Vor einer Woche verunglückte der 13 Jahre alte Lorenz beim Rudern. Die Suche nach ihm blieb erfolglos. Ein Besuch der Außenalster fühlt sich seitdem anders an.
Auf den ersten Blick ist es wie immer an der Außenalster: Jogger hetzen entlang, Spaziergänger flanieren am Harvestehuder Weg, auf Bodo’s Bootssteg lassen es sich Müßiggänger gut gehen, Hunde tollen über die Wiesen. Turbulentes Großstadtleben im Herzen Hamburgs. Alles geht seinen Gang – wie immer bei halbwegs anständigem Wetter.
Wie immer?
Nicht wirklich. Denn da ist in diesen Tagen die andere Seite.
Rhythmisch gurgelnd plätschert das Alsterwasser gegen die Uferböschung. Eine Krähe pickt nach Nahrung, fühlt sich von einem Kajak gestört und hebt ab. Die Äste einer Trauerweide berühren die trübe Wasseroberfläche. Auf einer Bank daneben harrt ein Mann mit Baseballmütze, versunken in die Ferne blickend. Und am Stamm einer Japanischen Kirsche sind eine langstielige Rose und ein kleiner Strauß abgelegt. Davor stehen drei Grablichter, zweimal weiß und einmal rot.
Eine leichte Brise von der Uhlenhorst her lässt frösteln. Ein junges Paar hält inne und blickt schweigend auf das Mahnmal im Windschatten des Bäumchens. „Am schlimmsten ist die Ungewissheit“, flüstert sie schließlich. Er nickt. Dann gehen beide weiter. Es ist alles gesagt.
Auch sechs Tage nach dem Verschwinden des 13-jährigen Lorenz aus Blankenese ist der Verbleib des Schülers ungeklärt. „Hoffnung gibt es nicht mehr“, sagt die Polizei, die mit Tauchern, Sonargeräten, Suchtrupps, Ortungshunden und einem Hubschrauber mit Wärmebildkamera nach dem Jungen fahndeten. Längst ist die Suche eingestellt. Angeblich hilft jetzt nur noch Warten. Und genau dies ist das Gespenstische in Stunden, in denen es keine gute Nachricht mehr geben kann.
Immer wieder bleiben Passanten stehen und blicken auf die orangefarbene Boje mit der weißen Zahl fünf. Bei der Kollision mit ihr kenterte Lorenz mit seinem Renn-Einer, einem Trimmi. Zuerst, so heißt es, habe sich der junge Ruderer am schnittigen, jedoch labilen Sportboot festgehalten. Ob er rasch versank oder gen Ufer schwamm, minutenlang um sein Leben kämpfte und erst dann unterging, ist noch nicht klar. Auch nicht, wer wann wie um Hilfe rief. „Ich habe ein mulmiges Gefühl im Bauch“, sagt Hanna Goetze aus Winterhude. Die 23-jährige Studentin der Amerikanistin aus dem zweiten Master-Semester sitzt neben ihrer Kommilitonin Susi auf einer Bank vis-à-vis der Boje 5 und lässt ihren Blick über die Außenalster schweifen. So wie fast jeden Tag. Beide machen sich ihre Gedanken. Wie so viele andere auch, die sich ihre Gefühle nicht ansehen lassen. Es gibt ja nichts mehr zu retten.
„Es ist eine Tragödie“, sagt Hanna in die Nachdenklichkeit hinein. „Die armen Eltern und der Bruder.“ Wieder Stille. Am vergangenen Wochenende hätten sich beide schon über die Suchmannschaften auf dem Wasser und an Land gewundert, zunächst jedoch keine Erklärung gefunden. Jetzt wisse man – leider – Bescheid. Oder eben auch nicht. „Ein Drama“, sagt Susi. Ein bisschen, meinen beide, sei ein Schatten auf ihren eigentlich von Natur aus traumhaften Lieblingsplatz gefallen.
Am quirligen Leben auf dem Gewässer vor ihren Augen hat sich nichts geändert – äußerlich. Segelschiffe kreuzen im Wind, eine Armada Kajaks mit wirbelnden Paddeln ist zu sehen, ein Ruderachter mit Steuermann zieht seine Bahn Richtung Krugkoppelbrücke.
Mit gemächlicher Fahrt nähert sich der Alsterdampfer „Saselbek“ dem Anleger Rabenstraße und macht am Holzsteg fest. Rote Rettungsringe hängen dort. Warum wurde niemand aus der Verankerung gerissen? Und warum sprang kein Zuschauer beherzt ins Wasser, um Lorenz die Hand zu reichen? Vielleicht wäre auch er untergegangen? Manche Frage bleibt unbeantwortet sechs Tage nach einem Unglück, das viele Hamburger im Mark getroffen hat. Das sagt heute jeder, mit dem man spricht. Fassungsloses Entsetzen dominiert, in der Regel stille Trauer mit so vielen Fragezeichen.
Das kaminrote Backsteinhäuschen der Wasserschutzpolizei, Kommissariat 2, Außenstelle Alster, in Höhe des stillgelegten Interconti-Hotels ist verschlossen. „Wählen Sie im Notfall 110“, steht auf einem Schild an der Eingangstür. Auf dem Balkon steht ein Stuhl. Am Anleger davor wippen vier Boote im Takt der Strömung. „Alsteropsicht“ ist backbords am Rumpf zu lesen, weiß auf blauem Grund. Irgendein unbeteiligter Rechtsanwalt klagt. Und die Polizei ermittelt wegen unterlassener Hilfeleistung. Gegen wen?
Die nächste Fähre naht. Auf dem Fahrplan am Ufer macht eine Versicherung Werbung: „Schutz unter den Flügeln des Löwen.“ Schön wär’s. Das Metallschild daneben ist verwittert: „Eisbruchgefahr“. In seinem Außenrestaurant preist Bodo hausgemachte Frikadellen und Bauernsalat mit Schafskäse für 11,50 Euro an. Gebratener Speck kostet einen Euro extra. Am Ponton sind Ruderboote festgemacht. Die Gäste unterhalten sich leise. Aber vielleicht ist das auch nur so ein Gefühl.
Ein Entenschwarm und zwei Schwäne entfernen sich nervös. Ein Einer rudert vorbei. „Man mag gar nicht hingucken“, sagt eine Joggerin mit pinkfarbenem Top und grauem Stirnband zu ihrer Begleiterin. Beide nutzen eine Verschnaufpause, um die Idylle auf der Außenalster zu genießen. Es ist so wie immer. Fast. Dann fällt ihr Blick auf die drei Kerzen, die langstielige Rose und den Strauß am Fuße der japanischen Kirsche. Schweigen.
Der Wind flaut ab. Still ruht der See.