Bald soll der Bau des Konzerthauses beginnen. Den Verantwortlichen geht es um Geheimhaltung. Teil 3 der Elbphilharmonie-Serie im Abendblatt.
Im Kaisersaal zeigt sich die ganze Pracht des Rathauses. Die hohen Decken und die Wände sind prunkvoll verziert, große Kronleuchter spenden festliches Licht, ein dicker roter Teppich dämpft die Schritte. Im zweitgrößten Saal des Rathauses hat schon Kaiser Wilhelm II. diniert. Heute sind Bürgerschaftsabgeordnete, viele Journalisten und ungewöhnlich viele Besucher über die breiten Treppen in den zweiten Stock des Rathauses hinaufgekommen. Manchmal werden auch Sitzungen des Haushalts- und des Kulturausschusses mit Spannung erwartet.
Es ist der 16. Januar 2007. Es geht um die Elbphilharmonie. In drei Monaten soll der Bau beginnen. Heute haben die Abgeordneten die Chance, sich direkt bei den Verantwortlichen über das Millionenprojekt zu informieren.
Um 17 Uhr begrüßt der Vorsitzende Ralf Niedmers (CDU) Senatorin Karin von Welck, Hartmut Wegener, Pierre de Meuron, Christoph Lieben-Seutter und „ganz herzlich” die „Vertreter der Investorenseite”. Ist ihm wirklich nicht klar, dass es im Prinzip gar keine Investoren mehr gibt? Dass die Stadt längst selbst zum Hotel-Investor geworden ist?
Was dann folgt, kann man getrost als Märchenstunde bezeichnen. Von Welck wirbt für das „Wahrzeichen des 21. Jahrhunderts”, das zu einem „Festpreis” entstehen werde. Sie muss doch wissen, dass die Kosten für viele Bereiche des Baus bisher nur grob geschätzt sind. Eben deswegen sind ja so viele „Budgets“ gebildet worden.
Wegener spricht von einer „intelligenten Gesamtkonzeption“, nach der die „privaten Investoren“ einen erheblichen Teil der Kosten für die Hülle, das Dach und die Erschließung tragen. Und genau deshalb, sagt Wegener, „liegen die Baukosten für den öffentlichen Bereich im internationalen Vergleich hochkarätiger Konzerthallen niedrig“. Wegener sagt weiter: „Unwägbare Risiken bestehen nicht – Punkt.“ Und: „Das Kostenrisiko liegt allein beim Bieterkonsortium IQ2.“
Nur für den Fall nachträglicher Planungsänderungen durch die Stadt, erläutert er, könne es zu Kostensteigerungen kommen. „Dies werden wir, soweit irgend möglich, ausschließen.”
Die Fakten sind komplett andere: Die Umplanungen für einen dritten Konzertsaal sind in vollem Gange. Zwischen Hochtief und den Architekten herrscht planerisches Chaos. Deren Terminpläne sind nicht aufeinander abgestimmt. Die Investorenplanung ist nicht integriert. Die Stadt ist selbst Investor für Hotel, Parkhaus und Gastronomie und trägt das Risiko. Die Strabag hatte kein Angebot abgegeben, weil die Leistungsbeschreibung so ungenau gewesen sei, dass man noch 100 Millionen Euro oben drauf legen müsste, um das Risiko zu minimieren. Hochtief hatte gar gedroht, den Vertrag nicht zu unterschreiben. Wegeners Projektleiter hatte vor der Unterschrift gewarnt. Es gibt ernst zu nehmende Zweifel an der Tragfähigkeit des Speichers.
Von alldem erfahren die Bürgerschaftsabgeordneten und damit die Öffentlichkeit an diesem grauen Januarabend – nichts.
Der Auftritt von Ute Jasper passt da ins Bild. Die Vergabe-Rechtlerin in Diensten der ReGe wird gefragt, ob es „keine auch noch so kleine Hintertür für Kostensteigerungen gibt?” Jasper: „Ja, wir können sicher sein. Es ist ein Pauschalfestpreis, und Baukostensteigerungen führen nicht zu Preisanpassungen.“
Auf die Frage eines Abgeordneten, ob die Rücknahme der Vergaberüge von Strabag Geld gekostet habe, sagt von Welck: „Es ist in diesem Zusammenhang kein Geld an die Strabag geflossen.” Das ist ganz geschickt formuliert. Sie sagt aber nicht, dass die Stadt der Strabag ein Zahlungsversprechen in Höhe von drei Millionen Euro abgegeben hat. Auch eine diesbezügliche Schriftliche Kleine Anfrage der SPD-Abgeordneten Gesine Dräger an den Senat bleibt mit Hinweis auf den Schutz von Geschäftsgeheimnissen unbeantwortet.
Es ist ganz eindeutig: Den Verantwortlichen geht es in erster Linie um Geheimhaltung. Um Verschleierung. Sogar um Vertuschung. Transparenz wird nur gewährt, wenn es gute Nachrichten gibt.
Im Februar gründet die Stadt die Bau KG, eine Kommanditgesellschaft. Offiziell ist sie jetzt der Bauherr der Elbphilharmonie. Die Bau KG hat nur zwei Mitarbeiter: die beiden Geschäftsführer Wegener und Leutner. Mit der eigentlichen Arbeit wird die ReGe beauftragt. Warum das Ganze? Die Bau KG bekommt einen Aufsichtsrat, der Kontrolle ausüben soll. Seine Zusammensetzung wechselt mehrfach. Und je nach Personen wird in den kommenden Jahren mal mehr und mal weniger Aufsicht über das Millionenprojekt geführt.
Am 28. Februar stimmt die Bürgerschaft dem Vertragswerk einstimmig zu. Mit den Stimmen von CDU, SPD und Grünen. Nur zwei SPD-Stimmen fehlen, die der beiden Elbphilharmonie-Kritiker. Mathias Petersen bleibt der Sitzung fern, Thomas Böwer verlässt vor der Abstimmung den Saal und geht draußen auf dem Rathausmarkt eine Zigarette rauchen.
Es ist der 8. März 2007. Ein Donnerstag. Und noch vier Wochen bis zur Grundsteinlegung. Im Harburger ReGe-Büro kommt am Nachmittag ein Fax an: eine „PÄM“. Was so niedlich klingt, steht für Projektänderungsmeldung. Sie ist so etwas wie ein Wunschzettel zum Gelddrucken. Mit ihr zeigt das Bauunternehmen dem Auftraggeber an, dass es wegen Änderungen der Planung anders bauen wird als vertraglich vereinbart. Dadurch entstehen meist Mehrkosten. Jedenfalls dann, wenn die Pläne vom vertraglich vereinbarten Bausoll abweichen. Das ist nicht immer einfach zu entscheiden. Und somit eine Spielwiese für die Juristen.
Die PÄM vom 8. März ist die erste – es werden viele Hundert folgen. Die PÄM wird zum zentralen Begriff in der Geschichte der Elbphilharmonie. Ein Grund für eine PÄM ist, wenn die Planung bei Vertragsschluss noch nicht abgeschlossen ist. Ein zweiter, wenn Änderungen gewünscht sind. Beide Gründe sind im Übermaß vorhanden.
In Nummer 1 geht es um „Planänderungen bei der Zufahrt zum Parkhaus“. Anders als vertraglich vereinbart, soll es nunmehr eine getrennte Zufahrt zum Hotel und zum Parkhaus geben. Die Änderung ist vielleicht auch sinnvoll, kostet den Steuerzahler am Ende aber 67.393 Euro.
Der Grundstein ist noch nicht gelegt, da gehen Bauherr und Baukonzern aufeinander los. In der kommenden Woche kommen weitere Faxe. Es sind zwölf „Behinderungsanzeigen“ von Hochtief. Der Konzern sagt, es fehlen wichtige Unterlagen zur Rohbauplanung. Deshalb könnten sie nicht bauen. Vier Tage später widersprechen die Architekten den Anzeigen und machen ihrerseits Hochtief wegen „mangelhafter Schlitz- und Durchbruchspläne“ für Terminverzüge verantwortlich.
