Als der Verein am Ende war hat Seeler den Stadionneubau mit hoher Energie vorangetrieben und nächtelang mit Sponsoren verhandelt.
Hamburg. Er wird am Sonnabend gefeiert. Richtig groß gefeiert. In seinem "Wohnzimmer", dem Volkspark. Ab 12 Uhr wird der HSV seine Ikone Uwe Seeler mit einem Empfang zu dessen 75. Geburtstag ehren. Eingeladen in den VIP-Bereich der Imtech-Arena sind rund 350 Ehrengäste, Freunde, Weggefährten. Auf dem Rasen wird dagegen Ruhe herrschen. Denn die Profis des HSV kämpfen an diesem Sonnabend (Anstoß 18.30 Uhr) 400 Kilometer entfernt in Leverkusen um drei kostbare Bundesligapunkte. Erst gut zwei Wochen später, am Sonntag, 20. November (17.30 Uhr), wird im Volkspark im Spiel gegen die TSG 1899 Hoffenheim wieder der Ball rollen.
Und an jenem Sonntag wird in Norderstedt wieder ein seit vielen Jahren erprobtes Ritual stattfinden: Gegen 15.30 Uhr wird Uwes Schwiegersohn Mete, ein stets froh gestimmter Mann türkischer Abstammung, mit einem silbergrauen Auto vorfahren, um "Uns Uwe" abzuholen. Ilka Seeler umarmt ihren Mann und Schwiegersohn zum Abschied und sagt: "Kommt mir nicht ohne Sieg nach Hause. Haut rein."
Die Fahrt führt zunächst nach Stellingen ins Hotel Engel, das für die nächsten Minuten zur Fußball-Fachbörse wird. Seeler fachsimpelt mit ehemaligen Mannschaftsgefährten. Mittendrin Fans aus Ostfriesland, dem Westerwald oder dem Ruhrgebiet. Fotos und Autogramme haben Hochkonjunktur.
Eine Stunde vor Spielbeginn trifft Uwe Seeler dann mit seinem Schwiegersohn im Stadion ein. Eintrittskarten muss er nie vorzeigen. Ehrensache. Auch im gesetzten Alter verpasst das HSV-Mitglied mit der Nummer 1725 kein Heimspiel. Das Bad in der Menge inklusive Schulterklopfen, Autogrammeschreiben, endet 15 Minuten später in der VIP-Loge des Fleischgroßmarktes Delta. Uwe bestellt ein Bier, verdrückt ein Würstchen mit Senf und postiert sich hinter der Glasscheibe, der Trennwand zu den Sitzplätzen. Uwe sieht gut, steht gut. Seine Nervosität vor Spielbeginn wird sichtbar. Der markante Kopf färbt sich langsam rötlich. Er liebt seinen Stammplatz: "Der ist prima. Im Hintergrund habe ich einen Fernseher. Da kann ich mich dann freuen oder ärgern. Mein HSV liefert für meinen Blutdruck zurzeit ja alles."
Er sagt, treu wie eh und je, "mein HSV". So, wie er es immer gesagt hat seit seinem Vereinseintritt am 1. Januar 1946. Die drei Buchstaben sind bei ihm im Herzen eingebrannt wie Brandzeichen bei Rindern der argentinischen Pampa auf dem Fell. Für den HSV ist er gerannt, hat geköpft, gegrätscht, gekämpft, gelitten, geschrien, geschwiegen, gespendet, gesiegt und - auch verloren?
Manche empfinden seine Präsidentschaft vom November 1995 bis zum Juni 1998 als eine persönliche Niederlage. Udo Bandow, bekannter Banker und ehemaliger Aufsichtsratschef, bestreitet dies energisch: "Das war niemals eine Niederlage. Stattdessen hat Uwe neue Strukturen geschaffen. Er hat den Stadionneubau mit hoher Energie vorangetrieben. Er hat mit Frank Pagelsdorf den richtigen Trainer geholt. Nächtelang hat er mit Sponsoren verhandelt. Unser Verein war ja am Ende. Wir hatten kein Geld in der Kasse, keine spielstarke Mannschaft und kein Stadion."
