Als Chef der Hamburger SPD-Fraktion ist Andreas Dressel wichtigster Problemlöser für Bürgermeister Olaf Scholz. Ein Gespräch über die Herausforderungen Rote Flora, Elbvertiefung und Schulpolitik.

Bis zur Bürgerschaftswahl fehlt noch ein Jahr – und in Hamburg gibt es ungelöste Probleme, wohin man blickt: Rote Flora, Elbvertiefung, Netzerückkauf und die Volksinitiative für die Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium, um nur einige zu nennen. Andreas Dressel, Vorsitzender der seit 2011 mit absoluter Mehrheit ausgestatteten SPD-Bürgerschaftsfraktion, hat längst die Rolle des Chef-Mediators für Senatschef Olaf Scholz übernommen. Die souveräne Art, mit der der 39-Jährige diese Rolle ausfüllt, hat ihn mittlerweile in den Kreis möglicher Nachfolger für den Fall aufrücken lassen, dass Scholz irgendwann nach Berlin wechseln sollte.

Hamburger Abendblatt: Herr Dressel, kennen Sie eigentlich diesen blöden Namenswitz, der über Sie kursiert?

Andreas Dressel: Ja, ich glaube ich weiß, was Sie meinen.

Die Stadt ist over-Dressel-ed.

Dressel: Das stammt aus Oppositionszeiten.

Damals waren Sie der Abgeordnete mit den meisten Kleinen Anfragen. Heute sind Sie einer der präsenteste Politiker der Stadt. Egal um was es geht, Dressel ist schon da. Nehmen Sie sich wie Sigmar Gabriel einen Tag pro Woche frei, um auch mal Ihre drei Kinder zu sehen?

Dressel: Nein, bei uns zu Hause läuft das anders. Zwar sind die Abende als Fraktionsvorsitzender meistens sehr lang. Aber dafür hat man morgens oft etwas mehr Zeit. Ich bringe jeden Tag die Kinder in Schule und Kita und übernehme häufig die Familieneinkäufe.

Beim Familieneinkauf kann man bekanntlich optimal entspannen.

Dressel: Ich schon. Für mich ist die Familie wirklich das Kraftzentrum. Auch und gerade weil es da mit drei Kindern manchmal lauter zugeht als in der Fraktion. Aber hier wie da gilt für mich dasselbe bekannte Motto: „Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“ Es bringt nichts, sich zu echauffieren oder zu verkämpfen bei Dingen, die man nicht ändern kann. Das kostet unnötig Kraft, die man besser sinnvoll woanders einsetzt. Aufregung bringt uns nicht weiter.

Sie gelten als jemand, der eher Übereinstimmung als Abgrenzung sucht. Es gibt unter Ihrer Führung öfter gemeinsame Gesetzesvorhaben mit der Opposition, obwohl Sie das mit der absoluten Mehrheit nicht machen müssten. Ist das Ihre Art der Beziehungspflege, um 2015 schnell einen Koalitionspartner zu finden?

Dressel: Nein, das entspricht vor allem meinem Politikverständnis. Ich bin der Auffassung, dass Regierung und Opposition oft gar nicht weit auseinanderliegen. Da ist es häufig sinnvoll, auch nach Gemeinsamkeiten zu suchen. Es wird ja auch von den Bürgern in der Regel nicht positiv wahrgenommen, wenn Politiker nur um des Streitens willen streiten.

Dauerharmonie passt aber auch nicht zur Politik. Schließlich soll um die besten Lösungen gerungen werden.

Dressel: Das hat mit Harmonie nichts zu tun, sondern mit der Suche nach konstruktiven Lösungen. Außerdem geht es bisweilen auch um Stilfragen. Ich fand es nicht gut, wie konfrontativ und bisweilen arrogant die CDU sich in den Jahren ihrer absoluten Mehrheit 2004 bis 2008 gebärdet hat. Da sind wir anders. Wir sind im Übrigen immer gut damit gefahren, wenn wir fest in der Mitte stehen. Und wenn wir das Gemeinsame suchen und nicht immer auf das Trennende verweisen. Das entspricht auch meinem eigenen Gemüt ganz gut.

