In Wohldorf-Ohlstedt gibt es eine Straße, in der jeder jeden kennt, und wenn es darauf ankommt, packen alle mit an.
Hamburg. Einen Politiker als Nachbarn zu haben, kann den einen oder anderen Vorteil bringen. Mancher Volksvertreter sorgt dafür, dass die eigene Wohnstraße von Schnee und Eis geräumt wird (wie einst ein Bürgerschaftspräsident in Groß Borstel, der danach aber zurücktreten musste). Andere können sogar darauf Einfluss nehmen, dass ein Weg den von ihnen gewünschten Verlauf nimmt.
In der Straße Reye in Wohldorf-Ohlstedt kennt jeder Anwohner die Geschichte von Senator Oscar Toepfer, der im vergangenen Jahrhundert eigennützig dafür sorgte, dass der Alsterwanderweg eine kleine Schleife macht und Wanderer und Radfahrer den Weg am Wasser ein kurzes Stück verlassen müssen. Denn so behielten die Grundstücke den direkten Alsterzugang.
Idyllisch ist es hier. Die Bäume sind hoch gewachsen, die Hecken auch. Und doch kennt in dieser Sackgasse in der Großstadt jeder jeden. Anonym lebt man dort trotz hoher Hecken nicht. Die Nachbarn gießen in Urlaubszeiten gegenseitig die Blumen, nehmen die Post raus und achten aufeinander. Wer Silvester zu Hause feiert, trifft sich in der Kehre. "Jeder lebt für sich, aber wenn es darauf ankommt, helfen alle zusammen", sagt Jan-Till Manzius. Der selbstständige IT-Unternehmer lebt mit seiner Frau Heike und den beiden Kindern Florentine, 6, und Leonard, 8, seit sechs Jahren in der Straße. Für Autos ist am Wendehammer Schluss, Radfahrer und Wanderer gelangen über einen Pfad zurück zum Alsterwanderweg, der hier auch Teil des Pilgerwegs Via Baltica ist.
Als Familie Manzius einzog, machte sie die Runde durch die Nachbarschaft und stellte sich überall vor. Und das Paar steckte ein Familienfoto in die Briefkästen. So konnten sich alle, auch die, die nicht zu Hause waren, ein Bild machen von den neu Zugezogenen.
Helga Rieck lebt schon seit 1943 in der Reye und ist damit sozusagen das Urgestein der Nachbarschaft. Die Eltern der 74-Jährigen hatten das Grundstück 1942 gekauft und zuerst ein Behelfshaus gebaut. Helga Riecks Ehemann Walter, 76, ein pensionierter Maurermeister, errichtete in den 60er-Jahren das Rotklinkerhaus, in dem auch heute noch drei Generationen wohnen. Sohn Thorsten mit Ehefrau Angela und die drei Kinder leben mit im Haus. Er habe auch als Jugendlicher nie den Wunsch gehabt, im Zentrum zu leben, sagt der 42-Jährige.
Meike Manzius und ihr Mann wohnen nur zur Miete, würden gern kaufen. "Für die Kinder ist das hier ein Paradies", sagt die Kauffrau. "Die können spielen, rollern und auf der Straße inlineskaten." Und manche Nachbarskinder sind alt genug zum Babysitten.
Die Kinder von Minola und Henry Rismont sind längst ausgezogen. Rismont, der bei einer Mineralölfirma tätig war, hatte sich nach der Besichtigung vor zwölf Jahren innerhalb von zwölf Stunden für den Kauf entschieden. "Wir haben es umgebaut und sind im November 1998 eingezogen", erzählt der 65-Jährige. Weit dehnt sich der Garten bis zur Alster aus. Manchmal erstreckt sich die Alster aber auch in den Garten. "Bis hierhin", sagt Rismont und deutet etwa zur Mitte des Gartens, "stand das Wasser im Winter schon." Ein Teil des Gartens sei Überflutungsgebiet.
Für seinen Nachbarn, den Architekten Klaus Staratzke, war der direkte Alsteranschluss die Voraussetzung dafür, dass er und seine Frau Lore das Haus vor 30 Jahren gekauft haben. "Das Haus war völlig vergurkt, aber es lag am Wasser und dazu noch in einer Sackgasse." Er hat das Gebäude aus dem Jahr 1924 so akribisch restauriert, "dass es jetzt unter Denkmalschutz steht". Das schönste Grundstück in der Reye sei aber das, wo früher Cornelia Funke gewohnt hat, sagt der Architekt. Bis zu ihrem Umzug nach Amerika vor sechs Jahren wohnte die Kinderbuchautorin dort mit ihrer Familie. "Damals war sie noch nicht ganz so berühmt wie jetzt", sagt Annette Franz, eine der Nachbarinnen. "Sie war sehr bescheiden. Und sie war sehr offen, wie du und ich." Ihren Mann Rolf habe sie immer "Kater" genannt. Der sei immer so stolz auf seine Frau gewesen: "Er sagte immer, meine Frau ist besser als die Rowling (die Autorin von Harry Potter, die Red.) ", erinnert sich Lore Staratzke an Funkes Mann, der 2006 an Krebs gestorben ist.
Natalie Rieck hat ebenfalls sehr persönliche Erinnerungen an die früheren Nachbarn. Die 21-Jährige ist mit Funkes Tochter Anna befreundet. Von diesen Mädchen ließ sich Cornelia Funke beim Schreiben ihrer Reihe "Die wilden Hühner" inspirieren. "Einmal im Jahr hat sie selbst in der Schule ihre Bücher verkauft", erinnert sich Thorsten Rieck. Auch dann noch, als sie eine weltweit gefeierte Bestsellerautorin war.
Als sie nach Amerika ging, zog Kirsten Gaida mit ihrer Familie ein. Sie hatte durch Zufall im Reitstall, in dem Cornelia Funkes Pferd untergebracht war, davon erfahren, dass das Haus zu vermieten sei. Ein Paradies vor allem für ihre Tochter Greta, 7. Das jüngste der vier Kinder ist ständiger Gast im Haus von Familie Manzius. "Das ist ihre zweite Heimat", sagt Heike Manzius. "Sie streiten sich sogar wie Geschwister."
Ähnlich beschaulich wie ihr großer Garten, in dem sogar ein Mammutbaum steht, ist der von Kirsten Gaida. Die 44-Jährige, die als Sozialarbeiterin in einer Kita arbeitet, hat direkt an den Wasserlauf zwei weiße Holzstühle gestellt. Hier sitzt sie gern, wenn sie entspannen will und die Witterung es zulässt.
Mit ungebetenem Besuch muss sie anders als die früheren Bewohner nicht mehr rechnen. Weil viele Wanderer und Radfahrer vom ungewöhnlichen Verlauf des Alsterwanderwegs verwirrt waren, landeten sie im großen Garten, wo damals noch Familie Funke wohnte. "Bei schönem Wetter lagerten manchmal 50, 60 Leute auf dem Rasen, wenn sie nach Hause kam", erinnert sich Thorsten Rieck. "Cornelia hatte Schilder aufgestellt, aber das nützte alles nichts." Irgendwann habe sie dann einen Zaun aufstellen lassen. Jetzt überflutet nur noch die Alster manchmal die Wiese. Die lässt sich weder durch Zäune noch durch Politiker aufhalten.