl größer. 1811 lebten rund 95.000 Menschen in der Hansestadt; 25 Jahre später waren 120.000. Als William Lindley gut ein Jahr nach dem großen Brand der Rats- und Bürgerdeputation die Anlage eines neuen Sielsystems vorschlug, begegneten ihm zwar Skepsis und Sorge vor zu hohen Kosten. Doch Lindley bekam den Auftrag und Hamburg das erste kommunale Abwassersystem auf dem europäischen Kontinent.

Drei Jahre später betrug die Länge der Siele in Hamburg bereits elf Kilometer und entwässerte die Altstadt. Was sich heute relativ einfach anhört, war seinerzeit eine komplizierte Knochenarbeit. Einige der Siele mussten unterirdisch und mit großer Umsicht gebaut werden: Der Boden war weich und von Treibsand durchzogen, so dass die Gefahr bestand, dass Häuser absackten.

Lindley legte sich auf sieben Sielgrößen fest: Das kleinste hatte einen Durchmesser von 50 Zentimetern, das größte ein Profil von 1,72 Meter mal 1,42 Meter. Trotz der hohen Kosten trieb die Stadt den Bau des Systems voran. Schließlich waren die Verbesserungen im Alltag der Hamburger zu spüren.

Ende 1860 hatte das Sielnetz bereits eine Länge von 48 Kilometer erreicht und schloss weitere Teile der Altstadt, die Neustadt und St. Pauli ein. Der dritte Bauabschnitt zwischen 1871 und 1904 fiel in die Gründerzeit, in der Hamburg wirtschaftlich und bevölkerungsmäßig einen großen Sprung machte. Mit „strengen Vorschriften“ wurden Hausbesitzer mehr oder weniger gezwungen, ihre Gebäude an das öffentliche Sielnetz anzuschließen.

Diese Regel gilt bis heute: Die Strecke vom Inneren des Gebäudes bis zum öffentliche Siel liegt in der Verantwortung der Hausbesitzer. Inzwischen hat das Hamburger Sielsystem eine Länge von rund 5500 Kilometern erreicht. Nach dem Zweiten Weltkrieg galt es, die neuen Wohngebiete an das Sielnetz anzuschließen. Wie in den Anfangsjahren ist auch heute das Sielsystem kostspielig. Zwischen 90 und 100 Millionen Euro gibt das städtische Unternehmen Hamburg Wasser im Jahr für Instandhaltung und Modernisierung aus.

Inzwischen werden die Abwässer längst nicht mehr ungereinigt in der Elbe entsorgt. Nahezu das gesamte Abwasser Hamburgs wird im Klärwerk Köhlbrandhöft-Dradenau behandelt. Von den jährlich rund 150 Millionen Tonnen Abwasser bleiben lediglich 300 Tonnen nicht verwertbarer Reststoff übrig. Allerdings stellen inzwischen tropenartige Regengüsse für die Wasserwirtschaft eine große Herausforderung dar. Um zu verhindern, dass Abwasser auf Straßen oder in Keller fließt, wurde ein tief liegendes Sammler- und Transportsielnetz erbaut.