Die Partei, die zuerst die „Nichterfüllung einer Vorleistung“ bei der anderen Partei feststellt, kann daraus unverzüglich „Verzögerungsansprüche“ ableiten. All dies hat handfeste juristische und finanzielle Hintergründe. Wenn der Bau in Verzug gerät, wollen die Beteiligten belegen, dass nicht sie schuld sind: an der Verzögerung und den daraus resultierenden Mehrkosten.
Willkommen in der Kampfzone.
Die ReGe ist für solche Auseinandersetzungen hoffnungslos unterbesetzt. Leutner klagt über das gut organisierte „Claim-Management“ von Hochtief, also Schreiben über Behinderungen und Bedenken. „Sie kommen mit einer Schlagzahl, wie wir alle das noch nie erlebt haben.“
Noch vor Baubeginn ist klar, dass alle Beteiligten die Komplexität des grandiosen Bauwerks unterschätzt haben. Ein Beweis dafür liefert das Protokoll der Bauherrenbesprechung vom 26. März. Danach weist – eine Woche vor der Grundsteinlegung – sogar die Entwurfsplanung, also die architektonische Grundlage, noch an vielen Stellen große Lücken auf: „Die Abarbeitung dieser weißen Flecken erfolgt derzeit in Workshops getrennt nach den Bereichen Wohnen, Hotel, Gastronomie.“
Schon da wird den Beteiligten klar, dass vorgegebene Kosten und Termine nie zu schaffen sind. Zu groß sind die weißen Flecken. Um nicht auf den Kosten für die Bauzeitverzögerung sitzen zu bleiben, übernehmen immer mehr die Anwälte die Regie in Hamburg.
In Amerika wird bereits vor der Grundsteinlegung emsig für das neue Konzerthaus geworben. Eine illustre Runde mit Bürgermeister, Kultursenatorin und Generalintendant sowie Jacques Herzog, NDR-Chefdirigent Christoph von Dohnányi und NDR-Intendant Jobst Plog präsentiert das Projekt am 28. März in New York. Die berühmte Carnegie Hall ist Kulisse für die Kampagne.
Es ist noch ein Tag bis zur Grundsteinlegung, der 1.April. Und, kein Scherz, der erste Verantwortliche wirft die Brocken hin: Projektleiter Heribert Leutner verlässt die ReGe. Für Wegener eine „Flucht vor der Verantwortung“. Die Koordinierung der Terminpläne, die er bis zum 1. April organisieren sollte, ist noch immer in weiter Ferne. „Da hat er drei Monate Zeit gehabt, das hat er leider nicht hingekriegt“, sagt Hartmut Wegener.
Leutner war immer dagegen, ohne diese Voraussetzung den Bauvertrag zu unterschreiben. Das Verhältnis verschlechtert sich. Leutner dringt zu seinem Chef nicht mehr durch. „Irgendwann wird man auch müde.“ Für Leutner ist Wegeners Führungsstil „Mittelalter“. Wie er das meint? „Von Zielen, die er sich selbst gesetzt hat, steuert er auf einen Weg, der Widerspruch nicht ablehnt, aber Beratung auch nicht annimmt. Und von daher kommt es nicht zu der besseren Lösung, sondern zu dem vorgegebenen Ziel.“ Leutner steigt aus: „Weil es auch nicht besonders viel Spaß macht, mit einem Boot ins Rennen zu gehen, das von vornherein ein Leck hat.“ Das Leck wird Millionen Euro verschlingen.
Einen Tag später ist Grundsteinlegung. Rein symbolisch, denn der mächtige Kaispeicher steht ja längst. Es ist 12 Uhr mittags. Einen Teil der Töne, Händels „Feuerwerksmusik“, liefern Blechbläser vom NDR und den Philharmonikern. Ein anderer Teil des Rahmenprogramms kommt von einer Band namens Hot Schrott. Die Stimmung ist ausgelassen, vorfreudig, euphorisch geradezu. Es gibt Blitzlichtgewitter, Gratisgetränke und Schnittchen.
Auf einer kleinen Bühne im Erdgeschoss wird eine Kapsel aus Kupfer in den „Grundstein“ versenkt – mit einer Urkunde, aktuellen Tageszeitungen, einer Stifternadel, in Hamburg geprägten Euromünzen sowie einer Elbphilharmonie-Sondermünze. Diese Medaillen gibt es in 25 Millimeter Durchmesser mit einer halben Unze Feingold für 398 Euro und in 40 Millimeter mit einer Unze Feingold für 798 Euro. Sie wurden eigens für diesen Anlass von der Münzanstalt in Hamburg aufgelegt. Je nach Größe kommen 50 oder 100 Euro des Kaufpreises dem Bau zugute.
Von Beust spricht an diesem Tag von einem beeindruckenden Dokument hanseatischen Bürgerwillens: „Elite ja – elitär nicht. Wir haben Grund zu feiern, lassen Sie uns das tun.“ Henner Mahlstedt, Vorstandsvorsitzender von Hochtief, sagt: „Hamburg hat Feuer gefangen für ein Leuchtturmprojekt, das weit über die Stadt hinausstrahlen wird.“ Für Pierre de Meuron ist das Konzerthaus die „Krönung des ambitionierten Stadtentwicklungsprojekts HafenCity“. Wegener hat sich auf dem Festakt-Foto den Mittelplatz gesichert: „Vor uns liegen drei spannende Jahre. Wir sind zuversichtlich, den ambitionierten Bauplan einzuhalten, wenn der Wettergott gnädig ist.“ Ascan Mergenthaler sagt: „Wir haben einen richtig guten Surf.“
Nach der Feierstunde erhält jeder der rund 700 geladenen Gäste als Souvenir einen roten Backstein mit dem Datum der Grundsteinlegung.
Auch Thomas Möller bekommt einen. Der 48-Jährige ist in St.Peter-Ording aufgewachsen. Er hat noch drei jüngere Geschwister. Sein Vater hatte an der Nordsee ein kleines Bauunternehmen. Möller, der seit 1999 mit seiner Frau und den zwei Söhnen in Hamburg wohnt, war zehn Jahre bei der Bundeswehr. Letzter Offiziersrang: Hauptmann. Der groß gewachsene Mann ist nicht so leicht aus dem Konzept zu bringen. Schon seine Großmutter hat bei Hochtief gearbeitet, nun leitet Möller die norddeutsche Niederlassung des Essener Baukonzerns.
Die Elbphilharmonie ist auch sein Projekt. Möller liebt diese Stadt. Und er liebt seine Firma. Er will mit Hochtief und mit seiner Mannschaft das Jahrhundertbauwerk vollenden, aber er sagt auch während eines Gesprächs mit schöner Regelmäßigkeit den Satz, dass er vor allem seinen Aktionären gegenüber verpflichtet ist. Mit anderen Worten: Thomas Möller hat kein Geld zu verschenken. Rund 2,5 Millionen Euro, sagt er, habe den Konzern allein die Ausschreibung gekostet. Wenn Thomas Möller das Projekt erklärt, malt er zur Verdeutlichung mal eine Waage in Schieflage oder kleine Autos, lustige Quadrate oder komische Kreise mit Zahlen aufs Papier. Es macht Spaß, ihm zuzuhören. Aber beim Geld hört der Spaß auf.
Möller hat manchmal eine Mappe dabei, da steht vorne drauf: „Kulturbau“ und „Baukultur“. Die Elbphilharmonie, soll das heißen, ist ein Kulturbau, aber was ist mit der Baukultur unter den Beteiligten? Das fragt sich Möller noch heute.
Am 31. Mai setzt sich Thomas Möller ins Auto und fährt in die Lüneburger Heide. Ziel ist das Hotel Camp Reinsehlen auf einem ehemaligen britischen Truppenübungsplatz. Die ReGe hat alle Projektbeteiligten zu einem zweitägigen Gute-Laune-Workshop eingeladen. Motto: „Kooperation für die Zukunft.“ Denn nur acht Wochen nach Baubeginn liegen bereits 48 PÄMs mit Mehrkostenforderungen über gut drei Millionen Euro vor. So kann es nicht weitergehen.
