Seit diesem Schuljahr können Kinder an Hamburger Grundschulen kostenfrei bis 16 Uhr betreut werden. Aber es läuft noch längst nicht alles rund. Es hapert am Betreuungsschlüssel, der Essenssituation und an den Räumlichkeiten.
Hamburg. Acht Wochen nach dem flächendeckenden Start der ganztägigen Bildung und Betreuung (GBS) an 200 Hamburger Grundschulen läuft noch längst nicht alles rund. Seit diesem Schuljahr können Kinder kostenfrei bis 16 Uhr an ihren Schulen betreut werden. Sie essen Mittag in der Schule, nehmen an Nachmittagskursen teil, machen Hausaufgaben oder spielen. Doch das System schwächelt: Es hapert am Betreuungsschlüssel, der Essenssituation und an den Räumlichkeiten. „Dadurch dass im August rund 70 neue GBS-Schulen hinzugekommen sind, merken die betroffenen Eltern jetzt erstmals, dass der Ganztag unterfinanziert ist und dass die Unterfinanzierung ganz praktische Auswirkungen hat: für ihre Kinder, aber auch für die Erzieher“, sagt Christian Martens vom Bezirkselternausschuss Eimsbüttel.
David Schumacher-Witter aus Ottensen ist einer derjenigen, die unzufrieden sind. Seine Kinder Mia, 9, und Quentin, 6, besuchen die Grundschule Bahrenfelder Straße, wie 318 andere Kinder auch. Die Schule ist vor acht Wochen in den Ganztag gestartet. 23 Eltern dort hatten sich zusammengetan und einen Brief an Schulsenator Ties Rabe (SPD) geschrieben. „Die Betreuung hat sich mit Einführung der GBS dramatisch verschlechtert“, so Schumacher-Witte. Der Betreuungsschlüssel sei ungenügend. So kümmert sich ein Erzieher um 22 bis 23 Kinder – je nach dem sozialen Umfeld der Schule. Zum Vergleich: In der früheren Hortbetreuung des Kita-Gutscheinsystems hat sich rechnerisch ein Erzieher um 17 Kinder gekümmert. „Ich halte es für nicht tragbar, bei Kindern im Alter von fünf und sechs Jahren denselben Betreuungsschlüssel anzusetzen wie für Viertklässler“, so Schumacher-Witte. Die Betreuer treffe keine Schuld: „Die geben sich die größte Mühe“, sagt der Vater. Es sei das System, das nicht funktioniere.
Die großen Gruppen machen auch den Erziehern zu schaffen: Zwar „brennen“ noch alle für die Idee von der Ganztagsschule, aber: „Wir haben gestandene Teams, die am Rande der Überlastung arbeiten“, sagt Sabine Kümmerle von SoAL, dem Wohlfahrtsverband „sozial & alternativ“. Die Erzieher kämen an ihre Grenzen, weil sie sich zusätzlich zu ihrer pädagogischen Arbeit um viele kleine Probleme im Alltag kümmern müssten, wie darum, dass Toiletten, die am Nachmittag verschlossen sind, doch geöffnet werden können. Um Kinder, die nicht zum Mittagessen angemeldet sind und dennoch etwas essen wollen. Sie schätzt, dass zehn Prozent der Kinder „Schwarzesser“ seien, also nicht angemeldet sind und dennoch versorgt werden, weil man sie auch nicht ohne Essen sitzen lassen könne. Hinzu kommen Diskussionen um die Räume, die am Vormittag von Lehrern genutzt werden und am Nachmittag den Erziehern zur Verfügung stehen sollen. Es sei eine Herausforderung, jedem Kind gerecht zu werden, heißt es auch vom Deutschen Roten Kreuz, das mit 12 Schulen kooperiert.
„Eine funktionierende GBS erkennt man daran, dass Lehrer und Erzieher miteinander arbeiten“, bringt es Jens Kastner von der Bildungsgewerkschaft GEW auf den Punkt. „Das klappt an einigen Schulen gut, an anderen weniger.“ Häufiges Konfliktthema zwischen Lehrern und Erziehern sind die Hausaufgaben: „Dies rührt oft aus der Erwartungshaltung, dass die Schularbeiten in GBS fertig gestellt und korrekt sein sollen. Wir verstehen die Aufgabe unserer Mitarbeiter in der Hilfe zur Selbsthilfe, wir leisten keine Nachhilfe, und in unseren Augen sind auch die Eltern nicht komplett aus der Verantwortung entlassen“, sagt Ulrike Muß von der Rudolf-Ballin-Stiftung, die an zehn Schulen Kooperationspartner ist. Häufig fehle es schlicht an Zeit, damit sich Lehrer und Erzieher austauschen können. Ein weiteres Dilemma: Ersatzpersonal für kranke Mitarbeiter gebe es kaum. „Die Ressourcen für Ausfallzeiten sind sehr gering veranschlagt“, sagt Ulrike Muß. Bei mehreren Krankheitsfällen, Urlauben oder Fortbildungen gerate das System ins Schwanken. Insgesamt bekommen GBS-Träger pro Betreuungsstunde in der Kernzeit von 13 bis 16 Uhr ein Gesamtbudget von mehr als 70 Euro. Jeder Träger bekommt 17,45 Prozent zusätzliche Personalmittel, um krankheitsbedingte Ausfälle auszugleichen. Zu wenig, um einen Erzieher einzustellen, sagen die Träger.
