Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz spricht im Weihnachtsinterview über Gefühle in der Politik, über den Tod der kleinen Yagmur – und darüber, was ihn im Jahr 2013 persönlich verletzt hat.
Die Idee war, mit Olaf Scholz zum Ende des Jahres nicht nur über harte Politik zu reden, nicht nur über Volksentscheide und Koalitionen, sondern am Tag des 100. Geburtstags eines Gefühls-Politikers wie Willy Brandt auch über etwas, für das der Bürgermeister in der Öffentlichkeit nun gerade nicht bekannt ist: über Emotionen von Politikern, über Verletzlichkeit und den Umgang mit Niederlagen, wie Scholz sie im Jahr 2013 gleich mehrmals erlebt hat.
Dann kam die Nachricht vom Tod der drei Jahre alten Yagmur, die in Billstedt, so vermutet es die Polizei, von ihren Eltern so stark misshandelt wurde, dass sie an inneren Verletzungen starb.
Hamburger Abendblatt: Herr Bürgermeister, wieder ist ein Kind in Hamburg in einer Familie gestorben, die von Behörden betreut wurde. Auch diesmal sind offenbar fatale Fehler von Betreuern gemacht worden. Es ist nach Michelle, Jessica, Morsal, Lara Mia und Chantal das sechste Mädchen seit 2004. Was läuft schief in unserer Stadt?
Olaf Scholz: Das müssen wir jetzt unbedingt herausfinden. Es muss geklärt werden, was genau passiert ist. Ohne falsche Rücksicht. Seit Mittwochmorgen wird daran gearbeitet.
Was empfinden Sie persönlich?
Scholz: Der Tod des Kindes erschüttert die ganze Stadt, mich genauso. Mein Empfinden unterscheidet sich nicht von dem der Bürgerinnen und Bürger.
Wie viele Emotionen darf man sich als Politiker eigentlich erlauben?
Scholz: Denken Sie an den Kniefall Willy Brandts in Warschau oder an 1989, als die Mauer fiel. Emotionen gehören dazu. Die Vernunft ist ebenso unverzichtbar. In der politischen Arbeit gehören Herz und Verstand zusammen.
Willy Brandt wäre am Donnerstag 100 Jahre alt geworden. Er war ein sehr gefühlsbetonter Politiker und wurde dafür von den Menschen geliebt. Sie wirken bisweilen wie ein Gegenentwurf: Sie machen Politik ausschließlich aus dem Kopf, nicht aus dem Bauch, und Sie reden auch so. Ist Politik im Stile Brandts heute nicht mehr möglich?
Scholz: Doch. Allerdings käme ich nicht im Traum auf die Idee, mich mit Willy Brandt zu vergleichen. Ein guter Politiker darf nicht unberührt von dem bleiben, was um ihn herum geschieht.
Zugleich ist ein hohes Maß an Professionalität nötig. Das schließt sich nicht aus. Wir werden gewählt, um das Gemeinwesen gut zu organisieren. Mich bewegt zum Beispiel der Tod der kleinen Yagmur, den Sie angesprochen haben. Aber auch die Frage zum Beispiel, wie wir es schaffen, dass alle Jugendlichen heute eine Chance auf eine gute Ausbildung bekommen.
Sie selbst haben bei der Wahl zum SPD-Bundesvorstand kürzlich mit 67 Prozent das schlechteste Ergebnis von allen Kandidaten bekommen. Dabei sind Sie der einzige Ministerpräsident mit absoluter Mehrheit. Fühlen Sie sich ungerecht behandelt?
Scholz: Nö.
Das glauben wir Ihnen nicht.
Scholz: Es stimmt trotzdem. Über so etwas denke ich nicht nach. Es würde auch keinen Sinn machen, weil man sich allenfalls in einem Irrgarten aus Emotionen verliert, aus dem man nicht mehr herausfindet.
Man muss so etwas nehmen, wie es ist. Ich weiß, dass es in meiner Partei große Anerkennung für meine konstante Haltung in den Koalitionsverhandlungen gibt.
Sie nehmen das nicht als verletzenden Dämpfer wahr?
Scholz: Vielleicht ist das keine gute Antwort, aber die ehrlichste: Ich bin schon 55.
Wir sind auch keine 20 mehr und haben noch Gefühle.
Scholz: Ich habe ja nicht gesagt, dass ich keine Gefühle habe. Das Gegenteil ist richtig. Allerdings: Mit 55 Jahren weiß ich, damit umzugehen, dass Dinge mal gut laufen und mal weniger gut.
Natürlich sind Politiker Menschen, die Gefühle haben. Wenn das nicht so wäre, müsste man sich vor den Ergebnissen der Politik sehr fürchten. Politik ganz ohne Gefühl wäre unmenschlich.
Aber man braucht für gute Politik – wie schon gesagt – Professionalität und ein gewisses Maß an Gelassenheit. Beides habe ich mir durch viele Erfahrungen mit schwierigen Situationen über die Jahre angeeignet – in der Politik, aber zum Beispiel auch in meiner Arbeit als Anwalt.