Nun sitzen 38 Personen in einem großen Konferenzraum und stellen sich nacheinander vor. Sie sollen in zwei Tagen wieder zueinanderfinden. Hartmut Wegener schwört sie ein: „Meine Damen und Herren, wir bauen gemeinsam ein Weltprojekt.“
Es gibt auf dem weitläufigen Gelände einen Hochseilgarten, einen „Sinnespfad“ und ein „Lavendellabyrinth“. So weit, dass sich Architekten und Hochtief-Ingenieure gegenseitig in luftiger Höhe abseilen, kommt es nicht. Sie lauschen aber gemeinsam den Worten von Seminarleiter Gerhard Bittner. Der Coach berät Führungskräfte im oberen Management. Er hat drei Stelltafeln in dem großen Raum aufgebaut. Dann fordert er die Teilnehmer auf: „Schreiben Sie bitte Ihre Erwartungen auf, die Sie an die anderen haben.“ Architekten, Hochtief-Mitarbeiter und die Leute von der ReGe nehmen sich kleine bunte Kärtchen und formulieren ihre Wünsche. Was sie von der jeweils anderen Partei erwarten? Terminsicherheit, steht da. Zuverlässigkeit und Kostenbewusstsein.
Bittner stellt eine „kooperative Grundhaltung“ und „Aufbruchsstimmung“ fest. Auch menschlich kommen sich die Teilnehmer näher. Abends an der Bar trinken der Architekt Mergenthaler und der Ingenieur Möller zusammen ein, zwei Bierchen.
Die unterschiedlichen Interessen aber bleiben. Hier die Architekten, von denen Bittner nicht gedacht hat, „dass sie solch eine Macht haben“. Dort die Ingenieure, „die sich über die unzähligen Planänderungen aufregen“. Und dazwischen „ziemlich hilflose ReGe-Mitarbeiter“, wie Bittner findet.
Wegener hofft, dass die Parteien wieder eine Gesprächsbasis finden. Dass aus Gegnern Gesellen werden. Die sich vielleicht auch mal über andere Dinge austauschen als über unfertige Pläne, verzögerte Abgabetermine oder Behinderungsanzeigen. Möller redet wirklich gerne. Aber er sagt, keiner könne von ihm erwarten, dass er Geld zu verschenken habe.
Bei der ReGe ersetzt vom 1. Juni an Anette Kettner den ausgeschiedenen Heribert Leutner als neue Projektleiterin. „Termine und Kosten sind nicht mein Spezialgebiet“, sagt sie. Die Stadt hat in dieser entscheidenden Phase kein eigenes Fachpersonal im Bereich Kostensteuerung. Ein „Anti-Claim-Management“, um den ständigen Hochtief-Forderungen zu begegnen, existiert nicht. Die PÄMs werden kaum bearbeitet. Erst 18 (!) Monate später wird bei der ReGe Stefan Kaden dafür eingestellt werden. An seinem ersten Arbeitstag stapeln sich 142 PÄMs auf dem Schreibtisch des Bauingenieurs.
Es gibt große und kleine PÄMs. Welche zum Schmunzeln und welche zum Fürchten.
Im prachtvollen Foyer des Konzerthauses sollen an den Wänden Sitzbänke für die Besucher installiert werden – nicht auf dem Boden stehend, was wohl zu einfach wäre für einen Herzog & de Meuron-Bau, sondern an den Wänden hängend. Weil aber nicht klar ist, welche Dübel wie an der Wand befestigt werden sollen und ob das nun Teil der Entwurfsplanung der Architekten oder der Ausführungsplanung des Generalunternehmers ist, zeigt Hochtief erst einmal eine Behinderung an. Man hätte sich diese mit einem Griff zum Telefon sicher auch sparen können.
Ein anderes Kaliber hat PÄM 58. Sie geht bei der ReGe per Schreiben vom 12. Juni 2007 ein. Es geht um Planänderungen zur Gründung im zweiten Untergeschoss – also um die 1111 Pfähle. Sie reichen nicht mehr aus. Professor Grabe hatte bereits im Oktober 2006 gewarnt, nun sind weitere Lasten im geplanten Gebäude hinzugekommen. 650 zusätzliche Stahlbetonpfähle müssen in den Boden gerammt werden. Höhe der Forderung von Hochtief: 5,9 Millionen Euro. Die Bau KG weist die PÄM 58 zurück. Wegener empfindet die Hochtief-Forderung als „Mondpreis“ und versieht das Schreiben mit einer handschriftlichen Anmerkung: „So etwas nehmen wir nicht an! Urschriftlich zurück, Herrn Dr. Möller: unsubstantierte Unverschämtheit.“ Am Ende kostet sie 1,35 Millionen Euro.
Die Planänderungen ziehen sich durch das gesamte Gebäude. Zur „Optimierung der öffentlichen Nasszellen“ werden anfangs Papierhandtuchhalter für 957 Euro und ein Toilettenpapierhalter für 159 Euro brutto das Stück ins Auge gefasst – und später verworfen.
Weil der Einbau von Wandlautsprechern im Backstagebereich ein besseres Erscheinungsbild gibt als der Einsatz von 14 Deckenlautsprechern, werden für PÄM 213 Mehrkosten von 17.000 Euro fällig.
Eine Rampe zur Plaza wird zwecks besserer Begehbarkeit nachträglich mit Stufen für eine zusätzliche Treppenanlage aufbetoniert. PÄM 115 erzeugt Mehrkosten von 139.000 Euro.
Die Mehrkosten für ein geändertes Flutschutzkonzept, PÄM 21.2, betragen 175.000 Euro.
PÄM 69 wäre zu vermeiden gewesen, wenn die ReGe auf ihr Beratungsunternehmen Assmann gehört hätte. In dessen Projektstatusbericht steht deutlich: Der Vorplatz der Elbphilharmonie kann nicht für das Aufstellen der Baucontainer genutzt werden. Dennoch planen die Architekten weiter mit dem Vorplatz – und das fließt auch in den Vertrag ein. In einer Besprechung bei der HafenCity GmbH wird erneut festgehalten, dass der Vorplatz nicht für die Container zur Verfügung steht. Das Ende vom Lied? Hochtief baut auf im Wasser befestigten Pfählen eine „Containerburg“. Als das Unternehmen dafür die PÄM 69 einreicht und 1,089 Millionen Euro zusätzlich fordert, weist die ReGe das zunächst zurück. Am Ende kostet PÄM 69 den Steuerzahler 537.755,06 Euro.
Auch die Umstellung der Gebäudekühlung von Elbwasser auf Elb- und Grundwasser, die wegen einer EU-Verordnung veranlasst wurde, schlägt mit 1,5 Millionen Euro zusätzlich zu Buche.
Bis zum 18. Juni reicht die PÄM-Liste schon bis Nummer 75, die Mehrkostenforderungen von Hochtief liegen nur knapp unter zehn Millionen Euro.
Viele PÄMs basieren auf einem grundlegenden Missverständnis. Als nämlich der Ursprungsvertrag im Dezember 2006 geschlossen wurde, konnte der Planungsstand noch gar nicht die Zusammenführung der Pläne von Hochtief für die Investorenbereiche, also vor allem für das Hotel, mit der übrigen Planung des Gebäudes berücksichtigen. Zumal sich dort laufend etwas ändert. Diese Zusammenführung, genannt: Integration der Investorenplanung, geschieht erst durch nachträgliche Workshops, die bis Juni 2007 dauern. Daraus ergibt sich ein Planungsstand vom 18. Juni 2007. Der Architekt Ernst Höhler sagt zur Investorenplanung: „Da ist Konfliktpotenzial ohne Ende.“
Die „Integration der Investorenplanung“ sorgt als PÄM 100 für heftige Auseinandersetzungen: Die ReGe geht davon aus, dass dieser neue Planungsstand vom 18. Juni 2007 nun das vertragliche Bausoll darstellt. Und Hochtief deshalb gar keine Mehrkosten geltend machen kann. Für Hochtief dagegen war das Bausoll durch den Planungsstand bei Vertragsabschluss, also Ende 2006, definiert. Und jede nachträgliche Änderung verursacht Mehrkosten – für die Stadt.
Bei PÄM 100 geht es um acht Millionen Euro. Die ReGe-Anwälte unterstützen zunächst die städtische Sichtweise, verweisen aber ab Mitte 2008 plötzlich auf „ein nicht unerhebliches Prozessrisiko“. Hochtief droht dann auch wirklich mit einer Klage. Die Klärung dieser Frage kostet die Stadt schließlich 3,645 Millionen Euro.
