Der HSV-Boss und FDP-Politiker Carl-Edgar Jarchow ist nicht zu beneiden: Verein und Partei stecken in einer tiefen Krise. Ein Gespräch über Politik, Fußball und die Schrecken der Zweiten Liga.

Im Leben von Carl-Edgar Jarchow, 58, änderte sich 2011 Grundlegendes. Im Februar wurde der Unternehmer und Außenhandelskaufmann über die Landesliste der FDP in die Hamburgische Bürgerschaft gewählt, drei Wochen später zum kommissarischen Vorstandvorsitzenden des Hamburger SV bestimmt.

Sein erstes Match der Rothosen hatte Jarchow als Neunjähriger im Stadion miterlebt. Es endete gegen den 1. FC Nürnberg mit 2:2. Nichts Erhabenes, kein Spiel, das in die Vereinsgeschichte einging. Trotzdem packte ihn bei dieser Gelegenheit das Fußballvirus, und Jarchow wurde belohnt. 1983 stand er auf der Tribüne, als seine Mannschaft in Athen den Europapokaltriumph über Juventus Turin feierte. Eine Sternstunde für ihn und den HSV, die sich wohl so bald nicht wiederholen wird. Denn momentan hangelt sich der „Bundesliga-Dino“ von einer Krise zur nächsten, und Jarchow steht in der Verantwortung.

Hamburger Abendblatt: Um wen haben Sie sich in der Woche nach der Bundestagswahl mehr gesorgt, um die FDP oder um den HSV?

Carl-Edgar Jarchow: Selbstverständlich um den Verein, bei dem ich hauptamtlich angestellt bin. Er hat bei mir absolute Priorität. Ich muss immer etwas schmunzeln, wenn ich in der Öffentlichkeit als Politiker tituliert werde. Das bin ich im Grunde nicht. Ich bin Kaufmann, und die Politik hat mich schon früh zu interessieren begonnen. Ich finde bürgerliches Engagement wichtig. Gelebt aber habe ich von der Politik noch nie.

Als Sie sich 2007 der FDP anschlossen, mahnten Sie gegenüber dem Senat an: „Hamburg braucht solide Konzepte und eine verlässliche Wirtschaftspolitik.“ Sind das nicht Forderungen, die man heute ebenso gut gegenüber dem HSV unter Ihrer Führung erheben könnte?

Jarchow: Ja, das trifft zu. Verlässlich heißt im Profifußball, auf Sicht keine Verluste zu produzieren. Deshalb haben wir uns konzeptionell zu dem Projekt „Campus“ entschlossen, das der Ausbildung junger, leistungsfähiger Spitzenathleten dient und den Grundstein für die langfristige, sportlich und wirtschaftlich erfolgreiche Entwicklung des HSV legen soll.

Womit beschäftigen Sie sich sonst noch? Nehmen wir mal Rafael van der Vaart. Er zeigt schwankende Vorstellungen auf dem Platz, ist aber inzwischen Leistungsträger der Regenbogenpresse. Sprechen Sie mit ihm darüber oder halten Sie sich da raus?

Jarchow: Grundsätzlich können unsere Spieler in ihrer Freizeit machen, was sie wollen. Der Verein ist erst tangiert, wenn Auswirkungen auf die beruflichen Leistungen festzustellen sind. Das ist bei van der Vaart zwar nicht konkret zu belegen, aber seine Formkurve ließ so etwas vermuten. Insofern habe ich mich mit ihm – allerdings nicht in präsidialer Funktion – unterhalten und ihm geraten, die Öffentlichkeit aus seinem Privatleben herauszuhalten. Mein Eindruck ist allerdings, dass die Bedienung der Medienmaschinerie mehr von Seiten der ihn umgebenden Damen betrieben wurde als von ihm selbst. Aber vielleicht hat er zu wenig dagegen getan. Das kann schon sein.

Zu Ihren Aufgaben gehören Entlassungen beziehungsweise Verpflichtungen von Trainern. Als Sie zuletzt nach einem Nachfolger für Thorsten Fink suchten, fiel auch der schillernde Name Lothar Matthäus. War das ein Scherz, ein Ablenkungsmanöver oder eine ernsthafte Erwägung?

Jarchow: Dieser und andere Scherznamen, wie Sie es nennen, stammen ja nicht von uns, sondern aus den ins Kraut schießenden Mutmaßungen der Medien. Ich habe großen Respekt vor den fußballerischen Verdiensten des Ehrenspielführers der deutschen Nationalelf. Zugleich hege ich Zweifel, dass Matthäus zu einer Institution wie dem HSV passen würde. Er stand aus diesem Grund auch nie auf unserer Liste der Aspiranten, ebenso wenig wie übrigens Markus Babbel.

