Zu klein, zu groß oder zu unförmig: Bei Äpfeln, Gurken und Co. wird jedes zweite Stück aussortiert. Das liegt nicht nur an Handel und Industrie, sondern vor allem am Anspruch der Verbraucher.
Hamburg. Alles hat seine Zeit. Der Spargel kommt Ende April, die Erdbeeren ab Mai, die Apfelernte im Alten Land startet Ende August. Für Barbara Retzlaff ist das Warten darauf die schönste Zeit. „Ich freue mich dann richtig auf das frisch geerntete Obst und Gemüse“, sagt die angehende Rentnerin aus Volksdorf. „Der Geschmack ist dann am allerbesten.“
Retzlaff leitet die Hamburger Ortsgruppe der Organisation Slow Food, die deutschlandweit 12.000 und in der Hansestadt rund 400 Mitglieder hat. Slow Food wirbt für bewusstes und regionales Genießen - und gegen die ständige Verfügbarkeit und das „Geiz-ist-geil“-Prinzip bei Lebensmitteln. Und das nicht ohne Grund: Jedes Jahr werden Millionen Tonnen Obst und Gemüse salopp gesagt für die Tonne produziert. Laut Berechnungen der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen FAO gelangen rund 40 Prozent der in Europa herangezogenen Produkten nicht auf den Tellern der Verbraucher. Vor allem liegt das daran, dass diese Produkte dann nicht den bei uns üblichen Normen entsprechen, also zu klein sind, zu krumm, zu groß oder einen anders gearteten äußeren Mangel haben. Laut EU-Verordnung Nr. 543/2011 muss eine Zitrone einen Mindestdurchmesser von 45 Millimetern haben, eine Orange von 53 mm. Eine Tomate der Handelsklasse I darf keine Risse und keinen sichtbaren Grünkragen haben. Nur „leichte Farbfehler“ und „sehr leichte Druckstellen“ sind erlaubt. Die Vorschrift für eine Gemüsepaprika: ein frisches Aussehen, ein festes Äußeres und ein Stiel - dieser wiederum muss „glatt abgeschnitten und der Kelch unversehrt sein“. Ob der Geschmack dabei aber eventuell auf der Strecke bleibt, spielt eine untergeordnete Rolle.
„Die Verbraucher sind beim Kauf auf völlig falsche Qualitätskriterien konditioniert“, sagt Retzlaff. „Ein Apfel muss heute vor allem toll aussehen und glänzen - und er muss günstig sein. Auch wenn gerade eigentlich gar keine Apfel-Zeit ist.“ Gernot Kasel, Sprecher von Edeka, formuliert es so: „Das Auge kauft mit und hat sich an bestimmte Normen gewöhnt.“ Die Folge: Selbst Bio-Bauern, bei denen ein Apfel schon mal kleiner sein darf als ein konventionell erzeugtes Produkt, werden nach Recherchen von Slow Food 40 bis 50 Prozent ihrer Ernte nicht an den Verbraucher los. Weil das nicht nur moralisch und ökologisch problematisch, sondern vor allem unwirtschaftlich ist, enden die meisten aussortierten Früchte und Gemüse aber nicht auf dem Müll, sondern werden anderweitig verwertet. Ein Teil landet in Biogasanlagen und wird zu Energie. Ein weiterer Teil wird zu Tierfutter verarbeitet und eine ganze Menge der aussortierten Ware verbleibt direkt auf dem Feld - und vergammelt. „Das Gemüse wird dann unter die Erde gefräst und von den Kulturen im Erdreich zersetzt. Damit wird es zu natürlichem Dünger“, sagt Birger Exner, Marketingleiter der in Niedersachsen beheimateten Behr AG, die auf 4000 Hektar in ganz Europa Salate, Kohlrabi oder Brokkoli anbaut. „Es gibt da mittlerweile einen guten Kreislauf, damit nichts weggeschmissen werden muss.“
11 Millionen Tonnen auf dem Müll
Die Menge der Lebensmittelabfälle in Deutschland ist dennoch gewaltig. 11 Millionen Tonnen landen jedes Jahr auf dem Müll. Je 17 Prozent entfallen auf Industrie und Großverbraucher, für fünf Prozent hiervon ist der Handel verantwortlich. Der größte Verschwender sind die privaten Haushalte. Jeder wirft im Schnitt 82 Kilogramm pro Jahr weg, darunter 36 Kilogramm Obst und Gemüse. Am 31. August veranstaltet Slow Food nicht nur deshalb zum ersten Mal in Hamburg einen Aktionstag. Unter dem Motto „Zu gut für die Tonne“ wird auf dem Gerhart-Hauptmann-Platz in der City nicht mehr Supermarkt-taugliches Obst geschält, geschnibbelt und verkocht. „Wir wollen die Menschen aufklären und ihnen klar machen, dass man auch Obst und Gemüse mit kleinen Dellen noch wunderbar verwenden kann“, sagt Sebastian Wenzel, Retzlaffs Stellvertreter und Mit-Organisator des Aktionstags. Wenn die Hälfte der erzeugten Produkte weggeworfen oder zu Tierfutter verarbeitet werden, hat das für ihn vor allem eine ethisch-moralische Dimension. „Wir strapazieren das System völlig über, Böden werden überdüngt, alte Obst- und Gemüsesorten verschwinden für Hochleistungssorten vom Markt. Ich bezweifle, dass uns diese Methode auch noch in ein paar Jahrzehnten ernähren kann“, sagt er. Zuhause in seinem Garten baut er deshalb alte Gemüsesorten an. „Auch wegen des unvergleichlichen Geschmacks.“
Und was ist mit denen, die sich hochwertige Lebensmittel nicht immer leisten können? „Das entscheidende ist doch, dass man nur die Menge kauft, die man auch wirklich isst“, sagt Wenzel und hat ein Stück weit damit Recht. Laut einer Studie der Universität Stuttgart entspricht die jährliche weggeworfene Menge Essen einem Geldwert von 200 bis 260 Euro pro Kopf. Ein durchschnittlicher 4-Personen-Haushalt könnte rund 1000 Euro im Jahr sparen, wenn weniger und gezielter gekauft würde. „Man muss den Lebensmitteln vor allem ihre Zeit geben“, sagt Retzlaff. „Wenn die Saison gekommen ist, bekommt man frisches Gemüse selbst auf dem Markt für ganz wenig Geld.“