Theo Sommer hält sich fit, ohne auf Genuss zu verzichten. Und trotz seiner 81 Jahre denkt der Publizist noch längst nicht an Ruhestand.
Der rote Faden zieht sich durch die Stadt: Er verbindet Menschen, die einander schätzen, bewundern, überraschend finden. Sie entscheiden, an wen sie ihn weiterreichen: an andere, die hier arbeiten, die etwas Besonderes für diese Stadt leisten, die in Hamburg als Vorbilder gelten. Den Anfang machte Altbürgermeister Henning Voscherau. In der 18. Folge vor einer Woche: Vural Öger.
Einen älteren Herrn im feinen Anzug mit einem Stinkefinger in Verbindung zu bringen ist eine abwegige Vorstellung. Doch tatsächlich findet sich eine solch anstößige Geste in Theo Sommers Büro. Vom Schreibtisch aus kann er die hölzerne Hand im Wandregal sehen, wie sie provozierend den Mittelfinger nach oben reckt. Sommer schmunzelt. "Sie ist ein Mitbringsel von den Philippinen, da war ich beruflich in den 70er-Jahren und fand sie witzig", sagt er. "Heute nutze ich sie als Buchstütze."
Dem Faktenmenschen, dem Analytiker, als der er sich in zahllosen Artikeln für die "Zeit" erwiesen hat, ist das schelmische Augenzwinkern jedenfalls nicht abhanden gekommen. Und Sammler ist er auch, nicht nur von klugen Worten und Sätzen, sondern auch von scheinbar profanen Dingen, die der inzwischen 81-Jährige an seinem Arbeitsplatz am Speersort zusammengetragen hat. Ein Glas mit John F. Kennedys Konterfei gehört dazu; 1964 brachte er es aus den USA mit. Theo Sommer bewahrt darin den Schlüssel zu seinem Whiskyschrank auf. Zwei Regalbretter weiter hockt ein silberner, mit Perlmutt besetzter Schwan aus Indien. "Das kriegt man so geschenkt, wenn man unterwegs ist", sagt Sommer.
Unterwegs war er viel. Auf der ganzen Welt, in den USA, Japan, Korea. Dort und anderswo fand er die großen Themen, die ihn bewegten und mit denen er seine Leser bewegte. Fast 20 Jahre als Chefredakteur der "Zeit", danach, ab 1992 als Herausgeber, seit 2000 als Editor-at-Large. Eine sperrige Berufsbezeichnung. "Aber mein Titel ist ein guter Einstieg für meine Vorträge, die ich halte", sagt Sommer. Seine 81 Jahre glaubt man ihm kaum. Besonders dann nicht, wenn er lebhaft erzählt, aufmerksam zuhört und Fragen druckreif beantwortet. "At large heißt: auf freiem Fuß. Ein Ambassador-at-Large ist ein Botschafter, der keine Botschaft leitet, aber diplomatische Aufträge ausführt. Ein Criminal-at-Large ist ein entsprungener Häftling. Und ein Editor-at-Large ist eine Mischung aus beidem." Eigentlich habe er den Titel nur für seine englischen Visitenkarten gebraucht. Irgendwie sei er dann im Impressum der "Zeit" gelandet.
Noch immer verbringt Theo Sommer, wenn er in Hamburg ist, rund vier Tage pro Woche in seinem "Zeit"-Büro. Diskutiert - wie Helmut Schmidt auch - freitags in der politischen Redaktionskonferenz mit. Seit 1959 ist das so. Er müsste es nicht mehr, aber es ist eine lieb gewonnene Gewohnheit. Sommer pflegt einige davon. Täglich um 17 Uhr ist es Zeit für einen schottischen Whisky. Jeden Morgen um 7 Uhr joggt er 40 Minuten in Volksdorf, früher von seinen zwei Dalmatinern und dem inneren Schweinehund begleitet, heute allein. Hunde wolle er nicht mehr haben. "Wenn man 25 Jahre lang weiße Dalmatiner-Haare an blauen Socken hatte, dann ist es irgendwann genug", sagt Sommer. Den Morgenlauf hingegen brauche er, um in den Tag hineinzukommen, zu durchdenken, was alles anliegt und den einen oder anderen Texteinstieg zu formulieren.
Auch beim Schreiben setzt er auf eine vertraute Methode. "Ich zeige Ihnen das mal", sagt Sommer, erhebt sich ohne Anstrengung aus seinem Ledersessel und greift sich eine Schreibtischunterlage aus Papier. Er faltete sie auseinander, streicht den Bogen sachte glatt. "So sieht das aus bei mir." Die Vorderseite ist komplett beschrieben, Textblöcke in grün und schwarz, zwischen denen Pfeile hin- und herweisen. "Jeder entwickelt ja seine Methode, ich mache mir für meine Artikel und Texte vorher eine Struktur mit meinen Argumentationsketten", sagt Sommer. Sein System weist ihn als einen Menschen aus, der an einem Gedanken feilt, ehe er ihn zu Papier bringt und veröffentlicht.
Der aber, allen Ritualen zum Trotz, auch mal ausschert. Der im Grand Canyon raftet oder, vor etlichen Jahren, mit seinem Sohn Bungee-Jumping ausprobierte und sich 48 Meter in die Tiefe stürzte. Als müsse er immer wieder testen, ob neben dem Geist auch sein Körper verlässlich funktioniert.
Umso rationaler beschreibt er seine Profession: "Für mich heißt Schreiben zu ergründen, wo eine Entwicklung ihren Anfang nahm", sagt der promovierte Historiker. "Ich bin sicher kein Dichter, sondern jemand, der am Ende seiner Texte fragt: Wo geht diese Entwicklung hin? Und wo soll sie hingehen?"