Sie haben den Volksentscheid zu den Energienetzen verloren, die Gartenschau war ein Flop, die Elbvertiefung ist nicht gekommen. 2013 war nicht unbedingt ein gutes Jahr, oder?
Scholz: Das sehe ich anders. Wir haben dafür gesorgt, dass im laufenden Jahr wohl rund 10.000 Baugenehmigungen erteilt wurden. Es sind noch Plätze in Krippen und Kitas frei.
Wir haben die Ganztagsbetreuung an Schulen eingeführt. Wir haben mit den Jugendberufsagenturen ein Vorbild für Deutschland geliefert, das auch Eingang in den Koalitionsvertrag gefunden hat. Dadurch haben mehr junge Leute nach dem Ende ihrer Schullaufbahn eine berufliche Perspektive.
Zugleich sind wir erfolgreich mit unserer Einbürgerungsinitiative. Wir hatten im zu Ende gehenden Jahr 7206 neue Anträge auf Einbürgerung. 7251 Hamburgerinnen und Hamburger sind im Jahr 2013 deutsche Staatsangehörige geworden. Und die Probleme bei der Elbphilharmonie sind offensichtlich gelöst. Es gibt also eine ganze Reihe von Dingen, die sehr gut gelaufen sind.
Unbestritten. Das meiste haben Sie aber schon 2011 in die Wege geleitet. 2013 ist vieles nicht gut gelaufen. Wirtschaftssenator Horch hatte versprochen, dass die Elbvertiefung bereits 2012 beginnen sollte, nun kommt sie vielleicht 2015 – oder gar nicht.
Scholz: Natürlich hätten wir uns gewünscht, dass das Bundesverwaltungsgericht die Elbvertiefung schon freigegeben hätte. Dass nun erst Mitte 2014 verhandelt wird, liegt nicht an uns.
Die Stadt hat alles getan, was in ihrer Macht steht. Nach jahrelangem Stillstand haben wir den Planfeststellungsbeschluss, die Zustimmung unserer Nachbarländer Schleswig-Holstein und Niedersachsen und der EU. Nun hoffen wir, dass sich das in einer guten Gerichtsentscheidung niederschlägt.
Und doch: Sie haben zu früh zu viel versprochen.
Scholz: Wir haben nie gesagt, dass wir uns über Gerichte hinwegsetzen. Und wollen Sie denn wirklich Politiker, die immer nur sagen: „Wir wünschen uns, dass es klappt, sind aber nicht ganz sicher und geben Ihnen deswegen für alle Fälle noch 30 Fußnoten mit?“
Wir wünschen uns nur, dass keine falschen Ansagen gemacht werden. Politiker und Fußnoten, das gab ja schon bei Doktorarbeiten immer so viele Probleme. Aber im Ernst: Haben Sie einen Plan B, falls das Gericht die Vertiefung untersagt?
Scholz: Man darf sich das nicht schönreden. Das wäre ein großes Entwicklungshindernis für die Hamburger Wirtschaft. Die Perspektiven für Hafen und Logistik würden sich verschlechtern.
Diejenigen, die heute gegen die Elbvertiefung sind, würden dann vermutlich die lautesten Kritiker der Folgen einer entsprechenden Entscheidung sein. Das sind übrigens auch die gleichen, die vor der Airbus-Werkerweiterung in Finkenwerder sicher prognostiziert haben, dass die erhofften Arbeitsplätze nicht kommen. Tatsächlich sind heute sogar viel mehr Jobs entstanden. Aber die Kritiker haben bis heute nicht eingeräumt, dass sie sich geirrt haben.
Manche sagen, der richtige Plan B wäre: Hamburg muss von seiner Hafenfixierung wegkommen. Auch Ex-Finanzsenator Wolfgang Peiner hat kürzlich diese Frage aufgeworfen.
Scholz: 150.000 Arbeitsplätze in der Metropolregion hängen vom Hafen ab. Trotzdem ist es nicht so, dass andere Dinge deswegen nicht stattfinden. Wir geben für Bildung und Forschung drei Milliarden Euro pro Jahr aus.
Bis Ende des Jahrzehnts investieren wir noch einmal fast drei Milliarden Euro in Gebäude von Schulen und Hochschulen. Für den Hafen geben wir bis dahin rund eine Milliarde Euro aus.
Die Hamburger Wirtschaft ist sehr breit aufgestellt: Wir sind Medienstadt, eine Stadt mit Banken und Versicherungen, wir sind der weltweit drittgrößte Standort der Luftfahrtindustrie. Und wir werden gerade zur Hauptstadt der Windenergie. Von einer ausschließlichen Fixierung auf den Hafen kann also keine Rede sein.
Ein Thema, das die Gemüter erhitzt hat, ist der Streit um die Lampedusa-Flüchtlinge. War es wirklich klug, ausgerechnet in den Tagen, in denen vor Italien wieder viele Menschen ertrunken sind, in Hamburg den Druck auf die von dort gekommenen Flüchtlinge zu erhöhen?
