Seit 40 Jahren kümmert sich “Ärzte ohne Grenzen“ um Opfer von Krieg und Naturkatastrophen. Und prangert Verletzungen der Menschlichkeit an.
Hamburg. Das Leben von Meike Hülsmann änderte sich auf einem spitzen Felsen im Atlantik. Es war 1997, Hülsmann besetzte zusammen mit anderen Protestlern die kleine Insel Rockall, 400 Kilometer westlich der Hebriden. Die Aktion gegen die geplante Erdölförderung hatte Greenpeace organisiert. "Da saß ich dann mit einem Kollegen auf dem Stein, und wir erzählten uns gegenseitig unser Leben", erinnert sich Hülsmann, damals 31. "Und er schwärmte von seiner Zeit bei 'Ärzte ohne Grenzen'."
+++ Ausstellung: "Überleben auf der Flucht" +++
+++ Wenn ein Teppich zum Behandlungszimmer wird +++
Der Gedanke, auch dort zu arbeiten, beschäftigte Meike Hülsmann immer wieder. Bis die Umwelttechnikerin ein Jahr später bei der Hilfsorganisation anfragte, ob man eine wie sie gebrauchen könne. Man konnte. Hülsmann durchlief das aufwendige Bewerbungsverfahren, ein Intensiv-Kursus in Holland bereitete sie praktisch und psychologisch auf die Arbeit in der Dritten Welt vor. Im Jahr 2000 startete die gebürtige Lübeckerin zu ihrem ersten Einsatz für "Ärzte ohne Grenzen": In einem Projekt in Eritrea koordinierte sie neun Monate lang medizinische Hilfe, Wasser- und Sanitärversorgung.
Seit 40 Jahren will "Ärzte ohne Grenzen" Menschen helfen, die unter Hunger, Krieg, Terror, Naturkatastrophen und unzulänglicher medizinischer Versorgung leiden. Die Geschichte der Organisation begann während einer der furchtbarsten Hungerkatastrophen des 20. Jahrhunderts: im Biafra-Krieg 1967 bis 1970. Damals verhängte das nigerianische Militär eine Blockade gegen die Region Biafra im Südosten des Landes, nachdem dort Offiziere geputscht hatten. Frankreich war zu diesem Zeitpunkt das einzige Land, das die Bevölkerung Biafras unterstützte. Großbritannien, die USA und die Sowjetunion ergriffen Partei für Nigeria.
Einige französische Ärzte, darunter auch der spätere Außenminister Bernard Kouchner, meldeten sich zusammen mit dem französischen Roten Kreuz freiwillig, um in Krankenhäusern und Versorgungszentren des belagerten Biafra zu arbeiten. Im Land selbst waren die Helfer den Angriffen der nigerianischen Armee ausgesetzt, sie mussten mitansehen, wie Zivilisten ermordet wurden und Kinder verhungerten. Zwischen der Regierung Nigerias und dem Roten Kreuz brachen Konflikte auf. Kouchner und andere Ärzte wollten dem Wohl und den Bedürfnissen der Opfer Vorrang einräumen gegenüber politischen, religiösen oder wirtschaftlichen Interessen. Am 20. Dezember 1971 gründete er zusammen mit anderen Medizinern und dem Herausgeber einer medizinischen Fachzeitschrift die Gruppe "Médecins Sans Frontières" (Ärzte ohne Grenzen). Die ersten Helfer kamen nach einem Erdbeben in Nicaraguas Hauptstadt Managua zum Einsatz, in Honduras nach einem Hurrikan, während der Bürgerkriege in Kambodscha, Thailand und Libanon.
Heute hat "Ärzte ohne Grenzen" Sektionen in 19 Ländern und kann aus einem Spendenaufkommen von 943 Millionen Euro schöpfen, davon allein 82 Millionen aus Deutschland. Mehr als 30 000 Menschen arbeiteten im vergangenen Jahr in 427 Projekten in 60 Ländern. Sie versorgten Schusswunden bei Kriegsgeschundenen in Afghanistan und Libyen, impften Kinder in Afrika gegen Masern oder kümmerten sich um die Erdbebenopfer in Haiti. Die Teams schaffen Inseln der Menschlichkeit - ungeachtet der ethnischen Herkunft oder politischen und religiösen Überzeugungen der Patienten.