Manchmal sind Kompromisse unmöglich. Beim Volksentscheid über die Energienetze etwa. Sie wurden von der Initiative knapp besiegt, und am selben Abend haben Sie Plan B aus der Tasche gezogen. Seitdem bereitet der Senat mit aller Kraft den Rückkauf vor, den er nicht wollte. Manche haben das als unglaubwürdig kritisiert.

Dressel: Es kann doch nicht unglaubwürdig sein, sich an demokratische Spielregeln zu halten. Alle Meinungsumfragen im Vorfeld haben gezeigt, dass es eine verdammt knappe Entscheidung werden wird. Insofern wäre es doch ziemlich naiv und politisch fahrlässig gewesen, sich nicht auch auf das Votum pro Rückkauf vorzubereiten, um rasch handlungsfähig zu sein. Wir haben vor den Kosten, Problemen, Risiken und Nebenwirkungen des Netzrückkaufs gewarnt. Zu Recht. Wir haben nie gesagt, dass es unmöglich ist, die Netze zurückzukaufen.

Die Energie und Geschwindigkeit, mit der sie an den Rückkauf gegangen sind, hat viele überrascht.

Dressel: Erstens gab es aufgrund der Fristen großen Zeitdruck. Und zweitens ging es auch darum, die starke Polarisierung in der Stadt wieder einzufangen, die Gräben wieder zuzuschütten. Man muss den Konflikt ja nicht unnötig verlängern. Zudem binden wir beim Rückkauf alle mit ein, die Gegner und Befürworter. Jetzt machen wir gemeinsam das Beste aus dem, was das Volk entschieden hat. Ich glaube, das ist gut so, auch für die politische Kultur in dieser Stadt.

Ist das in Wahrheit die höchste politische Kunst: den Standpunkt mühelos zu wechseln, wenn es nötig ist?

Dressel: So würde ich das nicht formulieren. Man muss natürlich in der Politik, wie überhaupt im Leben, flexibel sein – das aber von einem festen Standpunkt aus. Im Falle der Netze hätten wir das Nein besser gefunden. Nun lässt sich aber der Rückkauf auch offener gestalten, weil alle um die vorher diskutierten Risiken wissen. Es ist eher hilfreich bei der Umsetzung, dass jetzt alle die Faktenlage kennen.

Die Niederlage beim Volksentscheid war nur ein Teil einer ganzen Kette von Negativ-Ereignissen. Die Gartenschau lief schlecht, die Elbvertiefung wurde weiter vertagt, der Streit um Lampedusa-Flüchtlinge und Esso-Häuser eskalierte, die Zukunft der Roten Flora ist unklar. Sie haben kürzlich mal gesagt, es ziehe ein Gewitter mit finsteren Wolken durch.

Dressel: Eine der finstersten Wolken ist schon weg. Beim Bau der Elbphilharmonie geht es durch die gefundene Lösung voran. Wir haben den Netzerückkauf solide eingeleitet. Und bei der Elbvertiefung bin ich vorsichtig optimistisch, da eine Verweisung der Klage an den Europäischen Gerichtshof offenbar erst mal vom Tisch ist. Auch beim Thema Wohnungsbau sind wir voll im Plan. Derzeit sind über 11.000 Wohnungen im Bau. Bei der Roten Flora ist es ja vor allem der Eigentümer, der da jetzt als Provokateur auftritt.

Hat der SPD-Senat 2001 den falschen Käufer ausgesucht?

Dressel: Damals ging es darum, die schwierige Situation zu entspannen, was ja zunächst auch gelungen ist. Im Übrigen ist der Vertrag eindeutig. Wir gehen jetzt juristisch gegen den Eigentümer, Herrn Kretschmer, vor. Die Rote Flora soll bleiben, wie sie ist. Das ist ein breiter Konsens aller Parteien, auch der CDU. Wir haben Herrn Kretschmer ein gutes Angebot für den Rückkauf der Flora gemacht. Er sollte seinen Konfrontationskurs dringend überdenken.

Der politische Rückhalt für die Rote Flora hat radikale Demonstranten nicht abgehalten, am 4. Advent massiv Gewalt gegen Polizisten anzuwenden. Andererseits gibt es auch Vorwürfe gegen die Polizei, den Protestzug widerrechtlich gestoppt zu haben. Wie sehen Sie das?

