Die Geschichte des Boxers kommt als Musical nach Hamburg. Entwickelt wurde es jetzt bei einem Workshop in New York. Das Abendblatt war dabei
Hamburg. Es riecht in der Halle muffig wie auf einem feuchten Dachboden. An der Decke drehen schwarze Ventilatorenblätter ihre Kreise. Eine Faust schlägt auf einen Punchingball, schnell, rhythmisch, dumpf. Die Schlaglaute sind im gesamten Raum zu hören. Der Mann mit den muskulösen Armen im weißen Rippshirt wärmt sich auf. In wenigen Minuten wird der Amateurboxer Rocky seinen schwarzen Hut aufsetzen und durch das Philadelphia der 1970er-Jahre schlaksen. Das Publikum auf der Tribüne ein paar Meter weiter beobachtet ihn genau. Wenn ihnen gefällt, was sie sehen, wird sich Rocky ab kommendem Jahr in Hamburg durchboxen.
In diese unauffällige Backsteinhalle in Brooklyn, New York, sind an diesem Herbsttag lauter Experten gekommen, um sich eine erste Fassung des Musicals "Rocky" anzusehen: Mitarbeiter und Geschäftsführung der Stage Entertainment Deutschland als Auftraggeber, Kollegen aus Holland und Größen der Szene am Broadway. Seit Februar hat ein Ensemble von Musicaldarstellern unter der Regie von Nachwuchstalent Alex Timbers nur für diesen Moment geprobt. Die Szenen werden aus dem Off vorgelesen. Es gibt noch kein Bühnenbild, nur die Darsteller, ihre Stimmen - und die Geschichte eines Außenseiters, der nach dem Unerreichbaren strebt.
+++ Stadtteilreporter: Rocky boxt auf dem Kiez +++
+++ Presserunde: Wie viel Musical verträgt Hamburg? +++
Es geht um den Amateurboxer und Schuldeneintreiber Rocky Balboa, der Schwierigkeiten hat, jeden Monat seine Miete zu berappen, aber überhaupt keine Probleme, das Herz der schüchternen und unscheinbaren Adrian zu erobern, die Verkäuferin in einem Zoogeschäft ist. Aber dann bekommt Rocky das Angebot des Profiboxers Apollo Creed, gegen ihn anzutreten. Eine reine PR-Masche - der große Weltstar gibt dem kleinen Underdog eine Chance (und rechnet sicher mit dem eigenen Sieg).
Schon 1976 war diese Story ein großer Erfolg: Der Film "Rocky" brachte damals den Durchbruch für Sylvester Stallone als Hauptdarsteller und wurde mit drei Oscars ausgezeichnet.
Die Leute von der Stage Entertainment lenken mit fröhlich angeregten Gesprächen und Küsschen links und rechts ein bisschen von ihrer Nervosität ab. Denn die ist da. Sie setzen alles auf die Rocky-Karte. Eine sechsstellige Summe haben sie bereits investiert. Es soll das Musical aus Deutschland werden. Es wir ruhig. Ein kleine Ansprache, Danksagungen, Applaus. Stage-Projektleiter Michael Hildebrandt will gleich mögliche Zweifel entkräften: "Ist das wirklich ein Musical über Boxen? Nein, es ist ein Musical über das Recht eines jeden, glücklich zu werden", sagt er. Das sei ein zeitloses Thema: "Auch heute musst du für deinen Traum kämpfen. Und zwar von ganzem Herzen. Ist es überhaupt möglich, aus der Rocky-Geschichte ein Musical zu machen? Ja, wenn du das richtige Team hast."
Das Team, dazu gehören die Buchautoren und Broadway-Größen Thomas Meehan, 77, ("Hairspray", "Annie") und Ur-Rocky Sylvester Stallone, 65. Die Musik stammt von Stephen Flaherty und die Texte dazu von Lynn Ahrens, die beide in den USA schon für zahlreiche Preise nominiert wurden.
In der Rohfassung heute wird der junge Musicaldarsteller Andy Karl ("Saturday Night Fever", "Wicked") den Rocky spielen. Er ist wie alle anderen Darsteller nur für die Entwicklung des Musicals engagiert worden. Für Deutschland wird es später ein neues Casting geben. Wenn "Rocky" irgendwann auch am Broadway gezeigt wird, haben die Akteure dieses Nachmittags wieder Chancen.
Es geht los - mit einem Boxkampf. Andy Karl boxt gegen einen der Statisten, während die Musical-Musik von einer Band gespielt wird. Die Schläge sind auf die Musik abgestimmt, jeder Beckenklang ist ein Treffer. Die Gesichter der Boxer verziehen sich zu schmerzerfüllten Grimassen, nur gespielt, denn kurz bevor die Faust das Gesicht trifft, stoppt sie. Der Kampf ist artifiziell und erinnert eher an einen Tanz als an Boxsport. Um Andy Karl und seinen Gegner herum steht ein Publikum, das zugleich Chor ist: "Ain't down yet", "noch nicht am Boden", singt der Chor und kommentiert damit nicht nur das Ringgeschehen, sondern irgendwie auch Rockys Leben, das in dieser Szene am Anfang noch ziemlich perspektivlos aussieht.