Auch eine andere Gruppe von Helfern und Ärzten wollte nicht mehr zwischen die Fronten von Politik, Milizen und Rohstoff-Interessengruppen geraten. 1979 gründeten Christel und Rupert Neudeck den Verein "Cap Anamur - deutsche Not-Ärzte e. V.". Auslöser waren die vietnamesischen Flüchtlinge, die im Südchinesischen Meer auf dem Weg in die vermeintliche Freiheit in Lebensgefahr gerieten: Schuld waren ihre altersschwachen und völlig überladenen Boote, heftige Unwetter und Piratenübergriffe. Für Tausende bedeutete das den Tod. Die Neudecks wollten nicht tatenlos zusehen. Sie charterten den Frachter "Cap Anamur": Mehr als 10 000 "Boat People" wurden gerettet, etwa 35 000 Menschen an Bord medizinisch versorgt.
"Im Vergleich zu 'Ärzte ohne Grenzen' sind wir eine kleine Organisation geblieben", sagt "Cap Anamur"-Geschäftsführer Bernd Göken. "Wir sind nur im deutschsprachigen Raum bekannt. Und unsere Projekte sind als Hilfe zur Selbsthilfe angelegt. Wir geben sie nach einer gewissen Zeit in die Hände von Einheimischen."
Beide Organisationen fühlen sich der Unparteilichkeit und Unabhängigkeit verpflichtet. "Ärzte ohne Grenzen" beherzigt diese Neutralität auch in Afghanistan. "Wir sprechen mit allen Parteien, mit den Taliban, den Warlords, der Opposition, der Isaf", sagt Frank Dörner, Geschäftsführer von "Ärzte ohne Grenzen" Deutschland. "Jeder soll verstehen, dass wir da sind, um medizinische Nothilfe zu leisten ohne andere Intentionen."
Neben den Einsätzen in Kriegs- und Konfliktgebieten hat es sich "Ärzte ohne Grenzen" zur Aufgabe gemacht, schwere Menschenrechtsverletzungen und Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht anzuprangern. Für ihr Engagement für die Opfer von Not und Gewalt bekamen die "Ärzte ohne Grenzen" 1999 den Friedensnobelpreis. Ihr damaliger Präsident James Orbinski nutzte seine Dankesrede in Oslo und forderte den damaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin auf, das Bombardement schutzloser Zivilisten in Tschetschenien zu beenden.
Amadeus von der Oelsnitz, 49, faszinierte an "Ärzte ohne Grenzen" vor allem das Prinzip des "Témoignage" - Zeuge zu sein. "Die Kombination von medizinischer Nothilfe und politischem Engagement hat mich angesprochen, davon wollte ich ein Teil sein", erzählt der Krankenpfleger, der im Drogenhilfezentrum Drob Inn am Hamburger Hauptbahnhof arbeitet. Sein erster Einsatz führte ihn im Frühjahr 2002 in ein HIV-Projekt nach Malawi.
Sumatra nach dem Tsunami, Liberia nach dem Bürgerkrieg, Niger während einer Hungersnot - Amadeus von der Oelsnitz ist von der guten Sache überzeugt, der er bisher siebenmal gedient hat. Dafür nimmt er finanzielle Einbußen in Kauf: "Ich nehme dann unbezahlten Urlaub und verdiene bei den Einsätzen weniger als ein Krankenpfleger in Hamburg." Von März bis Juni war er im Tschad, baute ein Gesundheitszentrum auf und impfte Kinder gegen Masern, eine der häufigsten Todesursachen in Afrika bei unter Fünfjährigen.
Aus jedem Einsatz hat er nachhaltige Eindrücke mitgenommen, die den deutschen Alltag und die hiesigen Probleme relativieren. "Es gibt nur Strom, wenn man ihn selbst mit dem Generator erzeugt. Das Essen ist anders, die Dusche ein Wasserschlauch, die Toilette ein Loch im Boden und das Team eine bunt zusammengewürfelte Gruppe verschiedener Individuen. Mit diesen Umständen muss man klarkommen."
Ein typischer Tagesablauf im Tschad: Fünf Uhr: Aufstehen, waschen, frühstücken, den Tagesplan durchgehen. Sechs Uhr: Autos beladen mit Kühlkisten für den Impfstoff und kleinen Transportbehältern für Spritzen, Nadeln, Tupfer und anderes medizinisches Material. Anschließend mit bis zu 80 Mitarbeitern im Konvoi in den Busch zum Impfen. Aus Sicherheitsgründen vor Einbruch der Dunkelheit zurück ins Camp. Dort Material sortieren und auffüllen, Impfstoff kühlen, statistische Auswertungen, Papierkram, Teambesprechung, mit Glück um 22 Uhr ins Bett. "Wenn ich dann wieder nach Hause komme, genieße ich es, Familie und Freunde zu treffen, ins Konzert zu gehen oder mal lange und heiß zu duschen", sagt von der Oelsnitz.