Dressel: Die Bilder und Videos der Demonstration zeigen eindeutig, dass die Polizisten noch keine Helme aufhatten, als der schwarze Block schon auf sie zumarschierte. Das belegt, dass der Demonstrationszug gegen Absprachen zu früh losgezogen ist. Und die dann folgende Gewalt einiger Demonstranten ist sowieso durch nichts zu rechtfertigen. Wer als Demonstrant gewalttätig wird, höhlt damit auch das Demonstrationsrecht derjenigen aus, die friedlich protestieren wollen.

Unklar ist, was am 28. Dezember bei der Davidwache geschah. Die Version eines gezielten, politisch motivierten Angriffs auf die Wache musste die Polizei mittlerweile korrigieren. Dabei war dieser angebliche Angriff ein Hauptgrund für die Einrichtung der umstrittenen Gefahrengebiete.

Dressel: Es stimmt, dass die Polizei sich korrigieren musste. Es stimmt aber auch, dass es einen brutalen Angriff auf einen Polizisten gab, bei dem dieser schwer verletzt wurde. Das darf man nicht verdrängen. Im Übrigen wurde die Lagebeurteilung der Polizei keinesfalls nur mit den Ereignissen vom 28. Dezember begründet, sondern mit der gesamten Entwicklung der Wochen zuvor.

Kritisiert wurde, dass die Polizei allein über eine Maßnahme entscheidet, die stark in die Rechte der Bürger eingreift. Warum wird das nicht vom Senat entschieden? Oder von einem Richter?

Dressel: Es geht um eine polizeiliche Maßnahme, die von der Polizei nach Einschätzung der Lage eingesetzt wird. Und die SPD redet der Polizei nicht in ihre Taktik rein. Würde so etwas der Senat entscheiden, hätten wir eine politische Polizei. Das wollen wir nicht. Und auch ein Richtervorbehalt ist unseres Erachtens nicht nötig. Jeder Bürger kann ja vor dem Verwaltungsgericht klagen, wenn er die lageabhängigen Kontrollen für nicht gerechtfertigt hält. Die SPD-Fraktion hat gleichwohl auf die Diskussion reagiert. Wir wollen dem gesteigerten Informationsbedürfnis dadurch Rechnung tragen, dass die Bürgerschaft über den Einsatz dieses Instruments einmal pro Jahr detailliert unterrichtet wird.

Überregional und international gab es wegen Gefahrengebieten, Esso-Häusern und Flüchtlingspolitik viele negative Schlagzeilen über Hamburg. Hat der Senat dazu mit seiner harten Gangart nicht selbst beigetragen?

Dressel: Rückblickend denke ich, wir hätten über die genannten Fragestellungen noch besser und noch früher informieren können. Aber in der Sache sehe ich keine Fehler. Wir haben den Lampedusa-Flüchtlingen ein faires Verfahren wie allen anderen 10.000 Flüchtlingen angeboten. Wir haben in Hamburg in kürzester Zeit mehr als 2500 Plätze für Flüchtlinge geschaffen. Auch für die Bewohner der Esso-Häuser gibt es eine Lösung. Und dass die Lage sich inzwischen beruhigt hat, spricht auch für sich. Mancher Kritiker aus anderen Teilen der Republik wäre bei vollständiger Kenntnis der Fakten sicher zu anderen Schlüssen gekommen. Und die Tatsache, dass der Bürgermeister zeitgleich in einer repräsentativen Direktwahlumfrage 69 Prozent Zustimmung erzielt, rückt auch einiges an Kritik zurecht.

Aufregung gibt es auch in der Schulpolitik. Zum einen sind viele Eltern unzufrieden mit der nicht überall vorbildlichen Qualität der ganztägigen Betreuung an den Schulen ...

Dressel: Natürlich gibt es noch Kinderkrankheiten, als Vater erlebe ich das ja auch. Aber das System ist gerade erst eingeführt worden. Da muss sich einiges noch zurechtruckeln. Wir müssen versuchen, dass in einer Art Best Practice-Verfahren die Schulen mit Problemen bei der GBS von denen lernen, wo es jetzt schon sehr gut funktioniert. Ich bin überzeugt, dass es spätestens zu Beginn des nächsten Schuljahres überall ordentlich läuft.

