Die Art unserer Fortbewegung ändert sich rasant. Auch deshalb legt der Senat ein neues Mobilitätskonzept vor, bei dem die Verzahnung der Verkehrsmittel eine große Rolle spielt.
Hamburg. Schuhe sind derzeit eines der größeren Probleme der Verkehrspolitik. Mobilitätsforscher sprechen von "Zalando-Parties", wenn sie die starke Zunahme des Lieferverkehrs in Städten wie Hamburg beschreiben wollen. Der Internet-Versandhändler verschickt nämlich massenhaft Schuhwerk zur Anprobe - und angeblich bestellt sich mancher (nicht immer nur weibliche) Freundeskreis gelegentlich 60 Paar auf einen Schlag, um bei einem Gläschen Wein alle gemeinsam anzuprobieren und dann meist 58 oder 59 Paare wieder als ungeeignet zurückzuschicken. Der Internethandel von Anbietern wie Zalando oder Amazon mit seinen massenhaften Retouren ist ein einträgliches Geschäft für die Paketdienste. Verkehrsplanern ist er ein Graus. Denn all die UPS, DHL und Co-Lieferwagen verstopfen nicht nur die Straßen. Sie parken auch oft in zweiter Reihe und sorgen so regelmäßig für Staus. Man suche gemeinsam mit den Unternehmen nach einer Lösung, denkbar seien etwa zentrale Auslieferpunkte, sagt Hamburgs oberster Verkehrsplaner Martin Huber, seit gut einem Jahr Amtsleiter im Amt für Verkehr der Wirtschaftsbehörde.
Natürlich bekommt der gelernte Jurist auch ganz anderen Ärger ab. Das gehört vermutlich zur Arbeitsplatzbeschreibung. Schlaglöcher, jede Menge Baustellen zur Sanierung und zur Busbeschleunigung, wieder Behinderungen am Dammtor - und nun muss auch der Heidenkampsweg wegen einer Wasserrohrsanierung erneut aufgerissen werden. Aber so sauer die Autofahrer auch sein mögen - sie sind nicht mehr der alleinige Maßstab. Denn mittlerweile zeigt sich eine klare Trendwende: Der Anteil des "motorisierten Individualverkehrs" (sprich: Privatwagen) am Gesamtverkehr geht deutlich zurück. Immer mehr Hamburger fahren mit dem Rad, die Zuwächse beim HVV sind rekordverdächtig, die Zahl der Hamburger, die sich beim Fahrradverleih StadtRad oder bei CarSharing-Diensten wie Car2Go registriert haben, wächst rasch, und dieser Tage drängen wieder neue Anbieter auf den Markt. Je nach Schätzung ersetzt ein Sharing-Fahrzeug bis zu zehn Privatautos. Wenn man bedenkt, wie viel Platz ein geparktes Auto in Anspruch nimmt, wird klar, wie viel Raum Hamburg gewinnen kann.
Verkehrsmittel sollen besser verzahnt werden
Auf das veränderte Verhalten der Verkehrsnutzer geht auch das Mobilitätsprogramm ein, das der Senat in den kommenden Wochen verabschieden will. In dem Entwurf, der der "Welt am Sonntag" vorliegt, setzt der Senat neben den Autobahnausbauten, der Verlegung der Wilhelmsburger Reichsstraße, einer neuen Verkehrsleitzentrale (die in der kommenden Woche eröffnet wird) oder dem Busbeschleunigungsprogramm auch auf eine bessere Verzahnung der Verkehrsmittel. Bike&Ride und Park&Ride spielen eine wichtige Rolle, ebenso wie die Förderung der Leihsysteme. Zugleich macht das Senatspapier deutlich, dass es für passionierte Autofahrer künftig nicht angenehmer wird: Der Senat will prüfen, an welchen Straßen schärfere Tempolimits eingeführt werden, um die Lärm- und Abgasbelastung zu reduzieren. Den Anfang macht die Harburger Chaussee auf der Veddel, an der die nächtliche Höchstgeschwindigkeit noch in diesem Jahr auf 30 Kilometer pro Stunde reduziert werden soll. Die automatische Vorfahrt für Busse bei Ampelschaltungen führen zudem zu längeren Wartezeiten für die Menschen am Steuer ihrer Privatwagen. Außerdem werden die Autofahrer bei den Parkgebühren stärker zur Kasse gebeten. "Derzeit zahlen nur 17 Prozent der Nutzer in Hamburg die fälligen Parkgebühren", heißt es in dem Papier. Man wolle "mit zunehmender Gebührenhöhe stärkeren Einfluss auf ein Verkürzung der Parkdauer, ein Ausweichen in Parkbauten oder einen Umstieg auf alternative Verkehrsmittel nehmen".