Der Aufsichtsrat der Bau KG trifft sich am 19.Juni 2007 erstmals in Harburg am Veritaskai. Um 17Uhr sitzen im Büro der ReGe am Tisch: Volkmar Schön, Chef der Senatskanzlei. Herlind Gundelach, Staatsrätin in der Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt (BSU), Detlef Gottschalck (CDU), Staatsrat der Kulturbehörde sowie Hans Hinrich Coorssen, Haushaltsdirektor in der Finanzbehörde – allesamt per Senatsbeschluss berufen. Besonders viel Ahnung vom Bauen hat keiner von ihnen.
Darum hat Hartmut Wegener gebeten, dass auch der Architekt Jan Störmer in das Gremium soll. Störmer hatte mit dem gemeinsamen Brief der Hamburger Architekten an den Bürgermeister ziemlich genau vier Jahre zuvor die Realisierung des Projekts nicht unwesentlich beeinflusst.
Dass es auf der Baustelle eine Unmenge von Problemen gibt, wird nicht thematisiert, sagt Störmer. Von PÄMs ist nicht die Rede. Es gibt Kekse. Störmer spricht später von einer gelösten Stimmung. Auf die Frage nach Kostenrisiken sagt Wegener, dazu könne man frühestens im Oktober etwas sagen, wenn sich die Integration der Investorenplanung bewerten lasse.
Volkmar Schön wird zum Vorsitzenden gewählt. Warum? „Es gab den starken Wunsch von Herrn Wegener, dass ich die Funktion übernehme, damit er nicht in der Behördenwelt zermahlen wird“, sagt Schön. Und Ole von Beust findet es auch gut, denn anders als bei vorherigen Projekten wie der Airbus-Werkserweiterung will Wegener diesmal wegen vieler Details direkt mit dem Bürgermeister sprechen. Meist kommt er nur bis zu Schön, der also immer häufiger mit Wegener konferiert. Und sich überlegt, dass er dann auch in den Aufsichtsrat gehen könne. „Dann muss Wegener nicht mehr ins Rathaus kommen.“
Schön fungiert somit auch als eine Art Puffer. Das funktioniert: Laut einer Auflistung der Senatskanzlei gibt es zwischen November 2006 und dem 7. März 2008 keinen Wegener-Termin mehr bei von Beust.
Es geht also weniger darum, dass Schön das Projekt für das Rathaus steuern sollte, sondern eher darum, es vom Bürgermeister fernzuhalten. Dies führt zu einer ziemlich laxen Kontrolle der ReGe. Ein verhängnisvoller Fehler, wie von Beust später einräumen wird.
Schaut man sich die Quartalsberichte an, wird überdeutlich, wie sehr die Realitäten geschönt werden. Im Quartalsbericht der ReGe vom 30. Juni über das 2. Quartal 2007 ist unter „Planung Generalplaner“ zu lesen: „In der Gesamtbewertung wurde festgestellt, dass in Anbetracht der Kürze der Planungszeit eine gute Planungstiefe erreicht ist.“ Zu den Kosten heißt es: „Voraussichtlich werden die Mehrkosten zwischen 0,98 und 1,5 Millionen Euro zzgl. Finanzierungskosten liegen.“ Tatsächlich aber hat Hochtief mit Stand vom 18. Juni 2007 bereits Forderungen in Höhe von 9,4 Millionen Euro angemeldet. Das ist mehr als das Sechsfache.
Für das dritte Quartal ist in den Akten der ReGe kein Quartalsbericht auffindbar.
Im vierten Quartalsbericht vom 31.Dezember 2007 fehlt das sonst enthaltene Kapitel „Kostenentwicklung“. Lapidar heißt es: „Zu möglichen Kostenfolgen kann derzeit keine Aussage getroffen werden.“ Tatsächlich hat Hochtief bis Ende 2007 Forderungen in zweistelliger Millionenhöhe geltend gemacht.
Es gibt aber auch gute Nachrichten. Ende September 2007 wird bekannt gegeben, dass der Unternehmer Peter Möhrle (Max Bahr) die Rechnung für die Orgel im Großen Saal übernimmt. Zum Festpreis von rund zwei Millionen Euro. Mit der Spende verbunden ist offenbar auch die Namensgebung. „Wir gehen im Moment davon aus, dass die Orgel Peter-Möhrle-Orgel heißen wird“, erzählt Kai Möhrle, ein Sohn des Spenders.
Auf der Wunschliste der Kulturbehörde steht ein „viermanualiges Instrument“ (also mit vier Tastaturen) mit etwa 65 Registern, mit einer mechanischen Traktur und einem zweiten, elektrisch fahrbaren Spieltisch. Die Klangcharakteristik soll sich insbesondere für ein Repertoire ab dem 19.Jahrhundert eignen, aber „auch zeitgenössischen Ansprüchen genügen“, wie es heißt.
Die Papierflut und damit der Druck auf die ReGe-Mitarbeiter wird indes so groß, dass sich Hartmut Wegener am 25.Oktober nicht mehr anders zu helfen weiß: Er ordnet an, alle Architektenpläne ungeprüft an Hochtief weiterzuleiten – damit sie nicht verspätet beim Konzern ankommen.
Bei der Stiftung Elbphilharmonie inszeniert man weiter gute Laune. Am 7.November verkaufen 41 Promis auf St. Pauli ihre ganz persönlichen Lieblingsstücke an 200 geladene Gäste. Den Panoramablick im Atlantic Haus auf die Elbphilharmonie gibt es gratis. 32.400 Euro kommen zusammen. Ole von Beusts rote Hamburg-Krawatte bringt 600 Euro, bezahlt vom Insel-Händler Farhad Vladi. Für das Sechsfache geht ein signierter Hocker-Prototyp weg, den die Elbphilharmonie-Architekten für ihren Neubau des De Young Museums in San Francisco entworfen haben. Ein silbernes Tischfeuerzeug, von dem sich Hartmut Wegener trennt, kommt auf 330 Euro. Schlusslicht auf der Liste: eine Pfeife von Innensenator Udo Nagel für 100 Euro.
Wenige Tage später treten Beust und Wirtschaftssenator Gunnar Uldall an Wegener heran. „Die Elbphilharmonie baut sich jetzt doch von selbst, aber im Hafen gibt’s Probleme. Wollen Sie nicht Hafenchef werden?“ Wegener antwortet: „Die Elbphilharmonie ist ein sehr schwieriges Projekt und baut sich überhaupt nicht von selbst.“
Wegener weiß, dass er irgendwann die Katze aus dem Sack lassen muss. Aber wann ist der richtige Zeitpunkt für die Hiobsbotschaften? So schnell wie möglich oder erst nach der Wahl im Februar kommenden Jahres?
Am 26. November findet die 2. Aufsichtsratssitzung der Bau KG statt. Dort oder wenig später, genau weiß das kein Beteiligter mehr, sagt Wegener zu Schön: „Wir müssen nach der Wahl mal reden.“ Schön: „Brennt es?“ Darauf Wegener: „Nee, aber nach der Wahl müssen wir mal reden.“ Auch bei Beust meldet Wegener Gesprächsbedarf für nach der Wahl an. Der Bürgermeister stimmt zu, er habe im Wahlkampf ohnehin genug andere Dinge um die Ohren.
Im Dezember 2007 entspinnt sich zwischen ReGe und den Architekten ein Briefwechsel, der exemplarisch aufzeigt, auf welches Himmelfahrtskommando sich die Stadt mit der Vertragskonstruktion eingelassen hat. Nämlich damit, die Architekten ab Leistungsphase 5 nicht „unter dem Generalunternehmer“ weiterplanen zu lassen. Da es immer wieder Diskussionen mit Planern und Baukonzern über die Frage gibt, was eine Planfortschreibung und was eine wirkliche Planänderung ist, fordert die ReGe die Architekten jetzt auf, ab sofort mit jedem Plan klar abzugrenzen, um was es sich handelt. Der Grund: Eine Fortschreibung ist durch den Vertrag abgedeckt, kostet also nichts. Eine Änderung kann Millionen verschlingen.
