Der Rechtsstaat hat auch seinen Preis: Unabhängige Gerichte und Bürgereinsprüche stehen der Umsetzung oft im Weg.
Hamburg. Ärger hatte Peter Ramsauer (CSU) an diesem Tag schon genug gehabt. Etatverhandlungen für sein Ministerium musste der Bundesverkehrs- und -bauminister am vergangenen Mittwochmorgen führen, politische Gespräche auch über manches schwierige Verkehrsprojekt. Verspätet traf er am Mittag beim Deutschen Logistik-Kongress im Berliner Hotel InterContinental ein. Dort berichtete er den versammelten Topmanagern der deutschen Logistikwirtschaft von seinem unermüdlichen Ringen für eine moderne Infrastruktur in Deutschland.
Mit Fachleuten konnte der Minister sich da austauschen, die wissen, wie schwierig Güter in einer Zeit allgegenwärtiger Staus und wachsenden Zeitdrucks zu bewegen sind. Doch schnell wurde Ramsauer wieder in die Mühlen des Tagesgeschäfts gezwungen. Ein Abendblatt-Reporter informierte ihn bei einer Pressekonferenz darüber, dass das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig soeben die geplanten Bauarbeiten zur Vertiefung und Verbreiterung der Elbe vorläufig gestoppt habe. Ramsauer reagierte so, wie es Politiker seines Ranges in der Öffentlichkeit nur höchst selten tun. Ungeschminkt von Pressesprechern und Meinungskosmetikern tat er seinen Unmut kund: "Manchmal wissen sie nicht, was sie tun", sagte er mit Blick auf die Richter in Leipzig. Es sei eine "katastrophale Entscheidung" für den Logistikstandort Deutschland, dass die Elbvertiefung nicht wie erhofft vorangetrieben werden dürfe.
Justizschelte in einem demokratischen Rechtsstaat, schon gar aus dem Munde eines Bundesministers, ist eine heikle Sache. Gerade Profis wie Ramsauer wissen, dass Richter in Deutschland nicht zu ihrem eigenen Vergnügen urteilen, sondern in Auslegung geltenden Rechts. Der spontane Ausbruch des Ministers zeigte aber auch, unter welchem Druck Politik und Wirtschaft in Deutschland gerade bei der Umsetzung großer Infrastrukturprojekte mittlerweile stehen. Allerorten mangelt es an Geld. Doch selbst mit einer hinreichend sicheren Finanzierung ist längst nicht klar, wie und wann ein Großvorhaben letztlich realisiert wird. Egal, ob es um Stromtrassen für neue Wind- und Solarparks geht, um Kohlekraftwerke, Autobahnen, Flughäfen oder Bahnhöfe - Widerstand und Klagen von Einzelpersonen, Bürgerinitiativen und Verbänden ploppen auf wie Pilze aus dem feuchten Waldboden.
Deutschland ist ein hochtourig laufendes Industrieland. Die meisten Bürger wollen ihren Wohlstand im Rahmen einer wachsenden Wirtschaft zumindest erhalten, wenn nicht mehren. Doch zugleich wächst bei vielen Menschen das Unbehagen darüber, Teil einer rastlosen Maschinerie zu sein. Konflikte zwischen dem Neu- und Ausbau von Infrastruktur einerseits und dem Umwelt- und Anliegerschutz nehmen flächendeckend zu. Der Kampf um das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 ist dafür nur ein Beispiel. Norddeutschland erlebte jahrelangen Widerstand gegen die Magnetschwebebahn Transrapid wie auch gegen den Ausbau des Airbus-Werkes auf Finkenwerder.
Verzögerungen bei großen Baumaßnahmen aber drohen Regionen oder gar das ganze Land wirtschaftlich zurückzuwerfen. Vom einstweiligen Stopp der Elbvertiefung könnte der neue Tiefwasserhafen in Wilhelmshaven ebenso profitieren wie Europas größter Hafen Rotterdam in den Niederlanden. Hamburg hingegen muss weiterhin auf den Ausbau seines wichtigsten Verkehrsweges warten, womöglich jahrelang. Wenn die Elbvertiefung am Ende überhaupt in ihrer heute geplanten Form realisiert werden kann.
"Die Gesellschaft in Deutschland muss politisch debattieren und auch durch Wahlen mit entscheiden, welchen Stellenwert der Ausbau und die Modernisierung von Infrastruktur in einem wirtschaftlich so stark eingebundenen Land haben soll", sagt Professor Thomas Straubhaar, Direktor des Hamburgischen WeltWirtschaftsInstituts (HWWI). "Der ökonomische Druck jedenfalls wird wachsen, die Energieversorgung, aber auch die Transportwege umfassend zu erneuern."