Als Außenstehender muss man sich ja wundern, woher der HSV immer wieder Millionen zaubert, um Notkäufe nach Niederlagenserien zu tätigen. Brechen Sie in solchen Situationen kurzerhand mit Ihren kaufmännischen Prinzipien?

Jarchow: Im vorigen Jahr war das so, weil wir die Gefahr sahen, in der zweiten Saison nacheinander in den Abstiegsstrudel zu geraten – mit offenem Ausgang. Ein Vabanquespiel, auf das wir uns nicht einlassen wollten. Deshalb haben wir Jiracek und van der Vaart geholt und damit unseren Vorsatz aufgegeben, am Saisonende eine ausgeglichene Bilanz abzuliefern. Das alles geschah unter der Prämisse: Ein Abstieg käme noch viel teurer.

Was macht den Schrecken der Zweiten Liga eigentlich aus? Dort sind zahlreiche Stadien doch auch voll.

Jarchow: Es wäre für den HSV ein riesiger Imageverlust und würde immense finanzielle Verluste bewirken. Die Erträge aus den Kontrakten mit den Sponsoren, mit dem Namensgeber des Stadions, mit dem Ausrüster und so weiter – alle Zuwendungen würden sich ungefähr halbieren. Ferner weiß man nie, wie lange es dauert, wieder in die Erste Liga zu kommen. Auf der anderen Seite würden die Kosten für den Spielerkader nicht im gleichen Maße sinken wie unsere Einnahmen. Also, das wäre ein schwer zu kalkulierendes Risiko, ein höchst kompliziertes Szenarium, in das wir dann hineingerieten.

Haben Sie einen Plan, wie Sie diesem GAU begegnen könnten oder verdrängen Sie die Gefahrenlage lieber?

Jarchow: Als wir in der Saison 2011/2012 im Frühjahr im unteren Drittel der Tabelle standen, zwangen uns die Statuten dazu, bei Einreichung der Lizensierungsunterlagen den Fall des Abstiegs mit durchzuspielen. Insofern wären wir nicht unvorbereitet.

Ist die Lizenz des HSV eigentlich bedroht nach all den finanziellen Einbußen der letzten Zeit? Man spricht ja von mindestens 15 Millionen Euro minus in der Kasse.

Jarchow: So groß ist die Lücke nicht. Das Defizit in der Saison 2012/2013 lag im einstelligen Millionenbereich. Das ändert nichts daran, dass wir seit Jahren regelmäßig rote Zahlen schreiben, und das kann natürlich nicht so weitergehen. Eine Gefahr für die Lizenz sehe ich jedoch nicht.

Weshalb kommen Sie nicht runter von den Schulden?

Jarchow: Da gibt es viele Gründe. Ich nenne mal zwei. Wir zahlen noch immer jährlich einen siebenstelligen Betrag für das auf Pump gebaute Stadion ab. Und unser Budget für den Spielerkader ist viel zu hoch im Vergleich zu dem, was auf dem Spielfeld geboten wird. Das hängt damit zusammen, dass viele Verträge auf der Basis der Teilnahme an einem internationalen Wettbewerb geschlossen wurden. Das Problem haben auch andere Bundesligaklubs, Werder Bremen beispielsweise, und es lässt sich leider nicht von heute auf morgen beheben.

Die Verschuldung von Profiklubs in Europa ist atemberaubend. Glauben Sie, dass die Schuldenmentalität vieler Regierungen sich im Verhalten der Klubmanager widerspiegelt?

Jarchow: Nein, meiner Ansicht nach hat das eine mit dem anderen nichts zu tun. Außerdem werden die Vereine im Deutschland im Großen und Ganzen seriös geführt. Dass Real Madrid mit 500 Millionen Schulden sich einen Superstar wie Bale für weitere 100 Millionen zulegt – das ließe die DFL in Deutschland gar nicht zu.

Sie sagen, unterm Strich dieser Saison muss beim HSV eine schwarze Null stehen. Gilt das auch für den Fall, dass Sie in der Winterpause sich doch nochmal gezwungen sehen nachzurüsten?

Jarchow: Das wird auf keinen Fall passieren. Im Gegenteil: Wir wollen uns nach wie vor von einigen Spielern trennen.

Kritiker bemängeln, der Aufsichtsrat beim HSV sei zu aufgebläht und würde mehr Unfrieden stiften als hilfreich wirken. Plädieren Sie für eine Strukturreform?