Darauf antworten die Architekten mit dem Schreiben vom 10. Dezember, das sei bei einem so komplexen Projekt „nicht vollständig möglich“. Sie stellen klar: „Eine Nachweisführung, dass es sich bei der jeweiligen Planung um eine Fortschreibung handelt, wird durch uns nicht erfolgen.“
Die Antwort der ReGe am 18. Dezember: „Wenn Sie Änderungen an dem vereinbarten vertraglichen Bausoll vornehmen, sind diese von der ReGe freizugeben. Es liegt in Ihrem Verantwortungsbereich zu differenzieren, ob es sich bei einer Änderung um eine Planfortschreibung oder eine Änderung zum Vertrag handelt.“
Doch so schnell geben sich die Weltarchitekten nicht geschlagen. Vier Monate später schreiben sie an die ReGe, sie können „nicht abschließend“ bewerten, ob „Planfortschreibungen auf Grundlage des mit Hochtief geschlossenen Vertrages“ für die Stadt kostenneutral sein werden. Mit anderen Worten: Herzog & de Meuron machen ihre Änderungen, und wenn der Baukonzern dann sagt, das kostet mehr, ist es das Problem der Stadt. Wegener sagt dazu: „Der Architekt sieht sich nicht als Partner der Stadt, sondern als eigenständige dritte Kraft.“
Und so kämpft die ReGe Ende des Jahres 2007 ziemlich aussichtslos – an zwei Fronten. Am 21. Dezember holt sie sich deshalb teure Unterstützung und beauftragt die Kanzlei Heiermann Franke Knipp (HFK) mit einer „baubegleitenden Rechtsberatung“. Erste Aufgabe der Anwälte: Sie verfassen Stellungnahmen zu den Nachtragsforderungen von Hochtief. Dass die Lage immer weiter eskaliert, können sie nicht verhindern.
Der Vertrag, der vor einem Jahr unterzeichnet wurde, erweist sich Ende 2007 als völlig unzureichend. Ein Dreivierteljahr nach Baubeginn droht die ReGe zum Spielball zwischen Hochtief und Herzog & de Meuron zu werden.
Das Jahr 2008 beginnt mit einer Korrektur. Oder soll man sagen: Manipulation? Die Kulturbehörde schickt am 24.Januar 2008 ein Schreiben an Wegener. Dabei geht es um das Protokoll einer Bauherrenbesprechung vom 20. Dezember 2007: Wegener möge doch einen Passus aus dem Protokoll entfernen. Was dann auch geschieht.
Die entsprechende Passage lautet: „Der Projektkoordinator bestätigt, dass das Ausschreibungsverfahren im Jahre 2006 u.a. aus wahltaktischen Gründen… unter erheblichem Zeitdruck durchgeführt wurde und man sich aus diesem Grunde zwischen ReGe, Kulturbehörde und Planer einig gewesen war, in den Ausschreibungsunterlagen mit sogenannten Platzhaltern zu arbeiten.“ Wahltaktische Gründe? Wurde deswegen so überstürzt ausgeschrieben, damit der Bau auf jeden Fall noch vor der Bürgerschaftswahl im Februar 2008 begonnen wird? Ist das der wahre Grund für den ganzen Schlamassel?
Dass auf der Baustelle längst keine vernünftige Zusammenarbeit mehr stattfindet, gibt es sogar schriftlich. In einem Protokoll des Jour-fixe-Treffens vom 1. Februar 2008 wird festgehalten: „Herr Wegener fordert, dass es zu einer Verbesserung der Zusammenarbeit kommen muss, damit keine offenen Gegnerschaften entstehen. Herr Rehaag (Hochtief) erklärt, dass diese Gegnerschaften bereits existieren.“
In der Stadt aber herrscht noch immer der Eindruck vor, bei der Elbphilharmonie laufe alles nach Plan. Das Ergebnis der Bürgerschaftswahl am 24.Februar zeigt, wie wenig die gewaltigen Probleme des Jahrhundertprojekts nach außen gedrungen sind: Die CDU verliert zwar die absolute Mehrheit, bleibt aber mit 42,6 Prozent klar stärkste Partei. Von Beust bildet erstmals in der Bundesrepublik eine schwarz-grüne Koalition auf Länderebene.
Ein kleiner symbolischer Akt, Tag eins nach der Wahl: Karin von Welck, alte und neue Kultursenatorin, lädt wieder einmal ins Senatsgästehaus. Der Sieger des Orgelbau-Wettbewerbs steht fest. Es ist die Firma Klais aus Bonn, ein Traditionsunternehmen, das weltweit liefert. Die Besonderheit des Entwurfs: Einige Pfeifen sollen mitten im Rang des Großen Saals platziert werden.
Im März rückt Hartmut Wegener mit der bitteren Nachricht heraus. Zuerst am 7. März in einer handschriftlichen Notiz mit Zündstoff. „Risikobericht Wegener an BGM I i. Zus. mit Koalitionsvereinb. ca. 50 Mi. Mehrkosten.“ BGM I ist das Kürzel für Erster Bürgermeister. Und 20 Tage später, in einem Gespräch, bei dem auch von Welck und Finanzsenator Michael Freytag dabei sind, nennt er erstmals drohende Mehrkosten von 50 Millionen Euro. „Die Zahl an sich war in der Tat dramatisch“, sagt von Beust. Der Bürgerschaft wird diese Summe jedoch nicht mitgeteilt.
In den Antworten auf zwei Anfragen des SPD-Abgeordneten Michael Neumann gibt der Senat am 4.April 6,95 Millionen Euro Mehrkosten an, die „aus den Mitteln für Unvorhergesehenes gedeckt sind“.
Bei der ReGe verfolgt Hartmut Wegener jetzt die Strategie, die PÄMs zu sammeln, um eine Paketlösung zu erreichen. Einen großen Nachtrag 3, bei dem es nur noch darum geht, dass die Mehrkosten in zwei- und nicht in dreistelliger Millionenhöhe anfallen. Der Regierungswechsel beschert ihm ein weiteres Problem: Reinhard Stuth (CDU) löst im Mai Detlef Gottschalck als Staatsrat der Kulturbehörde ab. Der Jurist mit der Fliege wird zum erbitterten Gegenspieler des mächtigen ReGe-Chefs.
Am 19.Mai wird Stuth in einem vertraulichen Schreiben von Thomas Delissen aus der Kulturbehörde über die völlig verfahrene Situation informiert. „Herr Wegener steht derzeit mit Blick auf den Baufortschritt im Verhältnis zu dem Generalplaner und dem Generalunternehmer stark unter Druck, da auf beiden Seiten ca. 60 Personen zunehmend Differenzen aufbauen, die inzwischen über die hauseigenen Anwälte ausgetragen werden“, schreibt er. Es sei nicht absehbar, dass „die ReGe mit ihrer kleinen Mannschaft“ diese Konflikte so weit bremsen könne, dass „keine weiteren Verzögerungen eintreten“.
Ende Mai wissen alle Insider, dass wohl nur noch ein Gipfeltreffen beim Bürgermeister den ganz großen Knall verhindern kann. „Die Hütte brannte lichterloh. Wir wussten, dass uns das Ding um die Ohren fliegt“, formuliert ein Insider. Ein anderer drückt es fast wortgleich aus: „Im Sommer 2008 war klar, dass der Hut brennt.“
Auch die Architekten haben das Hamburg-Abenteuer unterschätzt. In manchen Sitzungen, so schildern es Beteiligte, hissen die Planer jetzt „die weiße Fahne“, weil sie mit dem Zeichnen der Pläne nicht mehr nachkommen. „Das schaffen wir nicht, das können wir nicht“, stöhnen sie im Hamburger Büro. Das Personal wird immer weiter aufgestockt: von zwölf über 32 auf 77. Viele jüngere Architekten sind dabei. Bei der ReGe nennen sie die Truppe intern etwas spöttisch „Abteilung Jugend forscht“. Aber natürlich arbeiten auch erfahrene Architekten an der Elbphilharmonie. „Wir haben eine gute Mischung aus jungen, kreativen als auch sehr erfahrenen Architekten, die je nach Projektphase entsprechend ihrer Qualifikation eingesetzt werden“, sagt Pierre de Meuron.
