Der Enkel des Versandhausgründers Werner Otto über sein Onlineprojekt Collins, den Erwartungsdruck im Hamburger Otto-Konzern, Abenteuerurlaube mit Vater Michael und die Kraft der Meditation.
Hamburg. Benjamin Otto wirkt ein wenig nervös. Unruhig schweift der Blick des 38-Jährigen über den Bildschirm seines Laptops, auf dem sich jetzt eigentlich der neue Internetshop About You öffnen sollte. Doch das Portal, das sich an junge, modebewusste Frauen und Männer wendet, will nicht so recht starten.
Gerade haben die Techniker des E-Commerce-Unternehmens Collins noch ein paar Änderungen an der aktuellen Version vorgenommen, und nun geht erst einmal gar nichts mehr. Dabei soll das neue Konzept doch den größten Konkurrenten des Hamburger Otto-Konzerns, Amazon und Zalando, in Zukunft das Fürchten lehren.
Nach etwas Wartezeit und dem Eingreifen eines Mitarbeiters startet der Internetshop dann doch. Der Chef zeigt, wie sich in den Angeboten aus Jeans, Jacken und High Heels stöbern lässt. Die Seite gliedert sich in zahlreiche Unterabteilungen, sogenannte Apps, die Smartphone-Nutzer von ihren Handys kennen.
An der einen Stelle können die Kundinnen ihre eigenen Taschen entwerfen. Ein Unterprogramm namens Nachteule zeigt, welcher Dresscode gerade in Angie’s Nightclub oder anderen Locations in deutschen Großstädten angesagt ist. Es gibt Apps, um sich aus der Kollektion im Do-it-yourself-Verfahren andere Klamotten zu basteln oder ein Angebot, das den Blick in die Schränke von Designern erlaubt.
„Die Kundinnen sollen auf unserer Seite stöbern und sich auf ganz neue Weise inspirieren lassen“, erläutert Otto. „Es geht um ein möglichst individuelles Shoppingerlebnis.“ Das Wichtigste, was das Angebot von anderen unterscheide, sei aber, dass „wir Ideen von außen zulassen. Jeder kann mit unserer Hilfe eigene Applikationen für die Plattform entwickeln.“ So übertrage man den Mitmachgedanken der sozialen Netzwerke auf den Onlinehandel.
Fast ein Jahr haben Benjamin Otto und seine mittlerweile rund 140 Mitarbeiter an dem Projekt mit dem Codenamen Collins gearbeitet. Haben sich abgeschottet in drei Büroetagen im Eppendorfer Christoph-Probst-Weg. So groß war die Geheimhaltung, dass die Tochtergesellschaft Otto-intern schon den Spitznamen Area 51 verpasst bekam – benannt nach der sagenumwobenen US-Militärbasis. Mehr als 100 Millionen Euro lässt sich der Gesamtkonzern, zu dem neben der Marke Otto auch andere Labels wie Bonprix oder Schwab sowie der Logistiker Hermes zählen, den Angriff auf die Konkurrenz kosten.
Die große Geheimniskrämerei dürfte vor allem mit der Person von Benjamin Otto zusammenhängen. Der hochgewachsene, schlanke Mann mit den großen, wachen Augen ist nicht ein einfacher Manager, er ist der Sohn des langjährigen Otto-Chefs und heutigen Aufsichtsratsvorsitzenden Michael Otto, 71. Und der Aufbau der neuen Onlineshops ist das erste Projekt, das er verantwortet, seit er im Herbst 2012 in den Familienkonzern eingestiegen ist. Gelingt es, könnte dies der erste Schritt auf seinem Weg an die Spitze des Konzerns mit weltweit fast 54.000 Mitarbeitern sein. Geht es schief, dürften schnell Zweifel an seinen Führungsqualitäten aufkommen.
Benjamin Otto hat sich viel Zeit gelassen bis zu seinem Wechsel ins Otto-Management. Er hat erst einmal eine Lehre zum Bankkaufmann absolviert, hat an der European Business School in London studiert und sich dann mit einem Unternehmen für intelligente Haustechnik selbstständig gemacht. Eine Geschäftsidee, die er von einem Besuch bei Microsoft-Gründer Bill Gates mitbrachte. Daraus ist mittlerweile eine Firmengruppe für Immobilienentwicklung entstanden.
