Aufschwung im Sperrgebiet. Kaum ein anderer Stadtteil bietet einen spannenderen Kontrast zwischen Gründerzeit und Glasfassaden.
St. Georg. Es fällt der erste richtige Schnee in diesem Winter, und die paar jungen Frauen, die sich entlang des Steindamms in die Hauseingänge quetschen, frieren. Sie sind ja auch viel zu dünn angezogen, doch mit Skianzug und Moonboots, was ihre Kolleginnen an der Davidstraße auf St. Pauli vor der Kälte schützt, würden sie hier in St. Georg noch mehr auffallen, als sie es eh schon tun. Die Frauen, die hier trotz Verbots anschaffen gehen, sind ziemlich jung, so um die 18 bis 20. Sie stammen größtenteils aus Mazedonien, Albanien, Moldawien, Rumänien oder Bulgarien. Schwarzhaarig sind sie alle. Nur Martina nicht, sie ist blond, sie ist Deutsche, und sie übt ihr Gewerbe schon seit über 30 Jahren aus, vorwiegend am Hansaplatz.
Inzwischen habe sie große Schwierigkeiten, ihr Leben zu finanzieren, sagt sie, weil sie, wie heute, immer häufiger Nullrunden drehen würde - und überhaupt wegen der Kontaktsperre, mit der die Freier abgeschreckt würden und weil die Ostfrauen die Preise versauen würden. Genauso wie die Drogenabhängigen. Aber taten sie das nicht schon immer?
Martina zuckt die Schultern und blickt an den frisch getünchten Hausfassaden hoch. In einigen der Wohnungen brennt Licht. Herrlicher Stuck ist zu sehen, Kronleuchter und Designerlampen oder auch die eine oder andere Ecke eines goldfarbenen Bilderrahmens. "Ich hatte meine Stammkunden", sagt sie, "aber die habe ich jetzt nicht mehr. Und ich war jedenfalls eher hier als die, die da wohnen." Dann stakst sie herüber zum Hansa-Treff, um sich aufzuwärmen. Und wohl auch, um nach einem Freier zu gucken, denn die Prostitution in den Kneipen fällt ja nicht unter die Kontaktverbotssperre, wie die staatliche Maßnahme zur Eindämmung der Straßenprostitution offiziell heißt. Sie gilt seit Februar dieses Jahres. Sogenannte Anbahnungsversuche auf der Straße können danach mit bis zu 5000 Euro geahndet werden; bisher wurden Summen von 200 Euro bis 800 Euro fällig; allein bis zum August dieses Jahres wurden gut 80 Männer mit rund 20.000 Euro von den Polizisten des Kommissariats 11 zur Kasse gebeten.
Dabei ist St. Georg eigentlich schon seit 1980 Sperrgebiet. Doch das hat die Huren und Zuhälter schon immer wenig gekümmert. Und die Freier natürlich auch. Aber jetzt, wo der einst größte Schandfleck der Stadt - der Hansaplatz - sich in einem fast fertig renoviertem Zustand befindet und das ganze Viertel in einem enormen Aufschwung, "ist die Politik gefordert durchzusetzen, was sie schon vor Jahren beschlossen hat", sagt Rechtsanwalt Helmut Voigtland, gleichzeitig langjähriger Vorsitzender des Bürgervereins St. Georg, der sich zurzeit öfter in den Medien befindet, als ihm lieb ist. Zuletzt gestern, als bekannt wurde, dass er Anwohner vertritt, die gegen den Lärm der katholischen Kita und Schule klagen.
Die Umstrukturierung des Stadtteils spaltet die Anwohner. Hier am Hansaplatz prallen die Gegensätze am heftigsten aufeinander. Und wenn es zwischen Alt- und Neubürgern, Parteien und anderen gesellschaftspolitisch engagierten Vereinen und Initiativen so etwas wie einen Kampf um die Gentrifizierung St. Georgs gibt, wie die Umwandlung von Stadtvierteln im Soziologendeutsch genannt wird, dann hier.
