Gläubiger haben im Schnitt Forderungen von 25.000 Euro. Single-Männer stark betroffen. 78.000 Haushalte in Hamburg überschuldet.
Hamburg. Warnzeichen gibt es viele. Auf dem Kontoauszug stehen fast zu jedem Monatsabschluss rote Zahlen. Der Energieversorger schickt eine Mahnung, und die Rechnung vom Versandhändler hätte auch schon vor einer Woche bezahlt werden müssen. Das sind bei vielen Hamburger Haushalten keine ungewöhnlichen Situationen. "Doch oft werden solche Warnzeichen zu spät ernst genommen", sagt Schuldnerberaterin Hjördis Christiansen von der Verbraucherzentrale Hamburg. "Wer das ganze Jahr über im Dispo ist oder häufiger Mahnungen bekommt, hat schon ein ernstes Problem und sollte sich professionellen Rat holen."
Noch tun das zu wenige, denn Überschuldung ist ein gravierendes Problem für Hamburg. Jeder zehnte Hamburger ist davon betroffen, wie aus einer Studie des Instituts für Finanzdienstleistungen (IFF) hervorgeht, die dem Abendblatt exklusiv vorliegt. "160 000 Hamburger sind überschuldet und haben damit Schwierigkeiten, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben", sagt Achim Tiffe, Geschäftsführender Direktor des IFF in Hamburg. Im Schnitt belaufen sich die Schulden der Hamburger auf rund 25 000 Euro. Davon sind 15 unterschiedliche Gläubiger betroffen. Doch Überschuldung sei mehr als ein Liquiditätsproblem, sagt Tiffe. "Sie geht oft einher mit Einkommensarmut, Mangel an Bildung, Krankheit und einem erschwerten Zugang zu Finanzdienstleistungen", sagt Tiffe. Nach Einschätzung des IFF sind in Hamburg 78 000 Haushalte von Überschuldung betroffen. Als überschuldet gilt, wenn das Einkommen über einen längeren Zeitraum nach Abzug der Lebenshaltungskosten und Einschränkungen beim Lebensstandard nicht ausreicht, um die Schulden fristgerecht zu bedienen.
Erstmals wurde die Situation der überschuldeten Hamburger umfassend analysiert. "Dazu haben wir die Beratungsfälle von acht Schuldnerberatungsstellen wie Diakonisches Werk oder Hamburger Arbeit Beschäftigungsgesellschaft ausgewertet", sagt Michael Knobloch vom IFF, einer der Autoren der Studie.
Besonders Personen des mittleren Alters sind von Überschuldung betroffen. Die 40- bis 45-Jährigen stellen die größte Gruppe. Noch entscheidender ist aber der Familienstand. Allein lebende Männer sind mit knapp 40 Prozent die größte Gruppe unter den Überschuldeten. "Ein wichtiger Grund dafür können die Kosten einer zurückliegenden Trennung sein", sagt Knobloch. Ein entscheidender Faktor ist die Bildung. "Je schlechter die Schul- und Ausbildung, desto höher das Risiko der Überschuldung", sagt Knobloch. "Denn wer nur eine geringe schulische und berufliche Bildung hat, ist meist nur in prekären Erwerbsverhältnissen tätig und verliert in Abschwüngen besonders leicht seinen Job."
Über die Hälfte der Betroffenen ist arbeitslos und 80 Prozent der Überschuldeten leben unterhalb der Armutsgrenze von 1000 Euro im Monat. 20 000 der 160 000 müssen sogar ohne ein Girokonto auskommen, geht aus der Studie des IFF hervor.
Der Weg in die Überschuldung beginnt schleichend, und die Ursachen sind vielfältig. Von den nicht beeinflussbaren Ereignissen steht Arbeitslosigkeit an erster Stelle, gefolgt von Scheidung, Trennung und Krankheit. Bei den vermeidbaren Auslösern steht das Konsumverhalten an erster Stelle, so das IFF. "Die Situation der Menschen in finanziellen Krisen ist in Hamburg nicht besser als anderswo", sagt Knobloch. Bei den überschuldeten Personen liegt Hamburg im Mittelfeld. Die Verschuldungssumme ist allerdings im Bundesdurchschnitt acht Prozent höher als in Hamburg. Geringe Schuldnerquoten von weniger als acht Prozent gibt es nur in Bayern und Baden-Württemberg.
"Wenn die Leute zu uns in die Beratung kommen, ist leider schon sehr viel gelaufen", sagt Christiansen. Es sei schon erstaunlich, dass es in vielen Fällen immer noch Kredit von der Bank gibt. So sind die Forderungen der Kreditinstitute mit durchschnittlich 9258 Euro der größte Einzelposten bei den Überschuldeten. Bei den Selbstständigen betragen die Bankschulden sogar 16 409 Euro. "Es war eine ganze Zeit viel zu einfach, an einen Kredit zu kommen", sagt Andreas Grölz von Beratung und Betreuung Roder & Förter-Vondey. Auch hätten viele Schuldner Probleme, die Inanspruchnahme des Dispositionskredites als tatsächliches Schuldenmachen zu erkennen. "Die rechnen den Disporahmen noch zu ihrem eigenem Geld", sagt Grölz.
Wichtig sei es vor der Kreditaufnahme, die Laufzeit einer Ratenverpflichtung auszuloten, also ob man auch auf Sicht von fünf oder acht Jahren die Schulden noch problemlos abbezahlen kann. "Das tun zu wenige, wenn auch keiner vor unvorhergesehenen Ereignissen gefeit ist", sagt Grölz. Vor allem Selbstständige würden bei sinkenden Einnahmen ihren Lebensstil zu spät anpassen. Nach der IFF-Studie haben überschuldete Selbstständige einen Schuldenberg von 55 408 Euro.
Experte Knobloch fordert, die präventive Schuldnerberatung auszubauen. An der Finanzierung sollten sich die Banken stärker beteiligen. Auch staatliche Stellen wie das Finanzamt, die häufig Gläubiger sind, müssten die Schuldnerberatung stärker propagieren und die Nutzung der Beratung durch das Absehen von Vollstreckungsmaßnahmen belohnen.
Ein großes Problem ist die lange Überschuldungsdauer von 15 Jahren, gemessen von den ersten Problemen bis zur endgültigen Löschung aller Negativmerkmale bei der Schufa. "Dieser Zeitraum muss verkürzt werden", fordert Knobloch. So sollten nach der Restschuldbefreiung die Löschfristen bei den Auskunfteien von drei Jahren auf sechs Monate verkürzt werden.
Der Gesetzgeber plant eine Verkürzung des Verbraucherinsolvenzverfahrens von sechs auf drei bzw. fünf Jahre. Von der dreijährigen Insolvenzdauer kann aber nur profitieren, wer 25 Prozent der Gläubigerforderungen erfüllt.