„Der Aufbau einer eigenen Unternehmensgruppe, in der ich auch schwierige Entscheidungen treffen und die Verantwortung dafür übernehmen musste, war sehr wichtig für mich“, sagt er. „Ich wollte erst einmal meinen eigenen Weg gehen.“
Als Michael Otto seinem Sohn dann aber anbot, ein Projekt zu übernehmen, mit dem der Versandhandel „ganz neu gedacht“ werden sollte, sagte er zu. „Es fühlte sich für mich richtig an, zu diesem Zeitpunkt in die Otto Group zu kommen. Ich fand das Projekt ausgesprochen spannend, und es entsprach meinen Fähigkeiten und Fertigkeiten.“
Wie frei aber kann jemand entscheiden, wenn es um die Nachfolge in einem weltumspannenden Milliardenkonzern geht? Hätte es wirklich eine Alternative gegeben? Benjamin Ottos Schwester Janina hat sich, trotz eines wirtschaftswissenschaftlichen Studiums gegen den Weg ins Unternehmen entschieden. Sie lebte lange in Afrika und baute dort eine eigene Stiftung auf. „Mein Vater hat keinen Druck auf mich ausgeübt“, sagt Benjamin Otto. „Ich glaube, dass er es akzeptiert hätte, wenn ich mich anders entschieden hätte.“
Es gibt viele im Konzern, die den Junior wegen seiner herausgehobenen Rolle nicht gerade beneiden. „Er tut mir fast leid, wenn ich an die hohen Erwartungen denke, die in ihn gesetzt werden“, sagt ein hochrangiger Otto-Manager, der lieber nicht genannt werden möchte. „Natürlich wird er bei allem, was er tut, mit dem Vater verglichen.“
Wohl auch deshalb hat sich Benjamin Otto ganz bewusst dafür entschieden, nicht gleich einen Posten in der Konzernzentrale in Bramfeld zu übernehmen. Bei Collins ist die Atmosphäre lockerer als auf dem zentralen Otto-Campus. In Eppendorf teilt sich der Junior die Verantwortung mit Co-Geschäftsführer Tarek Müller, einem entspannten, technikbegeisterten Internetexperten mit Rastalocken und ausgewaschenem T-Shirt. Der 25-Jährige ist der eigentliche Kopf hinter Collins, spricht mit glühender Begeisterung über das Projekt.
Die Mitarbeiter duzen ihre Chefs, und es gibt Freigetränke, Yogakurse im Konferenzraum und Feierabendpartys. Mehrere Hunde wuseln zeitweise durch die Gänge, im Eingangsbereich hängen Fotos der Mitarbeiter an einem großen, aufgemalten Lebensbaum. Start-up-Feeling eben. Da scheint die Chefetage des Konzerns noch meilenweit entfernt. „Mir fällt es hier, abseits des Otto-Campus, möglicherweise leichter, frei und in ungewohnten Bahnen zu denken“, sagt Otto. „Sonst wäre da doch das Gefühl der Nähe groß.“
Wer Vater und Sohn kennt, der entdeckt aber schon erstaunliche Parallelen zwischen den beiden Männern. Da ist die gleiche, zurückhaltende und bedächtige Art, die gleiche Scheu, im Rampenlicht zu stehen. Bevor Benjamin Otto antwortet, macht er wie der Vater erst einmal eine Pause und sammelt seine Gedanken.
Beide verbindet auch ihre Begeisterung für das kalkulierte Abenteuer, für Reisen fernab der Zivilisation. Mit Anfang 20 ist Benjamin Otto von Marokko aus allein mit dem Jeep durch die Sahara gefahren, Michael Otto zieht es immer wieder nach Asien zu ausgedehnten Bergtouren. Auf Grönland haben Vater und Sohn mehrere Wochen zusammen im Zelt übernachtet unter einfachsten Bedingungen. „Trotz der Enge haben wir uns gut verstanden und sind uns wirklich gar nicht auf die Nerven gegangen“, sagt der Sohn mit einem Lächeln. Regelmäßig steht er auch jetzt mit seinem Vater in Kontakt, kurz vor Weihnachten haben sie sogar ein festes Ritual. „Dann treffen wir uns nur zu zweit in einem Restaurant und tauschen uns ganz bewusst über das vergangene Jahr aus.“
Die Ottos haben ihre Kinder trotz des immensen Reichtums, in den sie hineingeboren wurden, zu Sparsamkeit und Bescheidenheit erzogen. „Mein erstes Taschengeld als Achtjähriger betrug gerade einmal 50 Pfennig“, erinnert sich Benjamin Otto. Mit Autowaschen habe er sich das dann ein wenig aufgebessert. Auch die Themen Umweltschutz und Nachhaltigkeit, für die sich Michael Otto seit Jahrzehnten auf übergeordneter Ebene einsetzt, spielten im Alltag der Familie eine ganz praktische Rolle – vom Wassersparen beim Zähneputzen bis hin zur Mülltrennung.
Der Sohn hat viele dieser Werte für sich übernommen. Im Projekt Collins setzen sie wie selbstverständlich Energiesparlampen ein und vermeiden die Verschwendung von Papier. „Privat brauche ich keine Statussymbole“, sagt Benjamin Otto. Er habe natürlich weder eine Yacht noch einen Jet. Als er schon sein eigenes Unternehmen aufgebaut hatte, fuhr er noch immer einen VW Golf. Mittlerweile ist er allerdings zu einer deutlich größeren Limousine gewechselt, deren genauer Typ aus Sicherheitsgründen aber nicht genannt werden darf.