Obwohl Hochtief bei den Nachtragsverhandlungen mit der ReGe im Mai Listen mit konkreten Zahlen vorlegt – unstrittige PÄMs 19,3 Millionen, strittige PÄMs 35,3 Millionen – findet sich dieses Forderungsvolumen über 54,6 Millionen Euro mit keinem Wort in der Drucksache 19/520, mit der der Senat die Bürgerschaft im Juni über den Projektstand informiert. Dabei hatte Jochen Margedant aus der Kulturbehörde in einem Vermerk vor dieser „Salamitaktik“ gewarnt: „Auf eine Bezifferung der Risiken sollte daher nur verzichtet werden, wenn zugleich deutlich kommuniziert wird, dass bereits jetzt wahrscheinlich Kostenrisiken im deutlich zweistelligen Millionenbereich bestehen. Ohne eine solche Grundlinie würde man sich später dem Vorwurf aussetzen, nicht transparent berichtet zu haben.“ Auf ihn wird nicht gehört.
Gleichzeitig beschließt der neue Senat, dass nun die Kultur- statt der Baubehörde für die Bau KG zuständig sein werde. „Die Verlagerung der Gesamtverantwortung für die Elbphilharmonie auf die Kulturbehörde war unter anderem ein Vorschlag von Herrn Wegener“, sagt Karin von Welck. „Ich habe dies begrüßt, da meine Mitarbeiter und ich den Eindruck gewonnen hatten, dass sich die anderen Behörden nicht mit dem Engagement, das wir uns gewünscht hätten, um das Projekt Elbphilharmonie kümmerten.“
Wegener ahnt noch nicht, dass sein Wunsch auch sein Ende in diesem Projekt besiegelt.
Von Welck stellt fest, dass sich mit der Übernahme ihrer Zuständigkeit das Verhältnis zu Wegener „rapide verschlechtert“. Er weigere sich, seiner Berichtspflicht nachzukommen. Sie beginnt zu glauben, dass der ReGe-Chef mit dem Projekt überfordert ist. Und setzt sich beim Bürgermeister für die Entlassung Wegeners ein.
Selbst engste Mitarbeiter von Wegener gehen in diesen Wochen mehr und mehr auf Distanz. Und das hat handfeste Gründe.
Am frühen Abend des 18. Juni geht im ReGe-Büro in Harburg ein Fax von Hochtief ein, das bei den Mitarbeitern einen Schock auslöst. Erstmals hat der Generalunternehmer die Bilanz der wahrscheinlichen Bauzeitverlängerung von nunmehr 50 Monaten mit einer Zahl hinterlegt: „90 Millionen Euro“, steht da schwarz auf weiß.
Am Tag darauf begeben sich Wegener und sein Geschäftsführer Peters gemeinsam zur Aufsichtsratssitzung. Auf dem Weg drängt Peters seinen Chef: „Also entweder geben Sie die Zahl bekannt, oder ich werde es von meiner Seite aus bekannt geben.“ Wegener will erst nicht. Peters besteht darauf. „Herr Wegener, wir sind berichtspflichtig und müssen wesentliche geschäftliche Vorkommnisse mitteilen.“
Die Zahl wird dann in der Sitzung verkündet. „Das ist der Bruch mit Wegener gewesen“, sagt Peters. Die Aufsichtsräte schlucken heftig an den 90 Millionen.
Knapp zwei Wochen später sorgt die Zahl dafür, dass im Bürgermeistersaal die Fetzen fliegen wie selten einmal zuvor. Eigentlich geht es um zwei Zahlen. 95 Millionen Euro. Und 64 Millionen Euro.
Es ist der 1. Juli 2008 und die desolate Lage auf der Baustelle führt zum Gipfel beim Bürgermeister. Von Beust hat eine hochkarätige Runde mit drei Senatoren sowie den Spitzen von Hochtief und Herzog & de Meuron für 15Uhr in den Bürgermeistersaal geladen, um „über den Projektstand, den eingetretenen Zeitverzug und zu erwartende Risiken“ zu sprechen. Der Schlusssatz in der Einladung lautet: „Dieses besondere Projekt zum Erfolg zu führen kann nur gemeinsam gelingen. Und alle Beteiligten werden daran gemessen.“
Als Erstes präsentiert Hochtief-Chef Henner Mahlstedt auf einer Stelltafel die kritische Vertragskonstruktion und dann die vier zentralen Probleme: unvollständige Planung, Schnittstellenproblematik, PÄM-Verhandlungen, Terminplan. Dann schlägt er eine Seite um. Und nun ist es für alle sichtbar: In einer Spalte stehen die 95 Millionen Euro für die Bauzeitverlängerung – und links daneben 64 Millionen Euro für ungesicherte Kosten.
Spätestens jetzt ahnen die Verantwortlichen, dass da eine Nachforderung in dreistelliger Millionenhöhe auf die Stadt zukommt. Für manche kommt sie aus dem Nichts.
Dann wird es laut. Henner Mahlstedt und Pierre de Meuron streiten sich heftig darüber, wer nun wem welche Pläne schuldet. Es wird hitzig. 20 Minuten geht das so – die anderen schweigen betreten.
Ole von Beust ist ziemlich verblüfft. Zum einen über die Höhe der Mehrforderungen, die er zum ersten Mal hört. Zum anderen über die Heftigkeit der Auseinandersetzung. Von Beust hält „Schweizer eigentlich für ziemlich ruhig und gelassen“. Und nun der Zoff in seinem Zimmer. Seine Hoffnung war, dass man aus diesem Gespräch fröhlich geläutert nach Hause geht. Jetzt ist das Gegenteil der Fall.
Verabredet wird also ein zweites Gipfeltreffen. Es findet am 29. Juli statt. Und diesmal werden die Streithähne vorsorglich getrennt. Sie tragen nacheinander vor. Henner Mahlstedt legt einen Entwurf für Nachtrag 3 über 144 Millionen Euro vor. Wegener sieht sich die „Explosionsgrafik“ kurz an und sagt dann: „Und im Himmel ist Jahrmarkt.“ Er weist auch den neuen Fertigstellungstermin April 2011 empört zurück.
Nach dem Treffen bittet Wegener Mahlstedt zum Vieraugengespräch in sein Büro. Der ReGe-Chef macht vehement deutlich, dass die Hochtief-Forderungen „völlig absurd“ seien. Damit werde er sich nicht ernsthaft auseinandersetzen. Mahlstedt sagt, dass Wegener immer irgendeine Zahl aufgerufen hat und gesagt habe: „Mehr gibt’s nicht.“ Das aber sei nicht die Ebene, so Mahlstedt, auf der er verhandele. Die beiden Männer reden aneinander vorbei.
Am 8. August stellt Wegener das Scheitern der Verhandlungen fest. „Die Positionen liegen zu weit auseinander.“ Jochen Margedant nennt das Problem in einem Begleitvermerk unmissverständlich beim Namen: Hartmut Wegener. „Insgesamt akzeptiert er eine Überprüfung seines Handelns in nur sehr eingeschränktem Umfang.“ Es sei nicht gelungen, den Projektkoordinator „von der Notwendigkeit einer transparenten und zeitigen Unterrichtung der jeweils politisch Verantwortlichen zu überzeugen“. Die Folge: Alle Beteiligten seien „von der Dramatik der Entwicklung überrollt“ worden.
Noch aber ist Wegener im Spiel. Es folgen weitere Vieraugengespräche mit Mahlstedt. Zwei harte Verhandler prallen aufeinander. Die ReGe bietet 58 Millionen Euro. Mahlstedt senkt seine Forderung von 144 auf 119 Millionen, sagt Wegener. Und hält fest, „dass beide Seiten die Möglichkeit einer Einigung sehen, die Positionen aber noch recht weit auseinanderliegen“. Nämlich 60 Millionen Euro. Beim nächsten Termin am 12. September solle aber eine Einigung erzielt werden.
Das Verhältnis zwischen Kulturbehörde und Wegener verschlechtert sich zusehends. Staatsrat Stuth fühlt sich von dem ReGe-Chef schlecht informiert und vermisst eine offene Risikoanalyse: „Es war eigentlich immer alles auf einem guten Weg.“ Schließlich verlangt er, dass Wegener nur noch in Begleitung eines Behördenvertreters verhandeln solle, was Wegener ignoriert. Jochen Margedant schreibt, ob es noch verantwortbar sei, Wegener weiterhin allein verhandeln zu lassen. „Diese Entscheidung muss vor dem 12.09.2008 getroffen werden.“ Dem Tag des entscheidenden Vieraugengesprächs.
