Es ist erstaunlich, wie leicht ein Unwetter Hamburg aus dem Takt bringen kann
Ich bin am Montag zu Fuß nach Hause gegangen. Das ist nun eigentlich nichts Ungewöhnliches, weil es hin und wieder vorkommt, allerdings eher im Frühling oder Sommer. Und dann immer freiwillig. Montag war nichts freiwillig. Montag bin ich die knapp zehn Kilometer zwischen meinem Arbeits- und meinem Wohnort zu Fuß gegangen, weil sonst schlicht nichts mehr ging. Es war eine erstaunliche Erfahrung, die zeigt, wie anfällig Hamburg ist – und dass es nichts als starke Winde und umgefallene Bäume braucht, um eine Großstadt in wenigen Stunden lahmzulegen.
Vielleicht waren die Erlebnisse des Abends auch deshalb prägend, weil ich kurz zuvor die Lektüre des Buches „Blackout“ von Marc Elsberg beendet hatte. In dem Roman fällt der Strom in weiten Teilen Europas (und später auch in Nordamerika) aus und stürzt voll entwickelte Länder innerhalb weniger Tage ins Chaos. Verdorbene Lebensmittel, gefährdete Atomkraftwerke, geräumte Krankenhäuser – das volle Programm. Das Buch ist wahrscheinlich auch deshalb ein Bestseller geworden, weil es auf erschreckende Weise deutlich macht, wie sehr wir uns auf allgemeine Selbstverständlichkeiten wie Strom verlassen – und wie wir verlassen sind, wenn es zum Beispiel den nicht mehr gibt.
Nun waren die Szenarien am Montag nicht halb so gespenstisch wie jene in „Blackout“. Aber komisch war es schon, gegen irgendwas vor 19 Uhr mit vielleicht 400 (!) anderen Menschen an der Station Stephansplatz auf die U-Bahn zu warten, die erst lange gar nicht kam. Und dann? Dann rollte ein Kurzzug (Kommentar der Wartenden: „Ein Kurzzug! Jetzt, ein Kurzzug! Das kann doch wohl nicht wahr sein“) mit drei Waggons ein, in denen die Passagiere so eng standen, dass kein Orkan der Welt sie hätte umpusten können. Ganz vorn saß der Zugführer und schüttelte nur mit dem Kopf, als wolle er sagen: Nicht einsteigen, ganz egal, wie lange ihr schon da draußen steht und wo ihr auch hinwollt: nicht einsteigen! Als ob das überhaupt möglich gewesen wäre...
Ich habe es gar nicht erst versucht. Raus aus der U-Bahn-Station, vorbei an Hunderten Autos, die sich an den Zu- und Ausgängen der Innenstadt stauten wie sonst nur vor verschlossenen Elbtunnelröhren. Rauf auf den Fußweg, vorbei an überlaufenen Bushaltestellen. Überall Gehupe, überall Polizeisirenen, überall Feuerwehrfahrzeuge – und immer wieder klingelte das Handy, weil Freunde und Verwandte wissen wollen, ob alles in Ordnung ist. Als ob es eine große Katastrophe gegeben hätte.
Hat es aber nicht, und das macht einen besonders nachdenklich, wenn man anderthalb Stunden durch das dunkle, verwehte Hamburg läuft – und sich fragt: Wenn ein Unwetter, zugegebenermaßen ein schweres, die Stadt so aus dem Takt bringen kann, was wäre eigentlich, wenn... Hat der Bekannte recht, der regelmäßig an Katastrophenschutzübungen teilnimmt und trotzdem sagt, er möchte nicht in Hamburg sein, wenn „hier wirklich mal etwas passiert“? Schon Montag konnte man sich in seiner Heimatstadt ziemlich ohnmächtig fühlen, und das einfach nur, weil plötzlich keine Züge mehr fuhren und die Telefonnummern aller Taxi-Unternehmen dauerbesetzt waren. Wenn man dann nur zehn Kilometer bis nach Hause hatte, gehörte man schon zu den Glücklichen – zumal sich der Wind mit jedem Kilometer weiter beruhigte.
Die Gedanken taten das nicht: Kann sich Hamburg besser auf solche oder andere Störfälle vorbereiten, sich schützen? Die Antwort ist: nein. Diese, unsere Stadt vollbringt in Wahrheit jeden Tag eine logistische Meisterleistung, indem sie Hunderttausende Menschen aufnimmt und wieder abgibt. Und sie ist dabei derart störanfällig, dass es fast schon ein Wunder wäre, wenn solche Tage wie der Montag eine große Ausnahme blieben.
Der Autor ist Chefredakteur des Hamburger Abendblatts