Scholz: Beide Ereignisse hingen ja gar nicht miteinander zusammen. Das, was vor Italien geschehen ist, hat alle, auch mich, sehr berührt und bedrückt. Man muss wissen, dass Hamburg die fortschrittlichste Flüchtlingspolitik Deutschlands betreibt.
Wir haben sehr viele Flüchtlinge aufgenommen. Bei uns können Kinder von Eltern ohne Papiere die Schulen besuchen. Es gibt eine gesicherte medizinische Versorgung für sogenannte Papierlose. Wir sorgen dafür, dass Kinder aus Familien, die kein Asyl bekommen haben, nicht abgeschoben werden, sondern eine Perspektive bei uns bekommen – wenn sie zum Beispiel gerade einen guten Schulabschluss gemacht haben. Unsere entsprechende Bundesratsinitiative steht jetzt im Koalitionsvertrag.
Warum fällt es Ihnen dann so schwer, auch ein paar Dutzend Afrikanern, die über Lampedusa gekommen sind, eine Perspektive zu geben?
Scholz: Wir sind ein Rechtsstaat, und das hat eine sehr große Bedeutung. Es gibt klare Regeln und eindeutige Gesetze. Jeden Monat melden sich mehr als 300 Männer und Frauen aus aller Welt bei unseren Behörden und durchlaufen ein geregeltes Verfahren.
Dabei wird individuell festgestellt, wer sie sind, wo sie herkommen, ob sie verfolgt wurden und unter welchen Umständen sie bei uns bleiben könnten. Übrigens: Wir bringen mehr als 10.000 Flüchtlinge unter und wenden dafür dreistellige Millionenbeträge auf.
Ich bin ein Anhänger des Kant’schen Kategorischen Imperativs: Alles, was wir im Einzelfall entscheiden, muss geeignet sein, zu einem allgemeinen Gesetz erhoben zu werden. Und das bedeutet: Wir können nicht einer bestimmten Gruppe von Männern ein Sonderrecht einräumen – während sich eine viel größere Zahl anderer, etwa Familien aus zerbombten Städten in Syrien an das korrekte Verfahren halten.
Hört sich an, als seien Sie bei dem Thema ein wenig angefasst.
Scholz: Ja, das bin ich. Weil wir eingangs über Gefühle in der Politik sprachen: Mich trifft es, was für Ungeheuerlichkeiten in diesem Zusammenhang gesagt wurden. Mit unangemessener Rhetorik stellen militante Leute die liberalste Einwanderungspolitik der Bundesrepublik infrage, die wir hier in Hamburg nämlich machen. Wir haben als Erste einen Vertrag mit den Muslimen und Aleviten geschlossen, wir haben das erste Anerkennungsgesetz für ausländische Abschlüsse verabschiedet, wir haben eine große Einbürgerungskampagne gestartet. Und wir machen die erwähnte moderne Flüchtlingspolitik. Dass wir bei all dem als Rassisten beschimpft werden, verletzt.
Bis zur Bürgerschaftswahl 2015 ist nicht mehr viel Zeit. Was haben Sie sich für 2014 noch vorgenommen?
Scholz: Wir wollen das Wohnungsbauprogramm fortsetzen, und ich denke, dass wir unser Ziel der Fertigstellung von 6000 Wohnungen pro Jahr spätestens im Jahr 2014 erreichen. Von August an werden wir die halbtägige Betreuung in Kitas und Krippen gebührenfrei stellen. Und wir brauchen einen großen Sprung bei den Verkehrsinvestitionen. Was wir bis 2020 machen wollen, ist auf den Weg gebracht: Verlängerung der U4, S4 bis Ahrensburg und Bad Oldesloe, S21, barrierefreier Ausbau der Stationen mit Übergängen auf Fahrrad und Carsharing. Aber wir müssen 2014 auch mit den Planungen bis 2030 beginnen.
Also bauen Sie doch eine Stadtbahn.
Scholz: Nein. Eine moderne Stadtbahn bräuchte, anders als die gute alte Straßenbahn, Trassen, die ganze Stadträume zerschneiden würden. Außerdem wäre eine Stadtbahn nicht leistungsfähig genug und könnte weiter außerhalb liegende Gegenden nicht vernünftig anbinden. Wir müssen uns jetzt viel Größeres zutrauen: den Bau weiterer U- und S-Bahn-Strecken. Wir müssen jetzt die Verkehrssysteme bis 2030 und 2040 planen. Viele denken, die Stadt könne bleiben, wie sie ist. Sie wollen sich einrichten im Hier und Jetzt. Das ist aber falsch, das ist eine pessimistische, defensive Sicht. Wir brauchen einen optimistischen, hoffnungsfrohen Blick auf die Zukunft der Stadt. Und wir brauchen viel Tatkraft. Nur dann wird Hamburg weiter wachsen und gedeihen.