Familienmitglieder des 24 Jahre alten Angeklagten beriefen sich auf ihr Recht, die Aussage zu verweigern.
Die Mutter des Angeklagten stößt einen schrillen Klageschrei aus, als sie ihren Sohn Ahmad-Sobair Obeidi (24) im Gerichtssaal wiedersieht. Sie zittert am ganzen Körper, als sie auf dem Zeugenstuhl Platz nimmt, im Prozess gegen ihren eigenen Sohn. Der muss sich wegen Mordes an seiner Schwester Morsal (16) vor dem Landgericht verantworten. Am 15. Mai vergangenen Jahres tötete er Morsal mit 23 Messerstichen, weil er über ihren Lebensstil verärgert gewesen sein soll. Die Mutter des Täters und zugleich Mutter des Opfers, sie schluchzt: "Ich habe zwei Kinder verloren". Nun bricht auch der Angeklagte in Tränen aus, und für Minuten ist nur das Weinen im Saal zu hören - es ist das Familientreffen der Obeidis vor dem Schwurgericht.
"Ich möchte nicht aussagen", entfährt es der Mutter mit letzter Kraft, dann verliert sich die 42-Jährige im Weinkrampf. Sie beruft sich auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht, genauso wie der Vater, der 14 Jahre alte Bruder und die 19 Jahre alte Schwester des Angeklagten, die nacheinander in den Zeugenstand gerufen werden. "Ich bin zurzeit Busfahrer", sagt Vater Ghulam-Mohamad Obeidi (46) - dann schweigt auch er, der selbst gerade angeklagt wurde. Vorwurf: Misshandlung von Schutzbefohlenen, seiner eigenen Tochter Morsal.
Vater Obeidi, sein 14-jähriger Sohn und seine 19-jährige Tochter nehmen danach auf den Zuschauerplätzen Platz, als das Leben Morsals im Prozess zur Sprache kommt, ihre Qualen. Ein früherer Klassenlehrer von Morsal berichtet von einem Gespräch, das er mit dem Angeklagten geführt habe: "Er kam einmal in die Schule und sagte mir, dass er mehr Kontrolle über Morsal haben wolle." Sie sei nach der Schule oft nicht sofort nach Hause gekommen und habe sich oft geschminkt, soll er dem Lehrer gesagt haben. Der Angeklagte habe von ihm verlangt, ein "Kontrollbuch" zu führen mit den Zeiten, wann ihr Unterricht zu Ende sei. "Ich habe das abgelehnt, ich habe solche Angelegenheiten eher als Aufgabe der Eltern gesehen."
Er beschreibt Morsal als eine sehr selbstbewusste Schülerin. "Morsal war diejenige, die die Interessen der Klasse vertrat." Deswegen sei sie beliebt gewesen. Sie habe Wert auf ein angenehmes Äußeres gelegt, "sie schminkte sich wie alle anderen Mädchen, aber nicht gerade dezent."
Eine 17 Jahre alte frühere Mitschülerin berichtet vor Gericht, dass Morsal ihr erzählt habe, dass sie in ihrer Familie oft Streit gehabt habe - von ihrem Vater und dem Angeklagten dabei auch geschlagen und getreten worden sei. "Sie musste nach der Schule sofort nach Hause" und habe erzählt, dass sie sich beispielsweise nicht schminken, nicht anziehen durfte, was sie wollte, und nicht mit Jungs befreundet sein durfte. Einmal sei Morsal "bekifft" in die Schule gekommen, habe erzählt, dass sie versucht habe, sich die Pulsadern aufzuschneiden.
Ein anderes Mal rief Morsal die Zeugin an, berichtet diese, als sich die 16-Jährige nach einem Streit mit ihrer Familie aus Angst in ihrem Zimmer eingeschlossen hatte. Die Mutter der Zeugin rief damals die Polizei, die Morsal befreite. Die 17-Jährige muss alle Kraft zusammennehmen, als sie sagt: "Der Angeklagte drohte mir nach dem Vorfall, mich abzustechen." Narben habe die Zeugin auf Morsals Haut gesehen. Sie weint und sagt: "Morsal hat mir erzählt, dass sie mit kochendem Wasser übergossen wurde." Der Prozess wird am kommenden Freitag fortgesetzt.