Die Zahl der Patienten, die in Kliniken statt beim Allgemeinmediziner Rat suchen, steigt kontinuierlich. Wartezeiten von bis zu vier Stunden sind an der Tagesordnung. Wie die Kliniken damit umgehen.
Eppendorf/Hohenfelde. Es ist früher Nachmittag gegen 13 Uhr, ein normaler Wochentag und eigentlich nicht eine Zeit jener berüchtigten „Wellen“, von denen Mediziner sprechen, wenn der Ansturm von Notfallpatienten in den Krankenhäusern besonders groß ist. Und dennoch ist der Andrang im UKE so groß, dass die zentrale Notaufnahme gesperrt werden musste.
Hier stehen schon jetzt viele Betten im Flur des hinteren Bereichs. Ein großer, alter Mann, noch in Jogginghose und Jacke, liegt schlafend auf einer solchen Liege, ein Tropf hängt über seinem Kopf. Eine junge Patientin sitzt wartend auf ihrem Bett, schaut gedankenverloren in den Flur. Nebenan schiebt eine Ärztin im blauen Kittel einen Wagen mit Computer an einen gelblich-blass aussehenden Mann mittleren Alters heran, fragt und beruhigt. Auch ihm ragt eine Kanüle aus dem Arm. Schwer atmend lässt sich ein anderer Mann mit dem orangenen Arbeitsanzug der Stadtreinigung auf einen Stuhl fallen, ein Schlauch hängt ihm in der Nase, der zu einer Sauerstoffflasche führt. Ärzte, Schwester, Pfleger eilen über den Gang, schieben Patientenbetten oder blicken auf flackernde Computerbilder „Ding, ding, ding“ – immer wieder dringt ein sonorer Ton in den Geräuschteppich aus leisen Stimmen, einzelnen Rufen, Klicken von Computertasten. Ein Alarm, der anzeigt, wenn sich in den Untersuchungsräumen eine Veränderung der per Monitor überwachten Patienten andeutet. Je schneller der Ton ertönt, desto kritischer die Situation. „Aktuell haben wir jetzt Sperrzeit“, sagt Ulrich Mayer-Runge, der Notfall-Koordinator am UKE ist. Sperrzeit bedeutet, dass für eine Stunde Rettungswagen die Notfall-Aufnahme einer Klinik nicht anfahren können, weil zu viele Patienten behandelt werden. Ärzte und Pfleger sind dann im vollen Einsatz – im hinteren Teil liegen die „ernsten Fälle“ in Betten, während sich vorne im Warteraum Patienten mit eher geringfügigen Beschwerden gedulden müssen.
Ein Zustand, der nicht selten ist in den Hamburger Krankenhäusern. Seit Jahren registrierten die Notfallabteilungen steigenden Zahlen. Zwischen fünf und zehn Prozent pro Jahr beträgt der jährliche Anstieg in Hamburg, heißt es bei der Deutschen Gesellschaft Interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin (DGINA). Einzelne Kliniken wie das UKE haben noch größere Zuwächse. Viele Gründe gebe es dafür, vermuten Notfallmediziner: Lange Wartezeiten bei den Fachärzten, Hausarztmangel, verändertes Anspruchsdenken. Vielfach kämen Menschen mit Beschwerdelagen, mit denen man früher nur zum Hausarzt gegangen sei, ergab jüngst eine DGINA-Studie.
Und manchem Patienten dürfte das umfangreiche Angebot von medizinischem Hightech und 24-Stunden-Betrieb gefallen, das ihn bei unklarem Krankheitsbild in den Kliniken erwartet. Sobald sich einer selbst als Notfall einschätze, werde er angenommen. „Wir weisen dann niemanden ab“, sagt Mayer-Runge. Auch wenn man dann lange warten muss, schreckt das offensichtlich nicht ab. Warum auch, wenn man einen Termin bei einem Facharzt oft erst in Wochen bekommt. Die Menschen wollen nicht warten, sondern sie hoffen direkt auf eine umfassende Behandlung, heißt es in der Gesundheitsbehörde.