Manche haben Schwierigkeiten, überhaupt genügend Personal zu finden. Im Erzieherbereich herrscht Fachkräftemangel, hinzu kommt, dass die Rahmenbedingungen häufig schlecht sind: Die meisten Erzieher in der Nachmittagsbetreuung arbeiten 15 bis 25 Stunden pro Woche. Viele haben Teilzeitverträge und noch einen Zweitjob. „Einige Erzieher arbeiten noch als Verkäuferinnen im Modeladen“, weiß auch Rüdiger Clausen, Schulleiter an der Grundschule Bahrenfelder Straße. Er sieht den Start in den Ganztag an seiner Schule nicht so kritisch wie die Eltern. „Es ist logisch, dass es an manchen Stellen noch hapert. Wir müssen uns noch einspielen.“
Und die Schulen müssen sich stärker verändern: „Bisher sind Schulen nicht auf Freizeitpädagogik ausgelegt“, sagt Ulrike Muß. Was an den meisten Standorten fehle, ist ein Aufenthaltsraum für die Kinder, zum Beispiel ein Freizeitraum mit Kicker, Billard, Sofas. An den meisten Schulen gäbe es genügend Räume, wenn 60 bis 70 Prozent der Kinder vom Vormittag auch am Nachmittag bleiben. „Dann ist es möglich, in kleineren Gruppen zu arbeiten, Ruheräume einzurichten.“ Schwierig werde es, wenn die Zahl der Kinder in der Nachmittagsbetreuung ansteigt oder sich Umbau- und Erweiterungsbaumaßnahmen verzögern.
Das Thema Essen ist für die Eltern besonders heikel: „Die Anmelderegularien für das Essen sind so kompliziert, das verstehen Akademiker kaum. Wie sollen das dann Migranten ohne Deutschkenntnisse verstehen?“, fragt sich Jörg Gröhndahl vom Landeselternausschuss (LEA). Ihr Mittagessen müssten die Kinder häufig gehetzt sich nehmen. Eltern vermissen eine pädagogische Begleitung. Den Bau neuer Kantinen hat die Behörde in Auftrag gegeben. Es sei das größte Kantinenbauprogramm der Hamburger Schulgeschichte. Senator Rabe: „In diesem Jahr wollen wir 70 Kantinen fertig stellen.“ Anders als früher gibt es keine zusätzlichen Snacks am Nachmittag, Getränke stehen auch nicht bereit. In früheren Horten gab es meist große Platten mit Rohkost und Obst, von denen sich die Kinder jederzeit bedienen konnten. „Die Kinder haben so sehr viel Obst und Gemüse gegessen. Und dann streicht man ihnen das frische Gemüse. Das ist mir unbegreiflich“, so David Schumacher-Witte.
Trotz aller Mängel sei keinesfalls alles schlecht. „Der neue Senat hat endlich den Skandal beendet, dass seit Jahren mehr als 10.000 Familien keinen Betreuungsplatz für ihre schulpflichtigen Kinder hatten“, so Senator Rabe. Die Zahl der Ganztagsgrundschulen sei in nur zweieinhalb Jahren von 53 auf 200 fast vervierfacht und die Zahl der Betreuungsplätze um über 10.000 auf rund 37.000 gesteigert. Rabe: „Sicher ist nicht alles sofort perfekt, aber wenn wir in dem Schneckentempo früherer Jahre weitergemacht hätten, würden heute über 10.000 Kinder und Familien ohne Betreuungsplatz im Regen stehen. Die sehr hohen Anmeldequoten zeigen, dass wir richtig gehandelt haben und die Kinder gern die Ganztagsschule besuchen.“ Beschwerden aus den Grundschulen gäbe es kaum. Dann gehe es um vorübergehende, krankheitsbedingte Personalengpässe. Was die fehlenden Erzieherstellen angeht, sollen sich Schulen und Träger Partner holen von Sport-, Musik- und anderen Fachkräften. Der Honorarsatz könne frei gestaltet werden, als Richtwert gelten 22 Euro pro Stunde.
Davon leben können Freiberufler aber kaum. Eldina Suljkanovic hatte Blockflötenunterricht an einer gebundenen Ganztagsschule in Eimsbüttel gegeben. Die diplomierte Musiklehrerin hat wieder aufgehört, aus finanziellen Gründen und auch, weil es nichts bringt: „Die Kinder lernen kein Instrument, es ist ein Reinschnuppern. Dafür sind die Gruppen zu groß.“ Ihr Fazit: Die Musikkurse seien eine Freizeitbeschäftigung, kein Musikunterricht.
An den Standorten, die schon länger im Ganztag sind, sieht es wohl besser aus: „Es läuft von Jahr zu Jahr besser“, sagt Franziska Larrà, pädagogische Geschäftsführerin von der Elbkinder Vereinigung Hamburger Kitas. „Trotz der Baustellen, die es noch gibt, überwiegen die Vorteile. Man darf nicht erwarten, dass bei einem solch riesigen Projekt alles rund läuft.“ Auch bei einer längeren Übergangsphase, wie häufig gefordert, wäre es nicht besser gelaufen, ist sie überzeugt. Und nicht immer seien die Probleme der Eltern auch die Probleme der Kinder. „Wenn die Kinder protestieren, dann wird es ernst!“