Jarchow: Sie erwarten doch wohl nicht ernsthaft von mir die Bewertung der Arbeit meiner unmittelbaren Vorgesetzten.

Sie sind ja nicht nur Präsident eines Bundesligaklubs, sondern auch der eines Universalsportvereins. Für wie bedeutsam halten Sie die übrigen Sparten im Verein?

Jarchow: Ich finde es wichtig und wünschenswert, dass wir dieses breite Angebot vorhalten. Allerdings werden wir zukünftig schon aus steuerlichen Gründen wohl nicht umhinkommen, eine Trennung zu vollziehen zwischen dem gemeinnützigen Breitensport und dem gewinnorientierten Profisport.

Bayern München ist dazu übergegangen, auch andere Bereiche zu professionalisieren, den Basketball etwa. Eine Blaupause für den HSV?

Jarchow: Nein. Solche Hobbys muss man sich leisten können. Uli Hoeneß brüstet sich ja gern mit dem prall gefüllten Festgeldkonto der Bayern. Über so ein Guthaben verfügen wir in Hamburg leider nicht.

Beim HSV gab es erfolgreiche Teams im Frauenfußball, im Schach, im Volleyball – alles wurde aus Kostengründen irgendwann aufgegeben. Dabei handelte es sich um Peanuts im Vergleich allein schon zu den Gehältern von allenfalls mittelmäßigen Kickern. Warum?

Jarchow: Zunächst mal liegen zwei der genannten Fälle schon Jahrzehnte zurück. Zum anderen bitte ich zu berücksichtigen, dass die Profiabteilung praktisch den gesamten Amateurbereich quersubventioniert. Also, die geben schon was ab von dem, was sie erwirtschaften. Dieses Geld aber muss nach meiner Überzeugung gerecht verteilt werden. Es dürfen nicht einzelne Abteilungen besonders gepäppelt werden, während andere kaum über die Runden kommen.

Wie ist eigentlich Ihr Verhältnis zur Konkurrenz am Millerntor?

Jarchow: Entspannt. Wir reden regelmäßig miteinander, momentan natürlich nicht so häufig, weil wir ja in unterschiedlichen Ligen und damit nicht gegeneinander spielen. Lassen Sie es mich so sagen: Ich habe nichts gegen den FC St. Pauli.

Sitzt der Stachel der 0:1-Niederlage vom Februar 2011 noch tief?

Jarchow: Klar, es ist immer bitter, ein Lokalderby dazu noch im eigenen Stadion zu verlieren. Zumal das Ergebnis den Spielverlauf ziemlich auf den Kopf stellte. Es war ja kein gerechtes Resultat. Gefreut hat mich, dass unsere zweite Mannschaft kürzlich das Regionalligaduell am Millerntor gewonnen hat. Eine kleine Revanche, bevor es irgendwann zur großen kommt.

Welche Eigenschaften sollten den HSV Ihrer Ansicht nach kennzeichnen?

Jarchow: Sportlich erfolgreich, seriös, hanseatisch und sozial engagiert.

Ihr Vertrag läuft noch bis 2015. Glauben Sie, dass sie danach weitermachen wollen?

Jarchow: Das ist Sache des Aufsichtsrats, der den Vorstand für jeweils drei Jahre bestellt. Aber glauben Sie mir: Ich habe andere Probleme zu lösen als jetzt darüber nachzudenken, was 2015 geschehen wird. Vor allem, wenn man berücksichtigt, wie schnelllebig und unberechenbar das Fußballgeschäft ist.

Der Name des früheren HSV-Vorsitzenden Peter Krohn steht heute für Neustart, Verpflichtung seines Fernsehlieblings Magath und pinkfarbene Trikots, der von Wolfgang Klein für die glanzvollste Phase des Vereins mit dem Gewinn des Europapokals, Jürgen Hunke erwarb sich den Ruf eines Heilsbringers in Existenznot – was soll der HSV-Fan 2050 mit dem Namen Jarchow verbinden?

Jarchow: Hoffentlich den Sprung aus einem stürmischen, phasenweise bedrohlichen Zeitabschnitt in eine ruhigere Epoche, in der die Fans wieder mehr Grund zum Jubel haben.

Wenn Sie am Sonntagnachmittag zur Begegnung mit dem VfB Stuttgart ins Stadion fahren, wie wird Ihnen dann zumute sein? Mulmig?

Jarchow: Ich bin in solchen Situationen immer ziemlich angespannt. Es geht schließlich um viel. Wir müssen endlich mehr Stabilität in die Mannschaft und ihr Spiel bekommen. Deshalb wäre ein Sieg elementar wichtig.