In den nächsten Wochen nimmt der Krankenpfleger Elternzeit und wird sich um seinen Ende September geborenen Sohn Otto kümmern. Aber 2012 will der Hamburger wieder für "Ärzte ohne Grenzen" arbeiten. "Meine Freundin akzeptiert meine Passion."
Im Osten der Demokratischen Republik Kongo ist der Hamburger Schiffbauingenieur Nikolaus Wiesner, 38, zurzeit dafür zuständig, dass das Gesundheitszentrum von "Ärzte ohne Grenzen" im abgelegenen Dorf Pinga arbeitsfähig ist. "Als technischer Projektleiter und Logistiker kümmere ich mich mit meinem einheimischen Team um den Fuhrpark, die Kommunikation und Energieversorgung, um Reparaturen und den Bau neuer Gebäude sowie um die Instandhaltung der Graslandebahn. Wegen des Regens sind die Straßen kaum passierbar. Also werden wir aus der Luft versorgt, aber das auch nur unregelmäßig", berichtet Wiesner, der seit einem Monat in Pinga arbeitet. Fast täglich gebe es Probleme mit Elektrik und Stromversorgung, die selbst behoben werden müssen. Ein halbes Jahr wird Wiesner noch bleiben.
Seit 2008 bietet "Ärzte ohne Grenzen" in Pinga medizinische Hilfe für die Bevölkerung an, von der fast ein Drittel Vertriebene aus umliegenden Gebieten sind. Neben der Grundversorgung werden Mütter vor und nach der Geburt betreut und die Opfer sexueller Gewalt behandelt. Das Team bietet auch Ernährungsprogramme, Gesundheitserziehung und eine Cholerabehandlung.
Im vergangenen Jahr war Wiesner sieben Monate lang nach einem Erdbeben in Haiti im Einsatz. Dieser Job brachte ihn an seine Grenzen, gibt der Ingenieur zu. "Meine Frustrationsschwelle war in manchen Momenten so niedrig, dass ich mich gefragt habe, warum ich überhaupt so viel Energie in die Sache stecke. Aber in solchen Fällen hat es mir immer geholfen, einen Blick in die Säuglingsstation zu werfen. Da wusste ich wieder, warum ich da war."
Lesen, Musikhören und vor allem Telefonate übers Internet mit der Freundin und der Familie helfen über Stimmungsschwankungen hinweg. "Natürlich vermisse ich Hamburg und Altona und meine Lieben. Aber ihr Verständnis für meine Arbeit gibt mir das Gefühl von Nähe." Weihnachten will Nikolaus Wiesner mit fünf anderen internationalen Mitarbeitern in Pinga feiern - "ein ganz besonderes Fest".
Meike Hülsmann ist im Juli 2007 aus ihrem vorerst letzten Projekt in Somalia zurückgekehrt. Neun Jahre lang hatte sie für "Ärzte ohne Grenzen" in der Demokratischen Republik Kongo und im Tschad, in Burundi, Darfur, Nigeria und der Zentralafrikanischen Republik medizinische Hilfe koordiniert und für gute logistische Rahmenbedingungen gesorgt. In Hamburg wurde sie danach sesshaft - "aus Vernunft", sagt die heute 45-Jährige. "Ich wollte nicht so leben wie viele meiner Kollegen. Die sind neun Monate im Jahr im Einsatz, und die anderen drei Monate tingeln sie zwischen Familie und Freunden von einer Couch zur anderen."
Seitdem arbeitet Hülsmann in der Logistik-Abteilung eines Windkraftanlagen-Herstellers. Seit 2008 ist die Technikerin überdies im Vorstand des Vereins "Ärzte ohne Grenzen", gibt ihr Wissen und ihre Erfahrung auf diese Weise weiter. Mit einer Hebamme und einem Fahrer aus ihrem ersten Projekt in Eritrea hat sie immer noch Kontakt. Und manchmal denkt Meike Hülsmann auch noch an den spitzen Felsen im Atlantik, mit dem für sie alles begann bei "Ärzte ohne Grenzen".