Für dieses Treffen erteilt der Aufsichtsrat Wegener am 10. September ein Verhandlungsmandat über 75,2 Millionen Euro. Die Bedingung dafür: endlich abgestimmte Terminpläne zwischen Generalplaner und Hochtief – und die Fertigstellung des Bauwerks im Herbst 2011. In seiner Tischvorlage, zwei Seiten im DIN-A4-Format, die Wegener vor diesem Treffen verteilt, behauptet er, es gebe bereits einen verbindlichen Terminplan zwischen Planern und Baukonzern – mit 22.000 Einzelpositionen.
Tags darauf wird in der Bauherrenbesprechung bekannt, dass es noch keinen synchronisierten Terminplan gibt. Sondern nur einen „Letter of Intent“ (LOI), also eine Absichtserklärung der Architekten, den Terminplan zu vereinbaren. Und diesen Letter of Intent hat ReGe-Geschäftsführer Dieter Peters nicht einmal mit unterschrieben. „Ich unterschreibe keinen LOI, dem nicht ein zwischen Hochtief und dem Generalplaner abgestimmter Zeitplan zugrunde liegt“, sagt er. Und rückt endgültig von seinem Chef ab.
Daraufhin greift Staatsrat Stuth zum Telefon, ruft Wegener an und entzieht ihm das Mandat für die Verhandlungen unter vier Augen: „Herr Wegener, ich möchte nicht, dass Sie auf dieser Basis Verhandlungen führen. Und wenn Sie dennoch Gespräche führen, dann nur, wenn ein Vertreter der Kulturbehörde dabei ist.“ Wegener weigert sich: „Sie sind ja nur stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender.“ Stuth erklärt ihm, dass er im Auftrag des Vorsitzenden Volkmar Schön handele.
Hartmut Wegener hält nichts von Stuth. Der habe „nun überhaupt keine Erfahrung im Bauwesen“ und meint, sich jetzt plötzlich in die Schlussverhandlungen einmischen zu können. Und von Wirtschaft verstehe der auch nichts. Wegener sagt, das habe Stuth sogar zugegeben. Aber hinzugefügt, er kenne Leute aus der Wirtschaft, und die hätten ihm gesagt, es gebe dort überhaupt keine Vieraugengespräche. Wegener reagiert kopfschüttelnd. „Also in welcher Welt er da lebt, weiß ich nicht.“
Am Freitag, 12. September 2008, fliegt Wegener nach Frankfurt und trifft sich – entgegen der ausdrücklichen Anweisung von Staatsrat Stuth – zu einem dreieinhalbstündigen Gespräch mit Mahlstedt auf dem Flughafen. Wegener sagt anschließend, dort konnten „alle wesentlichen Punkte bereits vorab geklärt werden“. Mahlstedt sagt: „Es hat keine Annäherung oder belastbare Zahlen gegeben und schon gar keine Einigung.“
Der Termin für das offizielle Verhandlungsgespräch zum Nachtrag 3 ist auf den 17. September verschoben, weil Mahlstedt krank wird. Wegener bittet zuvor um ein Gespräch mit Beust im Rathaus. Er will wissen, ob er nach dem Disput mit Stuth noch die Rückendeckung des Bürgermeisters hat.
Beim Bürgermeister aber ist der Zeitpunkt erreicht, „um die Reißleine zu ziehen“. Er hat kein Vertrauen mehr in das Verhandlungsgeschick seines ReGe-Chefs. Zu oft sage Wegener, er stehe kurz vor einer Einigung, kurz vor dem Durchbruch, ganz kurz davor. Doch zu einer Einigung kommt es nie. Dem Bürgermeister platzt der Kragen.
Von Beust legt Wegener den Rücktritt nahe. Wegener sagt erneut, er stehe doch kurz vor dem Durchbruch mit Hochtief. „Es ist klüger, wenn Sie gehen“, bekommt er zu hören. Wegener akzeptiert schließlich. Am Ende des Gesprächs umarmen sich die beiden Männer kurz.
Wegener ruft Mahlstedt an, der gerade in Hamburg gelandet ist, und informiert ihn über seinen Abgang. Sein Nachfolger wird ein alter Bekannter: Heribert Leutner kehrt als Chef zur ReGe zurück.
Und auf der Baustelle? Vom 2. Oktober an hat die HafenCity nicht nur eine, sondern zwei Elbphilharmonien. Auf den Magellan-Terrassen wird ein Pavillon eröffnet, in dem das 1:10-Akustikmodell seine endgültige Heimat findet. Mit direktem Blick auf das große Original also. Treppe hoch, und dann kann man wie Gulliver seinen Kopf durch den Konzertsälchen-Boden stecken. Eine kleine Entschädigung für die Touristen, die in immer größeren Mengen um die Baustelle kreisen. Der 10x10x10-Meter-Kubus aus Glas und Stahl ist 32 Tonnen schwer. An den Außenwänden sind 20 „Hörmuscheln“ angebracht, um hören zu können, was noch nicht da ist. Kostproben der Elbphilharmonie-Konzertprogramme.
Direkt nebenan rüstet die ReGe auf. Am 9. Oktober wird Johann C. Lindenberg neuer Aufsichtsratschef der Bau KG. Karin von Welck hatte ihn angerufen. „Ich stehe aber nicht zur Verfügung“, hat der ehemalige Deutschlandchef von Unilever der Senatorin gesagt. Und sich dann immerhin bereit erklärt, einmal vorbeizukommen,um sich ein Bild von der Lage zu machen. Er lehnt noch ein zweites Mal ab. Dann bittet auch Ole von Beust ihn, das Amt zu übernehmen. Wenig später ist Lindenberg nicht nur Mitglied, sondern gleich Vorsitzender. „Man muss der Gesellschaft auch etwas zurückgeben“, sagt er sich schließlich.
Außer Lindenberg ziehen auch Wilhelm Friedrich Boyens (von der Personalberatung Egon Zehnder International), Senatsdirektor Michael Pelikahn, Jens-Ulrich Maier (Geschäftsführer bei ECE, die Einkaufszentren bauen und betreiben) und der Ingenieur und Professor Eckart Kottkamp in das Aufsichtsgremium ein.
Positiver Nebeneffekt für den Senat: Mit der Umbesetzung ist Senatskanzleichef Volkmar Schön aus der Schusslinie. Der betont, es gehe darum, mehr Kompetenz in den Aufsichtsrat zu bekommen. Außerdem will er sich ganz auf die schwarz-grüne Koalition konzentrieren, denn er ist auf CDU-Seite neben von Beust die entscheidende Integrationsfigur des Bündnisses.
Der Aufsichtsrat beschließt als Erstes die Einrichtung eines Bauausschusses als beratendes Gremium. Vorsitzender des Gremiums wird Kottkamp, dazu kommen Frank Tappendorf und Peter Waldheuer (ECE) sowie Frank Twesten (Projektentwickler), Christoph Lieben-Seutter und Thomas Delissen (Kulturbehörde).
Lieben-Seutter sorgt kurz darauf für einen Eklat. Bei einer NDR-Podiumsdiskussion „Elbphilharmonie – Millionenchance oder Millionengrab?“ wird der Österreicher am 22. Oktober live aus London dazugeschaltet. Er habe momentan überhaupt keine Planung für die Elbphilharmonie, sagt er. Er würde „am liebsten ein Sabbatical einlegen“ und wiederkommen, wenn alles fertig wäre. Die Kommunikation zu dem Projekt lasse zu wünschen übrig. „Und weil es so komplex ist, sind alle Beteiligten überfordert.“
Die Zuhörer trauen ihren Ohren kaum. Es sei nicht sein Tag gewesen, entschuldigt Lieben-Seutter später seinen „beschissenen“ Auftritt. Spekulationen über Rücktrittsabsichten machen in diesen Tagen die Runde. Lieben-Seutter: „Ich habe schon oft über Rücktritt nachgedacht, aber ich glaube, das geht jedem so, der in einer komplexen Situation steckt.“ Er bleibe.