Auch das noch. Wo mancher Autofahrer doch jetzt schon das Gefühl hat, es sei noch nie so schlimm gewesen. Navigationsgerätehersteller TomTom hat Hamburg kürzlich zur deutschen Stauhauptstadt gekürt - was allerdings nicht alle Verkehrsexperten gerecht finden. Denn offenbar wurden Staus auf der A7 mitgezählt, in einer Zeit, als die Bauarbeiten am Elbtunnel noch liefen.
Natürlich gebe es bei insgesamt 80.000 "Aufgrabungen" im Jahr Behinderungen, sagt Amtsleiter Huber. Aber im Vergleich mit vielen anderen Städten stehe Hamburg gut da. Die mit Hilfe von Taxis gemessene Durchschnittsgeschwindigkeit sei mit 28 Kilometern pro Stunde passabel - zumal man einberechnen müsse, dass Hamburg über seinen Hafen den internationalen Güterumschlag für ganz Deutschland und viele Nachbarstaaten bewerkstellige.
Stadtforscher wie Friedrich von Borries von der Hamburger Hochschule für bildende Künste (HFBK) fordern angesichts der hohen Auslastung der Straßen: "Wir müssen doch nur über den Tellerrand nach Peking, Bombay oder Delhi gucken, dann sehen wir, dass es ein Irrweg ist, auf den motorisierten Individualverkehr zu setzen." Es sei ein gutes Zeichen, dass der Anteil der 18-Jährigen zurückgehe, die einen Führerschein machten. Für viele Jugendliche ist das Smartphone sowieso längst wichtiger als der eigene PKW, das belegen Studien. Was möglicherweise auch im Sinne der Mobilität eine kluge Entscheidung ist.
Das wichtigste Verkehrsmittel wird das Smartphone sein
"In zehn Jahren wird das Smartphone unser wichtigstes Verkehrsmittel sein", sagt Amtsleiter Huber. Denn der Trend ist eindeutig: Künftig werden die Menschen die Fortbewegungsmittel ständig wechseln und kombinieren, je nach Bedarf und Ziel. Verkehrswissenschaftler sprechen von "intermodaler und multimodaler Mobilität". Das Smartphone wird uns künftig genau sagen, wie wir am schnellsten von A nach B kommen - unter Einberechnung der Lage auf den Straßen und in Bussen und Bahnen und der Verfügbarkeit von Leihfahrzeugen. Nur noch wenige Menschen werden in Zukunft wohl jeden ihrer laut Studien durchschnittlich 3,5 Wege täglich mit dem eigenen PKW zurücklegen. Denn das Autofahren wird immer unattraktiver, weil Energiepreise steigen, Parkplätze teurer und Fahrzeiten im Auto zumindest in der Stadt länger sein werden als die in öffentlichen Verkehrsmitteln oder auf dem Rad - so wie heute schon auf Strecken, wo das Auto nicht mit der U-Bahn konkurrieren kann.
Dass wir es mit einer Art stillen Revolution im Verkehrsgeschehen zu tun haben, zeigt sich auch daran, dass der ADAC nichts mehr von seinem einstigen Leitspruch "Freie Fahrt für freie Bürger" wissen will. Heute versteht man sich als "Mobilitätsclub", der Interesse am schnellen Fortkommen im Verkehr hat, ganz egal in welchem Verkehrsmittel.
"Die Analysen des Mobilitätsverhaltens der Norddeutschen zeigen, dass das Auto seit den neunziger Jahren dramatisch an Wertigkeit verloren hat", sagt der verkehrspolitische Sprecher des ADAC in Hamburg, Carsten Willms. "Die Konsumenten entzaubern das Auto gegenwärtig mit gnadenloser Konsequenz. Aus dem Objekt der Begierde und dem Symbol persönlicher Unabhängigkeit wird mehr und mehr ein nüchternes Werkzeug mobiler Funktionalität." Das Auto, so das Fazit des ADAC-Mannes, sei "in der unbewussten Einschätzung nur noch eine unter vielen möglichen Formen moderner Fortbewegung."
