Angriff mit Harke, Ruhestörung oder Streit um eine Feuertreppe - vor Gericht treffen sich Nachbarn wieder, die sich besser nie begegnet wären.
Hamburg. Herr T. und Herr J. haben sich nicht mehr viel zu sagen. Ihre Namen müssen geheim bleiben, es brennt unter den Nachbarn, da wollen sie nicht noch öffentlich Öl ins Feuer gießen. Herr J. will von Herrn T. eine Unterschrift, damit er endlich mit dem Ausbau seiner Dachgeschosswohnungen beginnen kann. Herr T. aber will nicht unterschreiben. Würde er es tun, so seine Sorge, wäre es um seinen schönen Vorgarten geschehen. So wie der eine vergeblich drängte, so zäh sperrte sich der andere. Nachgeben wollte keiner. Und so sind die Männer, die längst einträchtig unter einem Dach leben sollten, seit drei Jahren Kläger und Beklagter. Die Akte ist auf 450 Seiten gewachsen, nach vier Verhandlungsterminen und zwei Ortsbesichtigungen ist der zuständige Amtsrichter Andreas Schertzinger fest entschlossen, die Sache im September zu Ende zu bringen - die Zeit des Verhandelns, daran lässt er keinen Zweifel, ist vorbei.
Es geht um eine Jugendstilvilla in Eppendorf, Herr T. besitzt dort eine Eigentumswohnung im Erdgeschoss plus Sondernutzungsrecht für einen winzigen Garten zur Straßenseite. Herr J. plante in dem vor vier Jahren erworbenen Dachgeschoss zwei Wohnungen, dazu eine Wendeltreppe an der Gebäuderückseite als Rettungsweg. Gegen die Treppe stemmte sich jedoch die Hausgemeinschaft, also wollte Herr J. den Rettungsweg an der Gebäudevorderseite vorbei und quer durch den Vorgarten von Herrn T. legen lassen. Das passte Herrn T. nicht. Er berief sich auf eine Teilungserklärung, wonach keine baulichen Veränderungen zulässig sind, die den Charakter des Hauses dauerhaft verändern. So fing es an. Jetzt sitzt er am letzten Prozesstag im Gerichtssaal, Raum 049, Ziviljustizgebäude, eine Anwältin vertritt die Gegenseite. Er hat mehr als 10 000 Euro in diesen Rechtsstreit gesteckt, bei Herrn J. dürften es noch mehr sein. "Ich hoffe, dass ich das erste und letzte Mal in so etwas verwickelt bin", sagt Herr T. Dabei ist schon jetzt so gut wie sicher, dass die unterlegene Partei in Berufung gehen wird.
Es ist einer dieser hochstreitigen Fälle, die sich nicht durch Rücknahme der Klage oder einen Vergleich erledigen lassen. Wie viele Nachbarschaftsstreitigkeiten in Hamburg anhängig sind, ist nicht ermittelbar, deutschlandweit sind es rund 300 000 Prozesse jährlich. In Hamburg wird jede begründete Klage verhandelt. Eine Schiedsstelle, wie sie etwa in Hessen zwingend vor einer gerichtlichen Auseinandersetzung konsultiert werden muss, gibt es in Hamburg nicht. Allein auf Schertzingers Schreibtisch landen im Jahr rund 300 ziemlich vertrackte Fälle nach dem Wohnungseigentümergesetz (WEG), dazu rund 600 zivilrechtliche Sachen, von denen ein guter Teil in die Kategorie Nachbarschaftsstreit unter Mietern fällt. Die meisten WEG-Sachen sind wenig spektakulär. Wohngeld-Zank, Zoff um Sanierungskosten und bauliche Veränderungen. Juristisches Schwarzbrot. Nur wenige Protagonisten erinnern an jene Typen, wie man sie aus ramschigen Fernseh-Formaten kennt: tobsüchtige Nervensägen mit Zwerg im Vorgarten. Querulanten, wie sie wohl Friedrich Schiller vorschwebten, als er dichtete: "Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt."
In einem Fall, der bei Schertzinger gelandet war, sollte ein Gutachter die Statik eines Reihenhauses überprüfen. Er musste flüchten, als die beiden Streithähne mit den Fäusten aufeinander losgingen. Es geht aber noch ärger: So verhandelte das Amtsgericht Bergedorf gegen zwei Laubenpieper, ein Ehepaar, das einen missliebigen Parzellen-Nachbarn mit einer Harke grün und blau schlug. Angeblich, so erzählten es die Angeklagten, habe ihr Nachbar sie ständig provoziert. Mal verbal, mal indem er ihr Grundstück als Toilette missbrauchte. Salomonisch wollte der Richter den Krieg unter den Kleingärtnern mit einer Schlichtung beim Täter-Opfer-Ausgleich beenden - leider vergeblich. Ein halbes Jahr später sahen sich die Parteien dann erneut vorm Strafrichter wieder.