Für Seeler war es selbstverständlich, die Benzinkosten und selbst die Portogebühren aus eigener Tasche zu bezahlen. Seinen Beruf als Sportartikel-Generalvertreter musste er zwangsläufig vernachlässigen. Gewählt wurde er an jenem 27. November 1995 fast einstimmig: 954 von 956 stimmberechtigten Mitgliedern votierten für "Uns Uwe". Ehefrau Ilka hatte ihm Mut gemacht: "Du liebst deinen HSV. Dann musst du dieser Liebe auch all deine Kraft geben." Diese Kraft sollte er in der Tat brauchen. Rückblickend sagt er über seine Präsidentschaft: "Plötzlich war ich als Funktionär von der Meinung anderer Menschen abhängig. Zu meiner aktiven Zeit konnte ich die Resultate meiner Leistungen selbst beeinflussen. Jetzt aber war ich nicht mehr selbstständig."
Seine drei Mitstreiter im Vorstand waren der Kaufmann Jürgen Engel (Finanzen), der frühere Senator Volker Lange (Marketing) und der ehemalige HSV-Profi Harry Bähre (Vizepräsident und sportlicher Leiter). Für den ehemaligen Bürgermeister Henning Voscherau steht fest: "Es fehlte in dieser Konstellation ein Experte wie etwa Uli Hoeneß beim FC Bayern München. Dann hätte ein Uwe Seeler als Symbolfigur über allem schweben können. Für das knallharte Profigeschäft selbst ist so ein Gutmensch wie der Uwe nicht geeignet."
Als größter Fehler entpuppte sich der Kauf von Ostimmobilien, um Steuersparmodelle für die Profis anzubieten. Das Modell sollte Schatzmeister Engel am Ende zum Rücktritt zwingen. Wegen Untreue im Zusammenhang mit Provisionszahlungen wurde er 1998 zu einem Jahr Haft auf Bewährung verurteilt. Die Atmosphäre im Verein und im Umfeld wurde immer giftiger. Gab es Maulwürfe im Aufsichtsrat? Gab es gar Abhörwanzen auf der Geschäftsstelle? Seeler sagt rückblickend: "Es kehrte nie Ruhe ein. Dabei hatte ich doch bei meiner Wahl eingefordert, dass Meinungsverschiedenheiten intern geklärt werden müssen. Doch daran fühlte sich niemand gebunden."
Seeler litt, genauso wie sein Aufsichtsratschef Bandow, wie ein geprügelter Hund. Am 23. März 1998 erklärte er seinen Rücktritt zum Ende der Saison. Aus seinen Abschiedsworten sprach die ganze Bitterkeit: "Ich bin aus Liebe zum Verein Präsident geworden. Ich habe es nicht nötig, mich anfeinden und meinen Namen beschmutzen zu lassen. Sucht euch einen anderen. Ich gehe vom Platz. Basta."
Diese Anspannung ist auch gute 13 Jahre später in der Delta-Loge der Imtech-Arena zu spüren. Jeder Gast spürt, wie Seeler leidet. "Mein HSV" - das kann wehtun in Zeiten, wo der Traditionsverein gegen den Abstieg kämpft. Doch Seeler verkneift sich öffentliche Kritik an seinen Nachfolgern. Er will nicht abrechnen, auch wenn er manche Entscheidung im sportlichen Bereich nicht nachvollziehen kann.
Rund eine Stunde nach Spielschluss haben fast alle Fans den Volkspark verlassen. Auch Uwe geht. Noch ein schnelles Bier, dann zieht er die Schultern hoch und die Logentür auf mit dem Satz: "Männer, wir müssen aufpassen. Unser Dino muss gerettet werden." Auf diese Rettung wird er wohl noch länger warten müssen. Aber sie wäre sein größtes nachträgliches Geburtstagsgeschenk.
Morgen im magazin: Eine Hommage an die Fußball-Legende Uwe Seeler