Passend zu diesen Erkenntnissen eröffnet Hamburg am kommenden Freitag seinen ersten "Mobilitäts-Servicepunkt": Am Berliner Tor kann man künftig von U- und S-Bahn direkt auf Leihwagen von Europcar, Car2Go-Fahrzeuge oder Stadt-Räder umsteigen. Mit Hilfe des Projekts, das unter "switchh" firmiert, solle "jeder spontan das Verkehrsmittel wählen können, das gerade passt", so die Hochbahn. Weitere Umsteigepunkte sollen folgen - laut Mobilitätsprogramm des Senates zunächst an den Stationen Saarlandstraße, Wandsbek Markt, Bergedorf und Harburg.
Die Tendenz gehe zu "Mobilität aus einer Hand", sagt Carsten Gertz, Professor für Verkehrsplanung an der TU Hamburg-Harburg (TUHH). Sprich: Man kauft ein Ticket bei einem Anbieter und kann bequem alle Verkehrsmittel nutzen, also von der S-Bahn aufs Leihrad oder Leihauto umsteigen und wieder auf den Bus. Im besten Fall reserviert man einen Smart oder ein Fahrrad am Berliner Tor, wenn man gerade in Lüneburg in den Zug steigt.
Gertz sieht das Mobilitätsprogramm des Senats als "einen Schritt in die richtige Richtung". Wichtig sei, dass Hamburg damit in eine dauerhafte Verkehrsentwicklungsplanung einsteigt, wie es in dem Programm vorgesehen ist - und zwar unter Beteiligung aller Betroffenen. Tatsächlich erhofft man sich von einer langfristige Verkehrsplanung eine Kontinuität, die auch über Regierungswechsel hinaus wirkt. Hamburg hat für wichtige Projekte wie die S-Bahn-Anbindung des Flughafens oder die Ortsumgehung Finkenwerder Jahrzehnte gebraucht - auch weil es meist keine kontinuierliche Planung gab. Wiederkehrende Vorhaben wie eine Stadtbahn oder eine Schienen-Anbindung von Stadion und Arena im Volkspark oder von Stadtteilen wie Steilshoop sind bis heute nicht umgesetzt.
In Hamburg müsse konstruktiver diskutiert werden, fordert denn auch Gertz. In München etwa seien sich alle Parteien von Grünen bis CSU einig gewesen, dass die Busbeschleunigung eine gute Sache sei. "Wir sollten in Hamburg intensiver über die Zielsetzungen der Verkehrspolitikdiskutieren, bevor sofort einzelne Maßnahmen zerredet werden", sagt Gertz. Dabei weiß auch der TUHH-Professor, dass den Verkehrsplanern enge Grenzen gesetzt sind. "Die Rahmenbedingungen der künftigen Entwicklung werden vorgegeben von steigenden Energiepreisen, Umweltschutzvorgaben zu Luftreinhaltung und Lärmschutz, demographischer Entwicklung, der Veränderung des Mobilitätsverhaltens bei jungen Menschen und den leeren Kassen der öffentlichen Haushalte." Klare Gewinner der jüngsten Zeit seien der Radverkehr aber auch der Öffentliche Personennahverkehr, so Gertz.
Dabei hat Hamburg wohl vor allem an einem Punkt extremen Nachholbedarf: Die bisweilen desolaten Radwege müssen endlich besser werden - zumal der Anteil der Radfahrer von Jahr zu Jahr weiter steigt. Dass Autofahrer längst nicht mehr Vorfahrt vor allen anderen Verkehrsteilnehmern genießen, weiß auch Wirtschafts- und Verkehrssenator Frank Horch. "In Hamburg steigen die Ansprüche an Lebensqualität und Klimaschutz", sagt er. "Sie werden zu wichtigen Faktoren bei der Standortwahl nicht nur für Unternehmen, sondern gerade für qualifizierte Fachkräfte." Immer bedeutsamer werde es daher, dass "der Übergang von Bahn zu Bus, zu Stadtrad oder eigenem Rad und zum Carsharing-Angebot sicher funktioniert", so Horch. Privatwagen kommen da gar nicht mehr vor.
Die stille Revolution im Verkehr ist auch Thema der "Hamburger Presserunde". Am heutigen Sonntag um 21.45 Uhr bei Fernsehsender Hamburg 1.