... und zum anderen gibt es die Initiative G9-jetzt!, die an allen Gymnasien wieder das Abitur nach neun Jahren anbieten will. In anderen Bundesländern geht es auch vonseiten der Regierungen bereits in diese Richtung.

Dressel: Wir haben auf Basis eines breiten Konsenses den Schulfrieden beschlossen. Es gibt zwei gute Wege zum Abitur: G8 auf dem Gymnasium und G9 auf der Stadtteilschule. Das gibt es so in dieser Form in keinem anderen Bundesland. Die Schullandschaft in Hamburg ist eben eine andere als in anderen Bundesländern. Übrigens: Im Pisa-Siegerland Sachsen gibt es G8.

Dennoch gibt es viele Eltern, die G9 an Gymnasien wollen, weil sie den Druck von den Kindern nehmen, aber ihnen weiter die Qualität des Gymnasiums bieten wollen.

Dressel: Das hat auch damit zu tun, dass G8 sehr überstürzt eingeführt wurde. Wir müssen weiter dafür sorgen, dass die Belastung an den Gymnasien vor allem in der Mittelstufe nicht zu groß wird. Und gleichzeitig müssen wir die Stadtteilschulen weiter stärken. Aber jetzt erneut eine große Reform zu beginnen, das würde wieder ein riesiges Hin und Her bedeuten. Lehrerinnen und Lehrer würden sich nicht mehr um die Unterrichtsqualität kümmern, sondern um Raumplanungen und Umbauten. Wir müssten zum Beispiel viele Ausbaupläne für die weiterführenden Schulen stoppen. Besser ist es, die Schulen endlich einmal in Ruhe arbeiten zu lassen. Das sehen im Grundsatz alle fünf Bürgerschaftsfraktionen so. Trotzdem sind wir auch weiter mit der Volksinitiative im Gespräch. Gerade hier gilt: Miteinander reden ist besser als übereinander.

Herr Dressel, bis zur Bürgerschaftswahl fehlt nur noch ein Jahr. Was steht für die SPD bis Anfang 2015 noch auf der Agenda?

Dressel: Wir werden weiter unsere Wahlversprechen umsetzen. Der Wohnungsbau läuft sehr gut. Im August wird die Kita-Betreuung bis zu fünf Stunden kostenfrei. Wir werden weiter Straßen, Rad- und Fußwege sanieren und das Vorhaben vorantreiben, die S21 nach Kaltenkirchen, die S4 nach Bad Oldesloe und die U4 zu den Elbbrücken mit Umstieg auf die S-Bahn auszubauen ...

... und die Stadtbahn dann in der nächsten Wahlperiode?

Dressel: Wer jetzt eine Stadtbahn bauen will, der muss wissen, dass dafür die Projekte S21 und S4 gestrichen werden müssten. Im Übrigen gehen die Prognosen davon aus, dass das Aufkommen im öffentlichen Personennahverkehr so stark steigen wird, dass eine Stadtbahn das langfristig nicht schafft. Es ist sinnvoller, über den Bau neuer U-Bahn-Linien nachzudenken, wie es der Bürgermeister kürzlich ins Gespräch gebracht hat.

Was ist im Endspurt noch wichtig?

Dressel: Natürlich auch die Wahlen zu den Bezirksversammlungen und zum Europaparlament. In den Bezirken, die wir gestärkt und nicht geschwächt haben, wollen wir unsere Mehrheiten verteidigen – schon allein deshalb, damit der Wohnungsbau nicht ins Stocken gerät – denn das Baurecht schaffen mit möglichst guter Bürgerbeteiligung die Bezirke. Und bei den Wahlen zum Europaparlament haben die Hamburger alle zusammen eine Scharte auszuwetzen. Bei der letzten Europawahl hatten wir mit weniger als 35 Prozent die geringste Wahlbeteiligung in Deutschland. Ich wünsche mir eine Wahlbeteiligung von mindestens 40 Prozent. Alles andere wäre wirklich peinlich – gerade für eine so international orientierte Stadt wie Hamburg.