Der Garten ist ihr gemeinsames Zuhause: Die Bewohner der Schrebergarten-Kolonie wissen, warum viele Leute genau wie sie leben wollen.
Hamburg. Die paar Regentropfen können einem waschechten Schrebergärtner die gute Laune nicht verhageln. Außerdem bieten die von Großvater Eduard anno 1913 gepflanzten Apfelbäume Schutz. So können die "Fünf von der Laube" ihren Klönschnack draußen fortsetzen. Von Paulas Geschnatter mal abgesehen. Aber die Dame ist eine betagte Gelbstirnamazone, sie darf das.
Einer hat Butterkuchen und Kopenhagener mitgebracht. Gastgeber Rainer Scholz holt eine Kanne Kaffee aus seiner 24 Quadratmeter Holzkemenate. Wie er das ohne fließend Wasser und Strom hinkriegt, gleicht einem kleinen Wunder. Das Quintett greift beherzt zu. Alle sind Nachbarn, gefühlt fast "immer schon", und das Verständnis ist exzellent. Vorteilhaft besonders dann, wenn man dicht an dicht auf relativ engem Raum zusammenwohnt.
Da das Schrebergartenleben zumeist an freier Luft gedeiht, Zäune kaum mehr als kniehoch sind und man von einer Behausung zur nächsten mit einem Kirschkern spucken könnte, ist Harmonie vornehmste Bürgerpflicht. Ausnahmen bestätigen die Regel und können den Traum zur Hölle machen.
Heiner Wittenberg, der Besitzer von Papagei Paula, erzählt von den beiden Teichen auf seiner Parzelle, von den wunderschönen Seerosen dort, den Molchen und Fröschen. Edda Engeldinger klagt über den angegriffenen Zustand ihres Apfelbaums der Sorte Purpurroter Cousinot: "Wo soll ich die Hängematte platzieren, wenn er den Geist aufgibt?" Herbert Holz hat ein Rezept gegen Blattläuse gefunden: "Jedes Frühjahr benetze ich die Bäume mit weißem Öl." Und Beate Hufnagel, ihres Zeichens promovierte Pharmazeutin, schwärmt von ihren 30 Taglilienarten im "Ur-Kleingarten" ein paar Meter weiter. Zwischendurch erinnert Rainer Scholz an das herbstliche Apfelfest im Kleingartenverein 202.
Unter fünf Jahren geduldigen Wartens läuft gar nichts
Was ein bisschen technokratisch klingt und die insgesamt 313 Kleingartenvereine mit 35 000 Mitgliedern in Hamburg organisiert, ist in der Praxis ein funktionierendes, selbst verwaltetes Gemeinwesen auf natürlicher Ebene. Die Nummer 202 umfasst sieben Kolonien mit 238 Parzellen und einer durchschnittlichen Größe von 380 Quadratmetern rund um das Krankenhaus Altona. Beate Hufnagel ist der Boss. In der Warteliste sind 160 Adressen verzeichnet. Unter fünf Jahren Geduld läuft gar nichts. Dafür kostet das Vergnügen auch nur 250 bis 300 Euro Pacht im Jahr - Vereinsbeitrag und Versicherungen inklusive.
Bis zur Bernadottestraße und zur A 7 ist es nicht weit; dennoch herrscht traumhafte Stille. Während die anderen über Nacktschnecken, die neu installierten Fledermauskästen, das Insektenhotel, winterfeste Gärten und andere, durch den geplanten Bau des Autobahndeckels gefährdete Kolonien sprechen, bittet Scholz zum Rundgang durch sein Revier. Es ist Idylle pur, und das inmitten der Großstadt. Schmale Fußwege führen durch ein Labyrinth. Es existieren auch Gartenzwerge, Rehkitze und Feen, aber nur am Rande. In etwa jeder vierten Parzelle steht ein Flaggenmast. Aktuell, wen wundert's, ist der FC St. Pauli angesagter als die bolzenden Kollegen vom Volkspark.
Das Gros der Gärten ist in natürlich schönem Zustand. Gerade weil nicht alles hundertprozentig akkurat ist, wirkt die Kolonie Mühlenweg so reizvoll. Eine etwas größere Laube dient für Gemeinschaftstreffs. Herzliche Grüße ("Moin Moin!") begleiten den Rundgang. Keine Frage, hier wird Nachbarschaft groß geschrieben. Was ebenso für die Bewohner des Altenheims "Fallen Anker" nebenan gilt: Die betagten, oftmals dementen Senioren nutzen das öffentliche Grün des Kleingartenparadieses zu kleinen Spaziergängen oder Ausfahrten mit dem Rollstuhl.
Am Holztisch in Scholz' Parzelle wird weiter inbrünstig Klönschnack gehalten. Mithin Zeit für den Hausherrn, sein kleines Reich zu präsentieren. "Wir leben hier in dritter Generation", sagt Rainer Scholz. Was sein Großvater Eduard Lich 1913 begründete und die Eltern bis 1979 fortführten, übernahm er anschließend mit seiner Ehefrau Beate.
Nur noch etwa 1000 Bürger haben ein lebenslanges Wohnrecht
Und die Kinder Felix und Eva, mittlerweile fast erwachsen, wuchsen im grünen Umfeld Seite an Seite mit vielen Gleichaltrigen auf. Wobei damals wie heute das Prinzip gilt: Gelegentliches Übernachten auf der Parzelle ist gestattet, viel mehr nicht. Jeder hat parallel eine eigene Wohnung - meist ebenfalls in Altona. In ganz Hamburg verfügen noch etwa 1000 Bürger über ein in der Nachkriegszeit ausnahmsweise erteiltes, lebenslanges Wohnrecht.
Scholz' Parzelle ist ein Traum. Wasser wird in Regentonnen aufgefangen, die Tomatenzucht gedeiht, ein Klo funktioniert biologisch. Boskop, Goldpermäne und andere Apfelsorten hängen üppig an den uralten knorrigen Bäumen. Jetzt ist wieder Zeit, 200 Liter Saft zu pressen, Apfelmus einzuwecken und Marmelade zu kochen. Daneben sind je ein Kirsch- und Pflaumenbaum zu sehen. In den Rabatten gedeihen Flachs, Dahlien, Rittersporn, Farne und Rosen. Spatzen sind hier zu Hause, ebenfalls Meisen, Buchfinken, Rotkehlchen, Kaninchen, Eichhörnchen und Igel. Auch diese tierische Nachbarschaft wird gepflegt. "Natürlich sind sich auch bei uns nicht immer alle grün", sagt Scholz, "aber im Großen und Ganzen hegen wir ein ausgezeichnetes Verhältnis." Zweimal jährlich, nächstes Mal im November, werden alle zum Koloniedienst gebeten: Klarschiff machen. "Abschrebern" heißt das intern. Wer nicht mitmachen kann oder will, muss einen finanziellen Ausgleich leisten.
Von Scholz' Parzelle führt ein Durchgang direkt zu Nachbarin Beate Hufnagel. Viele hier haben solche persönlichen Verbindungswege. Regelmäßige Kaffeerunden im kleinen Kreis gehören dazu. Wie auch heute vor Laube 342 der Kolonie Mühlenweg. Es gibt viel zu beschnacken. "Ruhe da!", gurrt Gelbstirnamazone Paula. Ein paar Krumen Butterkuchen besänftigen die alte Dame wieder. Der nachbarschaftliche Klönschnack darf weitergehen.