Seine eigene hätte mehrmals auch einen anderen Verlauf nehmen können. Nicht zuletzt angestoßen von Helmut Schmidt, den er 1960 auf der Heimreise von einer Konferenz im 2.-Klasse-Schlafwagen von Genf nach Hamburg kennenlernte. Die Nacht verbrachten der damals 42-jährige Bundestagsabgeordnete und der zwölf Jahre jüngere "Zeit"-Redakteur dann mit Pils und Nuklearstrategie-Themen. Knapp zehn Jahre nach dieser Begegnung wurde Sommer von Schmidt zum Leiter des Planungsstabes im Verteidigungsministerium berufen, von 1970 bis 1972 war er Mitglied der Wehrstrukturkommission der Bundesregierung.
Doch das sollten Ausflüge bleiben. Der gebürtige Konstanzer zog den Journalismus der Position eines Staatssekretärs vor. Vielleicht war auch die Gräfin mit ein Grund dafür: Marion Dönhoff, die Grande Dame der "Zeit", Chefredakteurin und Herausgeberin, eine der größten Publizistinnen der Nachkriegszeit. Die 2002 verstorbene Hamburger Ehrenbürgerin hatte 1958 den damals 27-jährigen Sommer zur "Zeit" geholt, für ein Gehalt von 1000 D-Mark. Viel Geld damals.
In fünf Jahrzehnten prägte er, den sie später "Mister Zeit" nannten, die sozialliberale und international ausgerichtete Linie des Blattes mit. Früh trat er für die Entspannungspolitik gegenüber dem Ostblock ein. Umstritten war dabei, dass er die Freiheit für die Menschen in der DDR über die deutsche Einheit stellte. "Da war dieser eine Satz, der mir immer wieder vorgehalten wurde", sagt Sommer. "Wer heute das Gerippe der deutschen Einheit aus dem Schrank holt, kann alle anderen nur in Angst und Schrecken versetzen", hatte er im Juni 1989 warnend geschrieben. "Diese Worte erschienen drei Wochen nach dem Pekinger Blutsonntag, nach dem Massaker am Tiananmen-Platz. Ähnliches in Deutschland wollte ich vermeiden. Richtig ist, ich konnte mir nicht vorstellen, dass sich die Wiedervereinigung noch zu meinen Lebzeiten vollziehen würde", sagt Sommer. "Was damals geschah, hat viele, ja alle überrascht. Natürlich war ich dann für die Wiedervereinigung!" Und er schiebt einen seiner klaren Sätze hinterher: "Nur Dumme lernen nix dazu!"
Erstaunlich ist, dass der weltpolitische Denker auf die Frage nach seinem selbst verfassten Lieblingstext nicht etwa eines seiner Analysestücke nennt, sondern einen Beitrag, der eher emotional geprägt ist. "Ein Text, den ich für die 'Newsweek' geschrieben habe", sagt Sommer, der jahrelang als Kolumnist für das amerikanische Nachrichtenmagazin schrieb. "Es ging um die Insel Kreta und alles, was die Insel an Mythen und Geschichte vermitteln kann. Das gefällt mir heute noch." 20 Jahre lang besuchte Sommer mit seiner ersten Ehefrau, einer Griechin, die Mittelmeerinsel.
Mittlerweile ist er in dritter Ehe verheiratet, hat fünf erwachsene Kinder, das jüngste ist seine einzige Tochter. Nur ihr Foto steht auf seinem Schreibtisch. Neben dem Computer, dessen Bildschirmhintergrund ihn selbst zeigt: Theo Sommer lächelt in die Kamera, er sieht glücklich aus, auch wenn er auf seinem Kopf einen Stahlhelm mit Tarnbezug trägt, dazu eine schusssichere Weste der Bundeswehr. "Da war ich vor zwei Jahren in Afghanistan und habe mir dort die Lage angeschaut, bald möchte ich wieder hin, um zu sehen, was sich verändert hat", sagt er. Ein Ende seines Arbeitslebens ist für Sommer nicht in Sicht. Das Rentnerdasein im heimischen Volksdorf reizt ihn nicht. Er zitiert Hamburgs Altbürgermeister Herbert Weichmann: "Fangen Sie nie an aufzuhören, und hören Sie nie auf anzufangen." Vielmehr will er etwas weitergeben. Schon immer hat er sich ehrenamtlich engagiert, ist Mitglied des Kuratoriums der "Zeit"-Stiftung und diente vielen anderen gemeinnützigen Organisationen.
Besonders am Herzen liegt ihm die Bucerius Summer School der "Zeit"-Stiftung. "Ich war 1960 in Henry Kissingers Sommerseminar an der Harvard-Universität und hatte mir immer gewünscht, dass es so etwas auch hier gibt", sagt Sommer. Sein Wunsch ging in Erfüllung. Heute kommen jährlich 60 junge Führungskräfte aus aller Welt in Hamburg zusammen, um über globale Fragen zu diskutieren. "Ich moderiere die Gespräche, genieße den Kontakt mit den jungen Menschen, die in Verantwortung stehen, und lerne unheimlich viel dazu", sagt Sommer.
Vielleicht mag er die Treffen auch deshalb so sehr, weil er sich selbst darin wiedererkennt - der ewig Studierende.
Theo Sommer reicht den roten Faden an Sonja Lahnstein-Kandel weiter. "Ihre Familiengeschichte ist eindrucksvoll", sagt er über die Hamburger Initiatorin von step21 - Initiative für Toleranz und Verantwortung.