Mit ihrer Reformverweigerung zeigen die Briten abermals ihr Desinteresse an Europa
Die Krise verändert vieles in der Europäischen Union, was einst als ehernes Gesetz galt: Ein Europa der zwei Geschwindigkeiten etwa, in dem eine Gruppe von Staaten die Kooperation vertieft und vorangeht, während andere abwarten, wurde stets mit Skepsis betrachtet und meist abgelehnt. De facto existieren seit dem Schengen-Abkommen und der Euro-Einführung bereits unterschiedliche Gruppen in der Gemeinschaft. Beidem, der gemeinsamen Währung und der Abschaffung von Grenzkontrollen, hat sich vor allem Großbritannien bisher verweigert. Mit seinem Ausstieg beim Krisengipfel in Brüssel hat London, das die Vorgänge auf dem Kontinent seit Jahrhunderten mit Argwohn und Abstand beobachtet, seine Desintegration entscheidend vertieft.
Dabei ist die Haltung des europaskeptischen Teils der Insulaner nachvollziehbar: Einmal davon abgesehen, dass der Zerfall des Empire noch heute Phantomschmerzen hervorruft, folgte in den vergangenen Jahrzehnten eine geradezu atemberaubende Deindustrialisierung des Mutterlandes der industriellen Revolution. Das Gesundheitswesen ist legendär miserabel, ja der gesamte öffentliche Sektor ist nach der Privatisierungswelle der Ära Thatcher in beklagenswertem Zustand und bedarf riesiger Investitionen. Den Staat drücken massive Schulden und die Bürger wiederum ein nicht weniger massives Sparprogramm. Die wichtigste verbliebene Einnahmequelle ist der Dienstleistungssektor, davon wiederum besonders derjenige Teil, der sich mit Finanzen beschäftigt. Er erwirtschaftet mittlerweile gut zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Und da soll sich die City of London freiwillig Fesseln anlegen lassen, gar eine Transaktionssteuer akzeptieren, die die Geldhäuser möglicherweise in die USA oder nach Asien vertreiben würde? Never! Umgekehrt war es allerdings für die anderen Europäer schwer zu akzeptieren, dass nach allen Extrawürsten vom Britenrabatt bis zur Nichtratifizierung der Grundrechtecharta erneut für das Inselreich eine Ausnahme gemacht werden würde. Noch dazu für jenen Sektor, der mit seinem teils unseriösen und undurchsichtigen Gebaren für die derzeitigen Krise mindestens ebenso mitverantwortlich ist wie die Schuldensucht vieler Staaten.
Ob die Ergebnisse des Krisengipfels schon die endgültige Rettung des Euro und damit der Union sind, steht auf einem anderen Blatt. Bisher gibt es nur Absichtserklärungen und keine Vertragsänderungen. Die Hebelwirkung beim EFSF ist bisher ausgeblieben. Ob die Schuldenbremse einmal wirklich funktionieren wird und wie Sanktionen gegen Haushaltssünder durchgesetzt werden, ist unklar. Private Geldinstitute sollen nun doch nicht mehr - wie noch im Fall Griechenland - an der Haftung beteiligt werden. Wieder eine Korrektur im laufenden Rettungsverfahren, der wohl noch weitere folgen werden.
Die Union muss diese Fragen nun ohne Großbritannien lösen, das sich wiederum jede Einflussnahme dabei nimmt. Und das im Inneren durchaus nicht monolithisch die Sicht Camerons und der europaskeptischen Fraktion teilt. Es gibt durchaus auch die Ansicht, dass eine leistungsstarke und vielfältig strukturierte Gemeinschaft mehr Zukunftssicherheit bietet als das Geschäftsmodell Liechtenstein-XXL - einer Finanzoase irgendwo zwischen Wallstreet und Tokio.
Unterm Strich hat Britannien nicht Europa, sondern sich selbst gespalten. Und die Drohung Camerons, eventuell die europäischen Institutionen blockieren zu wollen, weil die schließlich allen Mitgliedstaaten - also auch Großbritannien - gehörten, klingt schon fast wie die Bitte um einem Rauswurf. Das geht nach Vertragslage nicht so einfach. Eine Neugründung der Union ohne Unwillige oder Europamüde liegt aber durchaus im Bereich des Möglichen.