Längst haben sich die Notfallaufnahmen in den Krankenhäusern geändert, oft steckt ein komplexes Organisationsbild dahinter. Kliniken arbeiten dabei mit unterschiedlichen Systemen. Vorbei sind überall die Zeiten, in denen der Pförtner die erste Entscheidung traf, wenn sich jemand beispielsweise vor Bauchschmerzen krümmend am Eingang meldete. „Gehen Sie mal in Haus 1“, hieß es dann früher. Heute steht am Anfang die professionelle Ersteinschätzung durch erfahren Pflegekräfte. „Triage“, so lautet der Fachbegriff. Eine Bezeichnung, die aus den früheren Feldlazaretten des Militärs stammt. Diese Einschätzung geschieht am UKE wie an den meisten anderen Kliniken nach einem Standardverfahren mit fünf Stufen und verschiedenen Farben. Rote Fälle sind schwer erkrankte oder verletzte Menschen, die meist schon von einem Rettungsarzt begleitet werden. Orange eingestuft werden ebenfalls klar zu erkennende ernste Situationen, gelb, grün, blau sind die weiteren Abstufungen. „Blaue Fälle“ sind relativ lapidar. „Husten, Schnupfen Heiserkeit“, wie es bei den Medizinern heißt. Je nach Farbe ist die maximale Wartezeit bis zu einem Erstkontakt mit einem Arzt geregelt. Rot sofort, Orange wartet nur, wenn es zu viele rote Fälle gibt. Gelb wartet eine Stunde, Grün zwei und Blau vier. In den Notfallaufnahmen stehen heute meist Fachärzte verschiedener Disziplinen dafür bereit.
Am UKE arbeitet man nach einem Rotationsprinzip zwischen Stationen und Notfallaufnahmen, einige Ärzte sind mittlerweile aber auch fest der Abteilung zugeordnet. Und dort in der zentralen Notaufnahme sind inzwischen auch Allgemeinmediziner beschäftigt – eben vor allem für jene Patienten, die früher eher zu Hausärzten gegangen wären.
Das ist ein Prinzip, für das sich die zentrale Notfall- und Akutmedizin im Hohenfelder Marienkrankenhaus schon vor mehreren Jahren entschieden hat. Das Haus gilt als älteste interdisziplinäre Notfallaufnahme Hamburgs, Chef Michael Wünning ist zudem Sprecher der Hamburger Notfall-Chefärzte. Der Aufnahme ist eine eigene Allgemeinpraxis angegliedert, die auch Krankschreibungen oder Rezepte ausstellen kann. „Wir sind aber keine Konkurrenz zu Hausärzten, wir sehen den Patienten nur einmal“, sagt Wünning.
Aber durch diese Struktur könne sehr viel Zeit gewonnen werden, gerade bei den weniger dringlichen Fällen. Auch im Marienkrankenhaus stehen aber selbst am Nachmittag Betten im Flur, eilen Ärzte und Schwestern herum. An einem Groß-Monitor leuchtet ein buntes Bild aus Kästchen, die eine Ablauftafel darstellen: Exakt lässt sich dort die Einschätzung für jeden Patienten erkennen, sehen, wer in welchem Raum liegt, welche Schwester dort war und ob es bereits einen Arztkontakt gegeben hat.
Wie im UKE gibt es spezielle Untersuchungsräume mit Außenzugang für hochinfektiöse Krankheiten, Schockräume für Schwerverletzte. Röntgengeräte, Ultraschall – ein komplettes Hightech-Programm. Allerdings eines, das quasi von den anderen Krankenhausabteilungen quersubventioniert werden muss, weil die modernen Notfallaufnahmen meist defizitär arbeiten. Dahinter steckt die komplizierte deutsche Gesundheitsfinanzierung, die im Krankenhausbereich mit Fallpauschalen arbeitet und die es den Krankenhäusern schwer macht, den heutigen Standard bei dem anhaltenden Patientenansturm zu halten. 33 Euro bringt heute eine durchschnittliche Notfallversorgung. Jede Auto-Inspektion ist um Vielfaches teurer.