„Vater! Mit Entzücken nenn ich diesen Namen.“ Im Interview erklärt der Hamburger Kulturhistoriker Torkild Hinrichsen die Entwicklung vom diktierten Weihnachtsbrief an die Eltern bis zum Ankreuzkatalog für Kinder.

Hamburg. Wunschzettel gibt es schon seit mehreren Jahrhunderten. Doch anfangs ging es gar nicht um die Herzenswünsche der Kinder, sondern um Loblieder auf die Eltern, sagt der Hamburger Kunst- und Kulturhistoriker Torkild Hinrichsen. Das änderte sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts, als Spielzeughandel und -industrie den Wunschzettel erfanden, wie es ihn auch heute noch gibt. Eine geniale Marketing-Idee.

Wann fingen Kinder überhaupt an, Wunschzettel zu schreiben?

Torkild Hinrichsen: Das ist nicht ganz klar. Die frühesten Spuren mit Hamburger Material stammen aus dem ausgehenden 17. Jahrhundert. Offensichtlich ist das gesteuert worden von den Eltern. Schreibmeister haben schön verzierte Vorlagen geliefert, Lehrer oder Pfarrer haben sie dann im Auftrag der Eltern gekauft und für frömmelnde Inhalte gesorgt. Das waren dann Weihnachtsbriefe, auf denen sich das Kind bei den Eltern und den Paten für Erziehung und Wohlverhalten bedankte und um Gottes Segen bat. Quasi ein Dank der Eltern an sich selbst, vom Kind in Schönschrift zu Papier gebracht. Eine erzieherische Leistungsschau am Jahresende – mit schwülstigen Dankesworten an die Eltern, die dann auch noch auswendig vorgetragen werden mussten. Es ist eigentlich vollkommen pervers.

Schwülstige Dankesworte?

Hinrichsen: Ja, zum Beispiel in einem Weihnachtsbrief aus dem Jahr 1830. Dort steht „Wer hat die theuren Eltern mir gegeben; Die mich so treu geschützt, gepflegt, genährt“. In einem anderen Brief heißt es „Vater! Mit Entzücken nenn ich diesen Namen“. Alles nach Vorlage von den Kindern unter Aufsicht geschrieben. Das war vor allem ein Oberklassenphänomen.

Wann hat sich das geändert? Der Wunschzettel von heute sieht ja nun ganz anders aus.

Hinrichsen: Es gab eine langsame Demokratisierung des Phänomens über die Volksschulen, wo es zunächst mehr oder weniger vorgedruckte Wunschzettel gab oder der Lehrer etwas dichtete und alle dann das Gleiche schrieben. Da ist es in erster Linie aber immer noch der Segenswunsch an die Eltern. So ab 1850 kehrt sich das Ganze um, und zwar ganz deutlich unter kommerziellen Gesichtspunkten. Das war eine geniale Marketing-Idee der deutschen Spielwarenindustrie, die damals führend war in der Welt. Hersteller und Händler druckten Blätter, auf denen bildlich ein großes Angebot dargestellt war und die Kinder ihre Wünsche nur noch markieren brauchten. Die letzte Phase dessen ist dann das, was wir heute sehen, wo man in einem Spielwarenkatalog ankreuzen kann.