Skylla und Charybdis hießen in der griechischen Mythologie zwei Ungeheuer, die dem umherirrenden Seefahrer Odysseus an einer Meerenge auflauerten und ihm nach dem Leben trachteten. Nun ist es aus unterschiedlichen Gründen verfehlt, Schulsenator Ties Rabe (SPD) mit Homers antikem Helden zu vergleichen. Aber Rabe muss sich seit dieser Woche auch ein bisschen zwischen Skylla und Charybdis fühlen.
Es war vermutlich die schwerste Woche in Rabes nunmehr zweieinhalb-jähriger Amtszeit, wenn man an die Folgen denkt. Der Sozialdemokrat war mit dem Versprechen angetreten, nach der Reformhast und der fruchtlosen Schulsystemdebatte der vergangenen Jahre Ruhe in die Klassenzimmer einkehren zu lassen. Besonders hatte sich Rabe auf die Fahnen geschrieben, die neu gegründeten Stadtteilschulen zu einer ebenbürtigen Alternative zu den beliebten Gymnasien zu entwickeln – mit der Option auf ein gleichwertiges Abitur. Diese Bemühungen haben nun einen äußerst heftigen Rückschlag erlitten, und der in Reden häufig bemühte Schulfrieden ist ernsthaft bedroht.
Am Montag präsentierte der Schulsenator die seit Langem erwarteten Ergebnisse der Leistungen des Abiturjahrgangs 2012 an den heutigen Stadtteilschulen in den Fächern Mathematik, Naturwissenschaften und Englisch. Die Studie mit dem plötzlich unangemessen locker klingenden Kurztitel „KESS 13“ (Kompetenzen und Einstellungen von Schülerinnen und Schülern) erlaubt erstmals den direkten Vergleich mit den Schülern, die am Gymnasium bereits nach zwölf Jahren Abitur machen. Das Fazit: Die Stadtteilschul-Abiturienten hinken in ihren Englisch- und Mathematik-Leistungen den Gymnasialkollegen um drei Jahre, in den Naturwissenschaften um zwei Jahre hinterher. Anders ausgedrückt: Stadtteilschüler erreichen im Abitur den Lernstand, den die Gymnasiasten bereits am Ende der zehnten Klasse aufweisen. Zur Wahrheit gehört, dass die getestete Schülergruppe die längste Phase ihres Schülerlebens in den untergegangenen Gesamt-, Haupt- und Realschulen oder Aufbaugymnasien verbracht hat. Eigentlich lassen sich die Ergebnisse daher nicht den erst 2010 gegründeten Stadtteilschulen anlasten. Aber diese Schulform ist gewissermaßen „Rechtsnachfolgerin“ der Vorläufer und hat viele von deren Problemen geerbt.
So wurde in den politischen Kommentierungen nicht sehr fein unterschieden. „Todesstoß“ für die Stadtteilschulen (Linke), „Alarmstufe Rot“ (Primarschul-Verhinderer Walter Scheuerl), „bildungspolitische Katastrophe“ (Grüne) oder doch zumindest „schwere Krise“ für die Schulform (FDP) – das waren die ersten, wenig zimperlichen Reaktionen. „Ich sehe mit großer Sorge, dass die Stadtteilschulen von rechts und links in fataler Wucht mit unzulässigen Vorwürfen überzogen werden“, sagt Rabe. „Das gefährdet erheblich den Schulfrieden.“
Tatsächlich treffen die KESS-Ergebnisse die Stadtteilschulen in einer schwierigen Phase wie ein Keulenschlag. Zwar sind die Anmeldezahlen für die fünften Klassen erfreulich, aber es gibt zu viele Standorte mit einem sehr geringen Anteil gymnasial empfohlener Kinder. Es fehlen also in der Tendenz die leistungsstarken Schüler. Hinzu kommt das Thema Inklusion, das etliche Stadtteilschulen wegen der hohen Anmeldezahlen von Kindern mit Defiziten in den Bereichen Lernen, Sprache und sozial-emotionale Entwicklung vor immense Probleme stellt.
Von einem gleichwertigen Abitur hat auch Rabe angesichts der KESS-Ergebnisse nicht mehr gesprochen. Im Gegenteil. „Man muss aufpassen, dass das Hamburger Abitur in seiner Wertigkeit nicht leidet“, sagte der Schulsenator. „Es wäre verheerend, wenn es hieße, in Hamburg bekommt man das Abitur umsonst.“ Scheuerl, parteiloses Mitglied der CDU-Bürgerschaftsfraktion, spricht dagegen schon von einem „Abitur light“ an den Stadtteilschulen.
Schulsenator und SPD setzen darauf, dass die schon beschlossenen Maßnahmen zur Stärkung der Stadtteilschulen Wirkung zeigen: kleinere Klassen, Ausbau zum Ganztag und eine insgesamt günstigere Schüler-Lehrer-Relation als an Gymnasien.
Doch Rabes Aufbauarbeit für diese Schulform droht nun zwischen zwei Fronten zerrieben zu werden. Auf der einen Seite sind die Befürworter der Schule für alle, denen das Zwei-Säulen-Modell aus Stadtteilschule und Gymnasium schon immer ein Dorn im Auge war. „Die beste Stärkung der Stadtteilschulen ist im Sinne einer guten Bildung für alle Kinder die Abschaffung des Zwei-Säulen-Modells“, sagt die Linken-Schulpolitikerin Sabine Boeddinghaus. „In der Konsequenz haben wir dann das Gymnasium für alle, warum nicht?“, so Boeddinghaus.
Auf der anderen Seite verspürt die Volksinitiative für die Wiedereinführung von „G 9“ an Gymnasien Aufwind. Rabe hatte stets darauf verwiesen, dass Schüler, für die die verkürzte Schulzeit am Gymnasium nichts sei, das Abitur nach 13 Jahren an der Stadtteilschule machen können. „Die völlige Wahlfreiheit besteht angesichts der schlechteren Leistungen an den Stadtteilschulen leider nicht“, sagt Initiativensprecherin Mareile Kirsch.
Die Experten sind sich einig drin, dass die Versäumnisse in der Mittelstufe liegen. Doch die Grünen setzen noch früher an. Sie schlagen eine Flexibilisierung der Grundschulzeit vor. Das heißt: Kinder mit deutlichen Lernrückständen sollen die Möglichkeit erhalten, ein Jahr länger zur Grundschule zu gehen. Kinder, die langsamer lernen, wechseln erst nach drei Jahren in die dritte Klasse. Umgekehrt können Kinder, die schnelle Fortschritte machen, schon nach der ersten Klasse in die dritte wechseln. Die Grünen-Fraktion will einen entsprechenden Antrag nach den Herbstferien in die Bürgerschaft einbringen.
Die Idee ist nicht einmal neu. Auch die Elternkammer hat sich für die flexiblere Grundschulzeit ausgesprochen. Und im konservativ regierten Bayern läuft ein Schulversuch an 60 Standorten. „Die Schüler können die Eingangsstufe in einem, zwei oder drei Jahren durchlaufen“, heißt es in einer Broschüre zum Schulversuch.
In Hamburg gibt es diese Möglichkeit an einigen Schulen in sozialen Brennpunkten. Und Rabe lehnt die flächendeckende Ausweitung ab. „Das würde ein grundsätzlicher Eingriff, der eine neue Schulstrukturdebatte hervorrufen würde“, sagt Rabe. „Noch einen Brandherd will ich nicht.“