Glaubt man dem Milliardärsindex der Finanznachrichtenagentur Bloomberg, dann verfügt Benjamin Otto schon heute über ein Vermögen von rund 1,8 Milliarden Dollar. Er soll 12,5 Prozent am Familienkonzern halten, eine Zahl, die er weder bestätigen noch dementieren möchte. „Ich bin an der Otto Group beteiligt, über Größenordnungen sprechen wir aber nicht.“
Was bedeutet jemandem, der bereits ein beträchtliches Vermögen hat, überhaupt noch Geld, was Erfolg? „Mir ist bei Menschen vor allem der Charakter wichtig“, sagt Otto. „Erfolgreich zu sein heißt für mich, etwas zu erreichen und ein guter und anständiger Mensch zu sein.“
Und wie groß sind nun die Ambitionen auf den Vorstandsvorsitz des Konzerns, den bis 2016 auf jeden Fall noch der familienfremde, aber erfahrene Manager Hans-Otto Schrader innehat? „Ich konzentriere mich jetzt erst einmal ganz auf meine Aufgabe bei Collins“, sagt Benjamin Otto. „Es geht darum, ein gesundes Fundament für die kommenden Jahre zu schaffen.“ Er rechne, wie im Markt üblich, mit ungefähr fünf Jahren, um das Projekt in die schwarzen Zahlen zu führen.
„Ob ich nach Collins weitere Führungsaufgaben im Konzern übernehme, kann ich jetzt noch nicht sagen“, so Otto. „Das lasse ich auf mich zukommen.“ Einen Moment überlegt er und schiebt dann hinterher: „Dass ich keinen Druck verspüre, hat auch etwas mit meinen buddhistischen Ansichten zu tun, mit der Vorstellung loszulassen und die Dinge nicht zu erzwingen.“
Wie bitte? Der Erbe einer der reichsten Familien Hamburgs fühlt sich einer Weltanschauung verbunden, die im Verzicht auf alles Materielle den Weg zur Erlösung sieht? „Mich faszinieren am Buddhismus vor allem die Toleranz gegenüber anderen Religionen und der Gedanke, dass Glück nicht von Besitz abhängt“, sagt Otto.
Näher kennengelernt hat er den Buddhismus auf einer ausgedehnten Reise durch das Königreich Bhutan, das dem Streben nach immer mehr Wachstum und einem möglichst hohen Bruttoinlandsprodukt das Ziel des „Bruttonationalglücks“ entgegensetzt. Mehrere Wochen ist er durch den Himalajastaat gereist und hat viel Zeit in den dortigen Klöstern verbracht. „Das einfache Leben der Mönche hat mich sehr beeindruckt“, sagt er.
Zweimal täglich – morgens und abends – meditiert Otto selbst, macht darüber hinaus Yoga, um einen Ausgleich zum stressigen Zwölfstundentag im Büro zu haben. Wenn noch etwas Zeit bleibt, joggt er, spielt Tennis oder Beachvolleyball.
Was der Enkel von Konzerngründer Werner Otto sonst privat macht, darüber will er lieber nicht sprechen. Er ist auf der Hut, allzu viel über seine Person und sein Umfeld preiszugeben. Seine Freundin brachte er zwar zum 70. Geburtstag des Vaters vor gut einem Jahr mit, möchte sie aber möglichst von der Öffentlichkeit abschirmen. Ob die beiden heiraten oder eine eigene Familie gründen wollen? Kein Kommentar.
In jedem Fall versucht Otto, die Balance zu halten zwischen Beruf und Familie, bemüht sich, den Einfluss der Arbeit nicht übermächtig werden zu lassen. „Bei Freunden habe ich erlebt, dass energiegeladene, fröhliche Menschen ganz schnell ausbrennen können“, sagt er. Um dem generell entgegenzuwirken, hat er sogar eine eigene Stiftung, das von ihm geführte Burn-out-Prevention-Center gegründet.
„Von meinem Vater und auch meinem Großvater habe ich gelernt, dass auch im Unternehmen immer der Mensch im Mittelpunkt stehen sollte“, sagt er. Was aber, wenn sich solch hehre Ziele im immer schärferen Wettbewerb nicht mehr aufrechterhalten lassen? Der Otto-Konzern steht heute mächtig unter Druck, Konkurrenten wie Amazon zahlen niedrigere Löhne oder setzen auf automatisierte Läger, Angreifer wie Zalando verbrennen Millionen, um sich Marktanteile zu kaufen.
„Ich denke schon, dass sich die Werte, für die der Name Otto steht, auch unter den verschärften Konkurrenzbedingungen in der digitalen Welt verteidigen lassen“, sagt Benjamin Otto. Und in diesem Moment klingt er dann doch schon ganz wie der Mann, der den Gesamtkonzern in einigen Jahren in die Zukunft führen könnte. Auch wenn er davon jetzt noch nichts wissen will.
Zumindest stellt sich Benjamin Otto darauf ein, sehr lange im Familienunternehmen zu bleiben. „Ich fühle mich angekommen“, sagt er.