Ein Patentrezept für einen reibungsärmeren Ablauf von Großbauten haben Politik und Wirtschaft nicht parat. Jahrelang bereitete Hamburg das Planfeststellungsverfahren für die Elbvertiefung mit vor, um genau das zu vermeiden, was durch die vorläufige Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts nun eingetreten ist. Geduldig versicherte ein Wirtschaftssenator nach dem anderen, dass es bald losgehen werde mit der Ausbaggerung der Fahrrinne. Niedersachsen und Schleswig-Holstein wurden an den Vorbereitungen ebenso intensiv beteiligt wie die EU-Kommission in Brüssel. Denn die Erweiterung der Elbfahrrinne tangiert auch europäisches Umweltrecht.
In Hamburg war die Erleichterung groß, als der Planfeststellungsbeschluss der zuständigen Bundesbehörde in Kiel im Frühjahr auch von Niedersachsen genehmigt wurde, dem zuvor kritischsten der drei betroffenen Bundesländer. Nun gab es nur noch eine Hürde, die Eilanträge der Kläger gegen die Elbvertiefung, vorgebracht beim Bundesverwaltungsgericht unter anderem von den Umweltverbänden BUND und Nabu. Die aber wirken nun zunächst als Vollbremsung. Eine Entscheidung im Hauptverfahren dürften die Bundesverwaltungsrichter nicht vor Ende 2013 fällen. Geben die Richter dort den Weg für die Elbvertiefung frei, drohen weitere Klagen der Gegner beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe und vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg.
"Man hat im Hamburger Senat vielleicht unterschätzt, welche juristische Expertise und damit auch Schlagkraft die Umweltverbände mittlerweile haben", sagt der Hamburger Wirtschaftsprofessor Karl-Werner Hansmann. Als früherer Vizepräsident der Universität Hamburg musste er selbst häufig Interessenkonflikte zwischen verschiedenen Gruppen schlichten. Als Wissenschaftler und Buchautor ist ihm aber auch das Spannungsverhältnis zwischen ökonomischen und ökologischen Erfordernissen vertraut. "Die rechtsstaatlichen Verfahren dürfen in einem Konflikt wie bei der Elbvertiefung auf keinen Fall zugunsten der wirtschaftlichen Interessen aufgeweicht werden", sagt Hansmann. "Richter erlassen nicht leichtfertig eine einstweilige Verfügung, schon gar nicht in einem Fall von solcher Tagweite. Die Hamburger Politik hätte wohl im Vorfeld viel intensiver den Dialog mit den Gegnern des Projekts führen müssen anstatt nur Maximalpositionen zu verfolgen."
Zeitliche Erleichterungen in Mammutverfahren wie der Elbvertiefung ließen sich am ehesten erreichen, wenn Behörden und Gerichte für die gewandelte gesellschaftliche Lage gewappnet würden, meint Hansmann: "Ein Bundesrichter hat im Zweifel weniger Assistenten als ein Hochschulprofessor, die ihm bei der Aufarbeitung komplexester Rechtsstreitigkeiten zuarbeiten. Die personelle Ausstattung von Genehmigungsbehörden und Gerichten ist der zunehmenden Klagefreude in Deutschland schon seit Jahren nicht mehr angemessen, sie muss dringend aufgestockt werden", sagt er. "Auch Genehmigungs- und Gesetzgebungsverfahren müssen weiter vereinfacht werden."
Allerdings fällt die juristische Überprüfung der Elbvertiefung bereits unter ein entsprechendes Beschleunigungsgesetz von 2006. Die Entscheidung obliegt direkt dem höchsten deutschen Verwaltungsgericht in Leipzig und nicht zuvor erst einem Gericht in einem Bundesland. Unter anderem deshalb glaubt Thomas Straubhaar nicht, dass mehr Bürokraten und Richter Abhilfe schaffen können: "Was wiegt schwerer, das Individual- oder das Gemeinschaftsinteresse?", sagt er. "Dieses Dilemma können Verwaltung und Gerichte nur scheinbar lösen. Behördenexperten und Richter arbeiten ja letztlich nur das auf, was Politik und Wirtschaft ihnen vorgeben." Der Ökonom plädiert dafür, dass Deutschland mehr Elemente vom französischen Planungssystem übernimmt. In Frankreich werden meist zunächst Fakten durch Bauprojekte geschaffen. Individuelle Schäden und mögliche Entschädigungen verhandelt man bei Bedarf später. "Das deutsche System bräuchte wahrscheinlich etwas mehr vom französischen", sagt er. "Sonst kommen wir beim Ausbau der Infrastruktur bald gar nicht mehr voran. Denn in einer offenen und von Medien stark mitgeprägten Demokratie nimmt der Druck durch Partikularinteressen immer weiter zu."