Großes Elend gab es in St. Georg schon vor mehr als 1000 Jahren zu sehen, als rund einen Kilometer außerhalb des Hamburger Stadtwalls im Namen dieses Schutzheiligen ein Leprahospital eingerichtet wurde. Im Laufe der Jahrhunderte wandelte es sich in ein "Siechenhaus", dann in ein Allgemeines Krankenhaus, das im Rahmen einer Stiftung bis 1951 betrieben wurde - in einem inzwischen kleinbürgerlichen Stadtteil.
Die erneute Verelendung hatte da bereits knapp sechs Jahre zuvor in der Trümmerlandschaft nach dem Krieg begonnen: Damals wurde der Hansaplatz für Jahre zum wichtigsten und größten Schwarzmarkt der Stadt. Bis zur Währungsreform. Hinzu kam die Nähe eines Hauptbahnhofs, der ja so gut wie in jeder Großstadt eine geradezu magnetische Anziehungskraft auf die verschiedenen Elemente der Halb- und Unterwelt besitzt. Entlang des Steindamms, der Bremer Reihe und eben auf dem Hansaplatz etablierte sich so die Straßenprostitution; hinzu kamen Spielhallen, private Kasinos und Sexklubs. Daneben allerdings wurden auch Wohnungen und Gewerbebetriebe wieder aufgebaut, und es entstand auch die größte Hotelbettendichte Hamburgs.
Mitte der 1960er-Jahre wurden dann die Pläne der Neuen Heimat für ein "Alster-Manhattan" publik: Das sollte ein riesiger Hochhauskomplex werden, vom Hansplatz bis herunter an die Alster, was den Bau neuer Wohnungen sowie die Modernisierung und Instandhaltung bestehender Immobilien verhinderte. Als dieser wahnwitzige Plan von einem bis zu 60 Stockwerken hohen Hochhauskomplex 1973 zum Glück vom Tisch gewischt wurde, wohnten gerade mal noch 10.000 Menschen in dem Viertel. Die anderen hatten Platz gemacht fürs Milieu, das nun längst in Konkurrenz zur Reeperbahn getreten war; bloß um einige Umdrehungen härter, weil es immer auch um harte Drogen ging.
"Die Gentrifizierung ist ganz klar gewollt. Wohnen hat dabei absoluten Vorrang. Spätestens 1980 war das Viertel am Kippen gewesen, sagt Voigtland. Der Bürgerverein St. Georg vertritt heute die Mehrheitsmeinung der Anwohner, die zum Teil ziemlich genervt sind vom Straßenstrich vor der frisch gestrichenen Haustür, auch wenn die Polizei schätzt, dass gerade mal noch 220 Prostituierte ihrem Job nachgingen.
Doch die Sanierungspolitik hat dazu geführt, dass St. Georg nicht mehr in einem Atemzug mit Drogen und Prostitution genannt wird. Stattdessen steht es immer häufiger für "Mietwucher" und "Verdrängung", weil immer mehr Besserverdiener vom spannenden Kontrast zwischen Gründerzeit und Glasfassaden fasziniert sind. Der Bezirksamtsleiter von Hamburg-Mitte, Andy Grote (SPD) spricht deshalb gern von einem "Schutzschirm", den er gegen die negativen Folgen der Umwandlung aufspannen wolle: "Mittlerweile werden in jedem Stadtteil Sozialwohnungen gebaut, nur nicht in St. Georg", sagt er. "Die Politik muss ihre wohnungsbaupolitischen Ziele in den Verhandlungen mit den Investoren auch durchsetzen." Mit Politikern und Grundeigentümern will der Bezirkschef eine gemeinsame Strategie für die Lange Reihe als "Straße der Vielfalt" entwickeln, und es ist zu vermuten, dass für den schmuddeligen Teil des Steindamms dann auch gleich mitgedacht wird. Und für den Hansaplatz.