Der Barmbeker Sportverein hilft Frauen mit ausländischen Wurzeln ein Stück Kindheit nachzuholen. Ob Fahrradfahren, Schwimmen oder Steparobic: Die Sparte Frauensport International stößt auf gute Resonanz.

Barmbek-Nord. Es ist nicht der beste Tag, um in eine andere Dimension der Fortbewegung vorzustoßen. Über der Stadt hängen dunkle Wolken, die Luft ist regenschwer. Deutlich zu kühl für April. Aber die Frauen auf dem Sportplatz des SC Urania an der Habichtstraße lassen sich davon nicht abhalten. Sie wollen endlich aufs Rad. Aber es ist auch eine Überwindung. Luisa Yang sieht man das an, dann stellt die Chinesin den linken Fuß auf die Pedale und los geht’s. Erst mal wird gerollert. Auch die anderen sind kreuz und quer auf dem Platz unterwegs, als Claudia Duden das erste Mal laut klingelt. Das Zeichen für die nächste Übung. „Jetzt mit ein bisschen mehr Schwung und das rechte Bein länger in der Luft halten“, sagt die Fahrradlehrerin und zeigt, was sie meint. Luisa Yang startet sofort. Jetzt ist es nur noch ein kleiner Schritt, auch den zweiten Fuß auf die Pedale zu stellen – und loszuradeln.

„Es sieht so einfach aus, wenn man das bei den Kindern sieht“, sagt Emina Muharemi. Das ist nicht ihr richtiger Name. Den will sie wie die anderen Frauen nicht in der Zeitung öffentlich machen. „Es ist weniger peinlich, wenn man Goethe nicht gelesen hat oder nicht weiß, wo Tel Aviv liegt, als wenn man zugeben muss, nicht Rad fahren zu können“, erklärt Dana Pjanic, die aus Bosnien stammt. Sechs Teilnehmerinnen haben sich für den Anfängerkurs angemeldet, den der Barmbeker Sportverein für Migrantinnen anbietet.

Luisa Yang erntet immer Unglauben – jeder Chinese fährt doch Rad

Die Radnovizinnen kommen aus der Türkei, aus Mazedonien und Afghanistan. Luisa Yang ist in China geboren, in der Bergstadt Benxi im Nordosten des Landes. „Meine Eltern hatten immer Angst um mich. Deshalb habe ich den guten Zeitpunkt verpasst, Rad fahren zu lernen“, sagt die 37-Jährige, die sportlich aussieht und regelmäßig joggt. Auch während ihres Studiums sei sie nie dazu gekommen. Erst als die Informatikerin in Deutschland zu arbeiten anfing, ging ihr auf, dass ihr was fehlt. „Meine Kollegen waren sehr verwundert, dass ich nicht Rad fahren konnte“, erzählt sie. „Man denkt ja immer, alle Chinesen sind mit dem Fahrrad unterwegs.“ Irgendwann hat sie dann angefangen, um das Thema rumzureden.

Die Geschichten der anderen Teilnehmerinnen sind ähnlich. Bärbel Wagner ist die einzige Deutsche in der Gruppe. Sie hat als junge Frau zwar radeln gelernt, war dann aber fast mit einem Lastwagen zusammengestoßen. „Danach habe ich mich nicht mehr getraut“, sagt die 63-Jährige. Das will sie nun ändern. Bosnierin Pjanic nickt. „Ich habe gemerkt, dass es mir im Alltag fehlt“, sagt sie. Zum Beispiel beim Einkaufen. Immer mehr Menschen sind auf dem Rad unterwegs. „Ich bekomme richtig Sehnsucht, wenn ich Radfahrer an mir vorbeifahren sehen.“

Jetzt rollt sie eifrig auf dem roten Ascheplatz des SC Urania herum. An den ersten drei Kurstagen haben die Frauen auf großen Rollern geübt, am vierten kommt der Umstieg aufs Fahrrad. Es ist ein bisschen wie Spaghettiessen oder Schwimmen. Wenn man es beherrscht, kann man sich nicht vorstellen, es nicht zu können. „Am wichtigsten ist, dass die Frauen gleich Praxis haben“, sagt Claudia Duden. Die 50-Jährige ist zertifizierte Radfahrlehrerin, ansonsten gibt sie Yogakurse und ist als Fitnesstrainerin unterwegs. „Am schwersten ist es, locker zu lassen“, sagt sie. Und: „Man holt ein Stück Kindheit nach.“ Immer wieder fährt sie vorne weg, zeigt die Bewegungsabläufe.

Dahinter steckt Methode, vielmehr ein Konzept: „Moveo ergo sum“. Das ist Lateinisch und heißt so viel wie „Ich bewege mich, also bin ich“. Entwickelt hat es der Hamburger Christian Burmeister. Seit 1986 gibt er Radfahrkurse für Erwachsene. Inzwischen ist er in ganz Deutschland unterwegs, mehr als 30 lizenzierte Fahrradlehrer arbeiten nach seinem Ansatz. „Es geht nicht darum, etwas zu lehren“, sagt Burmeister. „Sondern darum, dass die Teilnehmer sich die Kunst des Radfahrens eigenständig aneignen. Von uns kommen nur die angemessen Übungen.“

Seit letztem Jahr werden die Fahrradkurse auch beim SC Urania geboten. Der Verein hatte 2012 als Teil des Programms „Integration durch Sport“ mit dem Hamburger Sportbund ein Projekt speziell für Frauen mit ausländischen Wurzeln initiiert. „Die Nachfrage war enorm“, sagt Jugendwartin Sylke Weise. Inzwischen sind die Barmbeker Stützpunktverein für Integrationssport. In der Sparte Frauensport International gibt es Fitnesstraining, Steparobic und Rückenfit, insgesamt an elf Terminen jede Woche. Finanziert wird das Vorzeigeprogramm aus Mitteln des Bundesinnenministeriums und der Stadt. Drei Frauen aus Marokko, Ägypten und Palästina haben einen Trainerschein als Übungsleiter gemacht. Auch ein Schwimmkurs wird angeboten. Im Sommer soll ein Inlinerkurs starten. In diesem Jahr werden vier Fahrradkurse angeboten, jeweils für zwölf Teilnehmerinnen. Auch in Altona gibt es seit neustem ein Angebot.

Die Fahrräder sehen aus wie stabile Klappräder, die Reifen haben einen Durchmesser von 20 Zoll. „Da kann man schnell absteigen“, sagt Emina Muharemi. Die 34-Jährige dreht gerade eine weitere Runde. Vorher hat sie erzählt, wie sie sich als Kind durchgemogelt hat – ohne Rad fahren zu lernen. „Aber bei meinen beiden Töchtern habe ich darauf geachtet“, sagt sie. „Das ist ein Stück Freiheit.“

In diesem Moment hat sie den zweiten Fuß in der Luft, und dann – wie selbstverständlich – tritt sie zum ersten Mal in die Pedale und sitzt auf den Sattel. Ein Strahlen geht über ihr Gesicht, während sie in weiten Bögen über den ganzen Platz radelt. „Das ist ein unglaubliches Gefühl“, sagt Emina Muharemi und lacht. „Wie Verliebtsein.“ Auch Luisa Yang macht die ersten Pedalumdrehungen. Ihr Ziel: Ein eigenes Fahrrad kaufen, und dann will sie bei den Cyclassics mitfahren.