Es ist November 2008. Der Monat, in dem sich entscheiden wird, um wie viele Millionen Euro die Elbphilharmonie teurer wird. Welche Summe steht am Ende unter Nachtrag 4? Denn um den geht es jetzt, nachdem Nachtrag 3 gescheitert ist.
Am 10. November schreibt David Koch eine sehr eindringliche E-Mail an den neuen ReGe-Chef Heribert Leutner. Koch, Jahrgang 1967, hatte im Sommer 2007 ziemlich unbemerkt die Baustelle Elbphilharmonie betreten. Nach Christine Binswanger, Robert Hösl und Ascan Mergenthaler ist der gebürtige Herborner bereits der vierte Partner bei Herzog & de Meuron, der sich um das Projekt kümmert. Koch hat in Deutschland und den USA Architektur studiert, später in Darmstadt auch noch drei Jahre lang Philosophie, Soziologie und Kunstgeschichte. Seit 2001 arbeitet er in Basel. Er ist ein ruhiger, überaus freundlicher Mensch und ein aufmerksamer Zuhörer.
Bei Herzog & de Meuron ist er der Mann für die schwierigen Fälle. David Koch wird noch eine der wichtigsten Personen in der Geschichte dieses Projekts. Er hat bei einem Bau in Barcelona Kontakte geknüpft, die noch eine entscheidende Rolle spielen werden.
Koch warnt die ReGe-Chefs sehr eindringlich: „Eine Definition des Bausolls kann zum jetzigen Zeitpunkt immer nur eine Teillösung bleiben, denn es stehen noch Planangaben aus.“ Kostensicherheit könne erst dann erreicht werden, „wenn unsere Planungsleistungen im Wesentlichen abgeschlossen und Hochtief übergeben worden sind“. Sein verzweifeltes Credo: Lasst uns erst mal zu Ende planen – und dann bauen. Das alles kommt einem furchtbar bekannt vor. Es ist nicht die letzte Warnung von Koch vor einem übereilten Abschluss von Nachtrag 4.
Inzwischen hat sich die ReGe deutlich nach oben orientiert, was die möglichen Mehrkosten angeht. Im Protokoll der 7. Aufsichtsratssitzung heißt es: „Herr Lindenberg fasst zusammen, dass man wohl nicht unter 100 Millionen Euro landen und wahrscheinlich eine deutliche Annäherung an 140 Millionen Euro zu verzeichnen sein werde. Herr Leutner bestätigt dies.“
In einem Vermerk warnt Jochen Margedant davor, dass auch mit Nachtrag 4 womöglich keine Kosten- und Terminsicherheit hergestellt wird. Er weist Staatsrat Stuth darauf hin, dass die Geschäftsführung der ReGe gebeten werden solle, „zu erläutern, mit welchen Mechanismen man Kosten- und Terminsicherheit für die Zukunft erlangen will bzw. aus welchen Gründen man daran glaubt, dass die aktuelle Einigung solche Sicherheiten bringen könne“.
Am 19. November warnt David Koch erneut: Er fordert klarere Definitionen, was exakt gebaut werden soll. „Ansonsten besteht die erhebliche Gefahr, dass von Hochtief nachträglich Mehrkosten angemeldet werden.“ Diese Warnungen sind praktisch wortgleich mit denen der Architekten vor einer zu schnellen Ausschreibung zwei Jahre zuvor. Doch die ReGe stellt sich erneut taub.
Am 20. November warnen die Architekten ein letztes Mal. „Die Situation hat sich unseres Erachtens eher noch verschlimmert, und es ist uns nicht klar, wie die schon in den Bürgermeistergesprächen als oberste Priorität dargestellte Termin- und Kostensicherheit erreicht werden soll.“
Sechs Tage später wird Nachtrag 4 unterzeichnet. Die Kosten für den öffentlichen Haushalt werden nun mit 323 Millionen Euro angegeben, also 209 Millionen mehr als bislang. 137 Milionen davon gehen zusätzlich an Hochtief. Sie setzen sich aus PÄMs (48,2 Millionen), Bauzeitverlängerung (36,8), einer Budgeterhöhung (22 Millionen) und einer sogenannten Einigungssumme (30 Millionen) zusammen. Außerdem bekommen die Architekten weitere 20 Millionen Euro. Und 52 Millionen Euro sind für sonstige Projektkosten, aufgeteilt in Mehrkosten ReGe (10 Millionen), Umsatzsteuer (22 Millionen) und Unvorhergesehenes (20 Millionen).
Rechnet man alle Ausgaben zusammen, kostet das Gebäude die Stadt zu dem Zeitpunkt schon deutlich mehr als eine halbe Milliarde Euro. Diese Zahl findet sich in der Drucksache nicht.
Doch auch von den 323 Millionen ist die Stadt schockiert. Der Senat ist blamiert. Karin von Welck sagt: „Wir alle haben die Komplexität des Projekts unterschätzt. Wir sind jetzt in einem Tal der Tränen, aber wir wissen, dass wir da wieder herauskommen werden.“
Nur: Es gibt immer noch Leistungen, die nur als Budget veranschlagt sind. Sie werden sogar ordentlich erhöht. Das Budget für die „Weiße Haut“ steigt von 3,5 auf 8,5 Millionen Euro, das für die Bühnentechnik (Szenografie) von sieben auf 16,2 Millionen.
Immerhin ist das Bausoll, also alles das, was wirklich gebaut werden soll, jetzt definiert. Und zwar zu 95 Prozent, wie von Welck stolz verkündet. Klingt erst einmal ganz gut. So wie: fast fertig, der Rest sind Peanuts. Aber was heißt das wirklich? Und woher stammen diese 95 Prozent?
Erstmals genannt wird die Zahl in einer Bauherrenbesprechung am 11. September 2008. Dort versichern die Architekten, dass Hochtief alle abgestimmten Planungsvorhaben der Architekten vorliegen. Der Grad der Abstimmung werde auf „95 Prozent geschätzt“. Die fehlenden fünf Prozent seien „jedoch kritisch“, da es sich um „bisher fehlende Planungsleistungen im Bereich der Tragwerksplanung handelt“.
Also: Nicht das Bausoll ist zu 95 Prozent bestimmt, sondern Planungsvorgaben sind – und das nur geschätzt – zu 95 Prozent abgestimmt. Ein gewaltiger Unterschied. Der noch schwerer wiegt, da es sich um Planungen am hochkomplexen Tragwerk handelt, also der statischen Konstruktion. Veränderungen in diesem Bereich können enorme Kostensteigerungen nach sich ziehen.
Die Abgeordneten aber werden in der Drucksache 19/1841 einmal mehr an der Nase herumgeführt: „Mit dem Nachtrag 4 sind nach Auffassung aller drei Vertragsparteien insgesamt ca. 95% des Bausolls verbindlich festgelegt.“ Was sie nicht zu sehen bekommen, ist ein handschriftlicher Vermerk auf dem Entwurf der Drucksache: „Davon, dass der Entwurf nicht abgeschlossen ist, sollten wir besser nicht sprechen.“ Der Autor ist ReGe-Mitarbeiter Armin Daum.
Pierre de Meuron sagt zu den 95 Prozent: „Diese Zahl ist mir schleierhaft. Sie ist grundlegend falsch. Vier, fünf Monate wären notwendig, um das Bausoll abschließend zu definieren.“ Aber in der Drucksache steht doch ausdrücklich nach Auffassung „aller drei Vertragsparteien“ sei das Bausoll zu 95 Prozent definiert. De Meuron: „Das stimmt aber nicht. Ich kann nicht verstehen, dass eine solche Aussage gemacht wird.“
Anette Kettner von der ReGe sagt: „Ich glaube nicht, dass Konsens zwischen den dreien bestand, sondern dass die ReGe diese Zahl genannt hat.“
Hochtief-Chef Henner Mahlstedt sagt: „Die Zahl 95 Prozent stammt nicht von Hochtief.“
Ende 2008 ist also noch immer ungeklärt, was alles gebaut, wie es gebaut und wann es gebaut werden soll. Der Nachtrag 4 mit seinen gigantischen Kostensteigerungen ist abermals nur eine Zwischenlösung. Die Grundprobleme bleiben ungelöst.