Auf Schertzingers Richterpult liegen stapelweise beschriftete Kladden, ein Diktiergerät, an den Wänden hängen Bilder expressionistischer Künstler. Manchmal ist es mit den Nachbarn wie mit diesen Künstlern: Man weiß nicht so recht, was sie umtreibt, auf was sie hinauswollen. Jede Streitpartei hat, wenn die Dinge nicht klar liegen, ihre eigenen Realitäten, Maßstäbe, Toleranzschwellen. Der Zaun, der einen Millimeter zu weit auf des Nachbarn Grundstück steht, die zu hohe Hecke, der schrill angestrichene Pavillon, der legendäre Knallerbsenstrauch, der den Maschendrahtzaun beschädigte. Die Verbissenheit, mit der Nachbarn um scheinbare Nichtigkeiten ringen, ruft bei Außenstehenden häufig Spott hervor. Bis sie möglicherweise selbst unfreiwillig verstrickt sind in das Leben der anderen. Häufig geht es ums Rechthaben, Rechtbehalten, Rechtbekommen.
Vier Nachbar-Typen kennt die Psychologie: den Choleriker, der lospoltert, aber nicht nachtragend ist. Den Melancholiker, der Probleme lange in sich hineinfrisst, dann aber explodiert. Den für alle Reize und Vorwürfe offenen, aber direkten Sanguiniker. Und den trägen Phlegmatiker, der seine Ruhe will, Neues kategorisch ablehnt. "Manchmal wundert man sich schon", sagt Schertzinger. "Es scheint kaum einen Streit zu geben, der nicht vor Gericht geführt werden könnte." Mit so einem Streit ist aktuell seine Kammer befasst. Es geht um einen geliebten Grenzbaum, mit der Säge oder der Axt gemeuchelt vom Mann nebenan. Sieben Meter hoch, angeblich. Der vermeintliche Baumfrevler behauptet treuherzig, der Baum sei eigentlich eine Hecke, die er geschnitten habe. Und deshalb müssen jetzt Zeugen gehört werden, die sagen sollen, ob der Baum ein Baum oder eine Hecke war. Ein Verfahren, das Nerven, Zeit und Geld kostet.
In einem anderen Fall fühlte sich ein Wohnungseigentümer aus dem dritten Stockwerk gegenüber seinem im Erdgeschoss lebenden Nachbarn benachteiligt, weil der vor seinem Wohnzimmerfenster eine Markise angebracht hatte und damit die an seine Wohnung grenzende, der Hausgemeinschaft zur Verfügung stehende Terrasse etwa bei Nieselregen oder Sonnenschein intensiver nutzen konnte. Das Landgericht gab dem Kläger recht. Hier der Mann, der mit seinen Nachbarn aneinandergeraten ist, weil er auf der Außenseite seiner Kellertür ein Schwulen-Poster angebracht hat; dort die Frau, die gerichtlich durchsetzen lassen will, dass auf den Wohnungseigentümerversammlungen Kaffee und Cola umsonst zu haben sind. Ein besonders eifriges Klägerehepaar notierte penibel jedes Geräusch im Haus - und zählte nach einigen Wochen 120 Lärmstörungen inklusive Türklappern und des Rauschens der Klospülung.
So weit muss es nicht kommen, selbst wenn die Fronten verhärtet sind. Um den Streit außergerichtlich aus der Welt zu schaffen, können sich die Parteien gegen geringes Entgelt in Hamburg an die Öffentliche Rechtsauskunft wenden. Ist der Fall schon vor Gericht, empfiehlt sich unter Umständen eine gerichtliche Mediation. Im Konfliktfall vermitteln kommunikationstechnisch geschulte Richter, die aber nichts entscheiden, sondern die Kombattanten im vertraulichen Gespräch bei der Lösung ihrer Probleme unterstützen. Am runden Tisch sollen die Parteien lernen, miteinander zu reden. In 80 von 132 Fällen endete die Mediation 2010 erfolgreich mit Vergleich, 39 gingen wieder an den Streitrichter zurück.