Für den Höhepunkt der Geschichte ist in einem Nebenraum extra ein sich drehender Boxring aufgebaut worden. Die roten und blauen Schweinwerferstrahlen, die Nebelschwaden, die langsam auf die Zuschauer zukriechen, und die typischen Ansagen des Ringrichters vermitteln das Gefühl, einen echten Boxkampf mitzuerleben. Nach 22 Gesangseinlagen, einer Liebeserklärung und dem Entscheidungskampf ist die Probeaufführung zu Ende. Klatschen, zufriedene Gesichter.
So soll es auch in Hamburg werden, denn seit Mittwoch steht fest: "Rocky" kommt an die Elbe. Ein Musical, das mit seiner Thematik gerade auch männliches Publikum anlocken soll. "Ich denke schon, dass sich für 'Rocky' mehr Männer interessieren, als das bei vielen anderen Musicals der Fall ist", sagt Stage-Geschäftsführer Johannes Mock-O'Hara. "Der sportliche Aspekt, Rockys Kämpfernatur, sein großartiger Gegner Apollo Creed: Klar, das alles dürfte Männer besonders ansprechen."
Die Geschichte, die Musik und die visuelle Umsetzung sind die Hauptkriterien für den Erfolg eines Musicals. Wie männertauglich sind sie bei "Rocky"? "Es ist eine Geschichte über Liebe, nicht über Boxen", sagt Autor Thomas Meehan, "und sie berührt auch mich immer wieder." Besonders mag er eine Szene, in der sich Rocky und Adrian - gespielt von Tricia Paoluccio - näher kommen; sie waren gerade beim Schlittschuhlaufen, jetzt sind sie in seiner Wohnung, er nimmt ihr Mütze und Brille ab, um sie zu küssen.
Auf der Bühne könne man diese Liebesgeschichte fast noch intensiver rüberbringen als im Film, meint Stage-Geschäftsführer Mock-O'Hara. Mehr Romantik also für die Geschichte vorm harten Boxer. Ob das nun einer männlichen Zielgruppe gefällt, steht dahin. Immerhin sind ja auch viele Männer in "Notting Hill" gegangen.
Und dann singt Rocky ja auch noch - über seine zum Glück noch nicht gebrochene Nase, über den Kampf, bei dem er für Adrian nicht K. o. gehen will, und im Duett mit ihr über das Glück. Passt das zu einem Boxer? "Rocky ist ein harter Kerl, und er ist gleichzeitig ungeheuer sensibel", sagt Mock-O'Hara. "Wie sonst könnte er auf die Idee kommen, sich so beharrlich und zugleich auf seine Art so behutsam um die schüchterne Außenseiterin Adrian zu bemühen?" Deswegen gefalle ihm auch die Szene mit dem Duett am besten: "Das ist kein Kitsch. Das ist einfach nur wahnsinnig ehrlich."
Nach derzeitigen Plänen soll ein Kampfring zentrales Element des Bühnenbilds werden. Außerdem gibt es eine Art Schubladensystem, mit dem die Handlungsorte drinnen und draußen teilweise sogar gleichzeitig dargestellt werden können. Mock-O'Hara will noch nicht zu viel verraten; aber das Bühnenbild soll nicht durch überbordende Ausstattungswut überzeugen, sondern es soll Rockys Bodenständigkeit spiegeln. Die Kampfarena-Stimmung soll durch Musik, Darsteller, Bühnenbild und Choreografie entstehen. Wie genau, das sollen nun der Regisseur und sein Team entwickeln.
Eine besonders große Rolle spielen die Boxszenen. "Das ist eine der größten Herausforderungen", sagt Mock-O'Hara. Denn für den Zuschauer sollen die Kämpfe so packend und so echt wie möglich aussehen. Dafür hat sich das Stage-Team schon jetzt einen Kampf-Spezialisten ins Choreografie-Team geholt. "Und für den letzten Schliff werden sicherlich auch unsere Koroduzenten Wladimir und Vitali Klitschko mitsorgen. Immerhin wollen sie ja Sylvester Stallone nicht enttäuschen." Der Schauspieler ist nicht nur der Ur-Rocky, er arbeitet auch schon lange an einem Musical mit seinem Helden. Und er ist wie die Klitschkos Koproduzent.
"Rocky - Fight from the heart", frei übersetzt "Rocky - Kampf von ganzem Herzen" soll bereits 2012 in Hamburg Uraufführung feiern. Bis dahin müssen noch Darsteller gecastet, die Texte ins Deutsche übersetzt und das gesamte Bühnenbild entwickelt werden. Das Musical soll ins TUI-Operettenhaus am Spielbudenplatz einziehen und dort die Nonnenshow "Sister Act" ablösen. "Rocky passt perfekt auf den Kiez", findet Mock-O'Hara. "Die Geschichte dürften viele Menschen gerade auf St. Pauli gut nachempfinden."
Die Probedarsteller packen ihre Taschen zusammen. Adrian nimmt ihre Mütze ab, Rocky zieht die Boxhandschuhe aus. Jetzt sind sie wieder Tricia und Andy. An "Rocky" erinnern sie erst mal nur die Kapuzen-Shirts, die sie heute zum Abschluss bekommen haben.